Trauerspiel mit Erregungsniveau

Von Eberhard Spreng · 20.02.2008
Hat Papst Pius XII. mit seinem Schweigen zur Judenverfolgung indirekt den Holocaust geduldet? Die bis heute noch nicht abschließend geklärte Politik der katholischen Kurie steht im Mittelpunkt des Stücks "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth. Es löste in den 60er Jahren die bis dahin größte Theaterdebatte der jungen Bundesrepublik aus.
"Berlin. Im Theater am Kurfürstendamm hat heute das Erstlingswerk eines jungen Autors Premiere, dessen gewagter Inhalt schon vor der Uraufführung zu Diskussionen führte."

Schon Wochen bevor Erwin Piscators Inszenierung des Stücks "Der Stellvertreter" am 20. Februar 1963 auf die Bühne des Theaters am Kurfürstendamm kam, hatten die Katholiken - und mit ihnen das Berliner "Petrusblatt" - gegen die geplante Uraufführung protestiert. Der damals 31-jährige Verlagslektor Rolf Hochhuth hatte mehrere Jahre, unter anderem auch im Vatikan, für ein Stück recherchiert, in dem der Papst als ein Mann dargestellt wird, der die Deportation und Ausrottung der europäischen Juden kommentarlos hinnahm, weil ihm am Konkordat mit Hitlerdeutschland gelegen war.

"Ich habe damals, glaube ich, als erster gefragt, wieso hat eigentlich der Stellvertreter Christi auf Erden, der er ja nach seinem Selbstverständnis ist, dazu geschwiegen, dass Holocaust gemacht wurde. Und das war damals in der Ära Adenauer keine so selbstverständliche Frage."

Im Gegenteil: Hochhuth hatte mit seinem "christlichen Trauerspiel" einen dumpfen Konsens von Klerus und ehemaligen Nazis empfindlich gestört und das Schweigen über die jüngste deutsche Geschichte gebrochen. Jahrelang hatte Hochhuth sein Stück erfolglos den Verlagen angeboten, bevor es dem aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrten Altmeister des politischen Theaters, Erwin Piscator, in die Hände fiel.

"Auf der Suche nach einem Spielplan, den ich hier in der Volksbühne verwirklichen wollte, kam ich darauf, dass mir Ledig–Rowohlt plötzlich ein Stück schickte, von dem er sich sehr im Ungewissen war, ob man es annehmen sollte, ob das überhaupt gespielt werden könne, und als ich es las, telegrafierte ich zurück: Das Stück spiele ich, auch wenn es mich meinen Kopf als Intendant kostet."

In der Berliner Uraufführung am damaligen Volksbühnentheater am Kurfürstendamm spielten unter anderem Günther Tabor den junger Priester Fontana und Malte Jaeger dessen Vater, einen maßgeblichen Berater von Pius XII.

" - "Vater, ihr wisst seit Monaten: Die Juden ganz Europas werden nach dem
Adressbuch ausgerottet. Ich gab mein Wort, dass der Papst protestieren wird.""
" - "Ricardo, was hast du dir da angemaßt?""

Eine der vielen Debatten, die in der Folge der Aufführung stattfanden, veranstaltete drei Wochen später die jüdische Gemeinde zu Berlin. Dabei sagte Erwin Piscator über die von ihm maßgeblich betriebene Renaissance des politischen Theaters und über die Notwendigkeit des Hochhuth-Stücks:

"Es gibt kein Stück, das die Tragik der sieben Millionen Juden auch nur annähernd erfassen könnte. Es gibt noch nichts, was unser Schicksal irgendwie berührt. Wir sind unfähig, wir sind praktisch ohne Hände und ohne Beine und ohne Kopf dem gegenüber, was geschehen ist."

Mit einigen Eingriffen hatte Piscator das etwas geschwätzige Stück zu einer spielbaren Theaterversion gemacht. Die dramatische, theatralische, künstlerische oder literarische Qualität war nicht wirklich Hochhuths Stärke. Hannah Arendt, die sich unter anderem in der "New York Harald Tribune" in die Hochhuth-Debatte eingeschaltet hatte, brachte es in einem Brief vom Oktober 1963 auf den Punkt.

"Das Stück ist nicht gut, aber die Frage, die Hochhuth aufwirft, ist sehr legitim."

Die internationale Karriere des "Stellvertreters" war aufgrund seiner umstrittenen Thesen und trotz seiner dramaturgischen Mängel einmalig. In Paris inszenierte Peter Brook am "Théâtre de l'Athénée" das dort "Le Vicaire" genannte Stück in französischer Erstaufführung.

"Die Hochhuth-Schlacht beginnt nun auch in Paris: Die Polizei hat den Saal erleuchten lassen. Polizisten mit gummiknüppel-verhüllenden Pelerinen stehen in den Zugängen und ein paar Inspektoren in Zivil gehen zwischen die einzelnen Sitze und holen sich einige der aufgeregtesten Zuschauer heraus."

Mit keinem seiner in der Folge entstandenen Stücke erreichte Hochhuth ein dem "Stellvertreter" vergleichbares Erregungsniveau. Dieser hingegen interessierte noch 40 Jahre später den Filmregisseur Constantin Costa-Gavras, der den Stoff im Jahr 2002 verfilmte. Aber auch der Autor Hochhuth hatte in dieser Zeit wieder von sich reden gemacht, als er über die nach seiner Mutter benannte "Ilse-Holzapfel-Stiftung" von jüdischen Erben in den USA die Immobilie des Berliner Ensembles erwarb - ein kulturpolitischer Husarenritt im wiedervereinigten Berlin. Jetzt darf der Autor, der sich gegen die Herrschaft der Regisseure und Intendanten immer für die Rechte der Autoren eingesetzt hat, in die Programmpolitik des Hauses hineinregieren. Er hat durchgesetzt, dass sein "Stellvertreter", den Philip Tiedemann 2001 am Berliner Ensemble recht treulich neu inszeniert hat, einmal im Jahr auf dem Spielplan steht.