Traum von einer herrschaftsfreien Gesellschaft

30.05.2007
Neben dem Peace-Zeichen gehört das A in einem Kreis zu den bekanntesten Politsymbolen weltweit: A wie Anarchie. Horst Stowasser ist seit Ende der 60er Jahre Anarchist. Von ihm ist jetzt ein umfangreiches Buch erschienen: "Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven". Ein Buch, das mit dem Satz beginnt: "Am Anfang war der Zorn."
Punks mit Irokesenschnitt, Hausbesetzer, Schwarzer Block, vermummte Demonstranten, die Steine werfen - das sind Assoziationen, die das Wort Anarchie gewöhnlich hervorruft. Chaos. Die verkürzte Wahrnehmung einer großen Idee, so der Autor Horst Stowasser. Libertäre Gedanken seien in der Geschichte vielmehr in ganz unterschiedlichen Ausprägungen aufgetreten.

"Die Spezies der blutrünstigen Bombenwerfer allerdings, die das Anarchismusbild so nachhaltig geprägt hat und die Phantasie der Bürger so angenehm-gruselig beflügelt, ist … seit langem ausgestorben."

Gewaltanwendung stehe, so argumentiert Stowasser an vielen Stellen seines Buches, eigentlich im Widerspruch zur reinen Lehre, auch wenn der Zorn der Unterdrückten ein wichtiger Impuls in der Geschichte der Anarchie war.

"Anarchisten streben eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen."

Der Staat, wie wir ihn heute haben, wird überflüssig, kleine gesellschaftliche Einheiten, die untereinander vernetzt sind, treten an seine Stelle.

"Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft."

Das ist eine der zentralen Thesen des überzeugten Anarchisten Stowasser. 1971 gründete er das Dokumentationszentrum "AnArchiv". Und seit dieser Zeit schreibt er auch schon über Anarchie. Zuletzt erschien Mitte der 90er Jahre "Freiheit pur", das schnell vergriffen war. "Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven" ist nun die komplett überarbeitete, um rund 100 Seiten erweiterte und aktualisierte Neufassung. Horst Stowasser hat sich viel vorgenommen: Er versucht zum einen, Anarchie als Theorie einer besseren Gesellschaftsordnung zu begründen. Das ist Kapitalismuskritik. Aber auch Kritik an Marx und seinen dogmatischen Jüngern, die in den Anarchisten schon im 19. Jahrhundert lästige ideologische Konkurrenten sahen, die es zu bekämpfen galt, auch mit Gewalt, zum Beispiel in Russland nach dem Sturz des Zarenregimes. Und Stowasser forscht nach den Ursprüngen der anarchistischen Gedankenwelt, geht zurück bis 7000 vor Christus, findet in der Türkei eine – für seine Begriffe - fast schon idealtypische Stadt, eine "matriarchale Frühkultur", eine "besonders repressions- und angstfreie Gesellschaft".

"Der an-archische Faden, den wir verfolgen, wird stetig dicker und nimmt in der Geistesgeschichte immer klarere Gestalt an: zunächst aufklärerisch, dann liberal, dann libertär und schließlich anarchistisch, mit jeweils fließenden Grenzen."

Den Weg in die Praxis fanden die obrigkeitskritischen Ideen erst mit Michail Bakunin, einer zentralen Leitfigur bis heute:

"Die Anarchisten vor Bakunin waren grosso modo allesamt Schreibtischrevolutionäre. Mit Bakunin geht der Anarchismus auf die Straße. Er klettert auf Barrikaden und hält Einzug in Fabriken. Als Bakunin 1876 stirbt, hinterlässt er eine organisierte anarchistische Arbeiterbewegung mit regen Sektionen in mehreren Ländern, die die Verbesserung ihrer sozialen Lage mit einer allumfassenden freiheitlichen Vision verknüpft."

Stowasser hat eine faktenreiche und unterhaltsame Geschichte der Anarchie geschrieben, mit vielen Details und umfangreichen Literaturhinweisen. Das tragische der Geschichte ist, - aus seiner Perspektive - dass die Umsetzung anarchistischer Experimente in der Realität meist nur von kurzer Dauer war. Oft, weil sie dem Druck von außen nicht standhalten konnten, wie zum Beispiel in Spanien in den 30er Jahren. So konnte die Anarchie ihre Tauglichkeit als Gesellschaftsordnung eigentlich noch gar nicht richtig unter Beweis stellen – außer in kleineren Alternativprojekten, zum Beispiel in selbst verwalteten Betrieben.
Erst in den studentenbewegten 60er Jahren sollten libertäre Gedanken eine Renaissance erfahren. Aus dieser Zeit stammt auch das A in einem Kreis, heute eines der bekanntesten Politsymbole der Welt.

Horst Stowassers Analyse ist erstaunlich selbstkritisch für einen Mann, der aus der anarchistischen Bewegung stammt, die sich, so sein Vorwurf, oft zu sehr selbst genügt:

"Aus dieser Perspektive stellt sich der deutsche Mainstream-Anarchismus unserer Tage in der Tat als skurrile Glaubensgemeinschaft dar. Er ist in seinem eigenen sozialen Ghetto verfangen, an dessen Grenzbefestigungen vielerorts munter und ungebrochen weitergemauert wird."

Stowasser glaubt weiter an die herrschaftsfreie Gesellschaft. Er propagiert den Aufbau einer anarchistischen Parallelwelt innerhalb der bestehenden Gesellschaft, als "konstruktiv-subversive Alternative." Damit Strukturen vorhanden sind, falls der real existierende Kapitalismus einmal implodiert, so wie der real existierende Sozialismus vor rund 20 Jahren.

Rezensiert von Georg Gruber

Horst Stowasser "Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven"
Edition Nautilus, Hamburg 2007
512 Seiten, über 200 Fotos, 24,90 Euro