Träumen auf Portugiesisch

Von Étienne Roeder · 18.11.2012
Sie sprechen dieselbe Sprache - und sonst? Das Festival "Berlinda" hat Künstler, Musiker und Literaten aus portugiesischsprachigen Ländern wie Brasilien, Angola, Mosambik und Portugal nach Berlin eingeladen, um herauszufinden, was den Ländern heute noch gemein ist.
"Erste Welt? - das soll wohl ein Witz sein" heißt es in der Liedzeile der Angolanerin Aline Frazao, die mit kräftiger Stimme ihr Publikum animiert mit einzustimmen. Begeistert singen die Besucher ihres ersten Konzerts in Deutschland den Slogan mit, der fast so etwas wie das Leitmotiv des Festivals für die Kultur portugiesischsprachiger Länder "Berlinda" war, das Künstler und Musiker sowie Literaten aus Brasilien, Angola, Mosambik und Portugal nach Berlin geladen hatte. Inês Almeida, Organisatorin von "Berlinda" und Herausgeberin des gleichnamigen Online-Magazins erklärt die ursprüngliche Idee eines lusophonen Festivals:

"Lusophon ist ein Wort, das man in den portugiesischsprachigen Ländern benutzt, um alles, was mit der portugiesischen Sprache zu tun hat, zu benennen. So viele Länder und eine gemeinsame Sprache. Gibt es da einen gemeinsamen Nenner? Gibt es da eine Einheit in der Diversität? Es geht nicht darum, wie viele Leute portugiesisch sprechen, sondern was diese Leute mit der Sprache und wegen dieser Sprache vielleicht auch kulturell schaffen."

Der angolanische Roman- und Kinderbuchautor Ondjaki, für den es schwieriger war, in Brasilien ein Visum zu bekommen als für die USA, spricht daher lieber von einer portugiesischsprachigen Gemeinschaft. Lusophonie, das sei doch keine neue Krankheit? fragt er scherzhaft sein Publikum, denn die kreativen wie politischen Kräfteverhältnisse seien heute ganz klar:

"Für mich hat Lusophonie einen politischen Unterton, so als ob Portugal - das Land der Lusitaner - das Zentrum eines Sonnensystems sei, um das die anderen wie Satelliten herumkreisen würden. Mir fällt jedoch auf, dass sich die Sprache in Ländern wie Brasilien, Angola oder Mosambik viel schneller verändert und neue Elemente aufnimmt, als das zum Beispiel in Portugal geschieht. Wenn es also heute einen Planeten gäbe, um den sich alles dreht, dass ist das eindeutig eher Brasilien."

Ondjaki lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Brasilien und schreibt vornehmlich über seine Geburtsstadt Luanda - oft aus der Perspektive eines Kindes im Angola der 80er Jahre, als das Land noch sozialistisch regiert wurde. Über die fiktionale Autobiografie des kleinen Jungen - so der studierte Soziologe Ondjaki - könne der gesellschaftliche Übergang besser in einer Geschichte verwoben werden. Gerade ist sein neuer Roman "Os transparentes" - die Durchsichtigen - in Deutschland erschienen. Der episodenhafte Aneinanderreihung von Alltagsgeschichten folgte bereits sein 2006 produzierter Film "Oxalá crescam pitangas".

"Bei dem Film 'Oxala crescam Pitangas' handelt es sich lediglich um einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben in Luanda. Anhand der Geschichten von zehn verschiedenen Personen wollte ich zeigen, welchen Einfluss die kreativen Köpfe Angolas auf die Realität und die Sprache dieser Realität haben. Die Leute sind ungemein kreativ, jeden Tag werden neue Wörter erfunden, und sie denken sich einen anderen Sinn für bereits bestehende Realitäten aus."

Der Film hat in Angola nicht allen gefallen, auch weil er schonungslos die ärmlichen Teile der schnell wachsenden und vom Öl- und Diamantenboom ins Exorbitante verteuerten Stadt zeigt. Angola gilt heute in der portugiesischsprachigen Welt neben Brasilien als neues El Dorado. Besonders die Portugiesen strömen heute in die ehemalige Kolonie. Die filmische Darstellung eines postkartenuntauglichen Luandas, in dem auch die heruntergekommenen Stadteile gezeigt werden, war für den 22-jährigen Festivalbesucher Tiago aus Lissabon eine Überraschung.

"Das neue Ziel heißt heute Angola. Viele in meinem Umfeld gehen dorthin, weil sie für drei oder vier Jahre Geld verdienen wollen. Das ist ganz klar. Nicht, weil die Leute gerne mal nach Afrika wollen, sondern aus ganz pragmatischen Gründen. Unsere Regierung hat uns jungen Leuten ja selbst nahegelegt auszuwandern, und das stelle man sich mal vor, wir sind schon lange Teil der entwickelten Welt und gehören zur EU und sollen nun nach Afrika auswandern."

Noch ist es so, dass Lissabon für portugiesischsprachige Künstler - vor allem Musiker aus Afrika - das Tor zum französischen und damit europäischen Markt darstellt. Doch in der Literatur- und Verlagsszene Brasiliens, dem Planeten des lusophonen Sonnensystems mit 200 Millionen Lesern, gelten andere Spielregeln. Immense Investitionen in das öffentliche Bibliothekswesen und eine steigende Nachfrage führen dazu, dass immer mehr Autoren aus den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas, deren Bücher früher nie den Ozean überquerten, heute lieber in Brasilien veröffentlichen als in Portugal.

Der ökonomische Boom wirkt sich auch auf die Wahrnehmung der Sprache aus. So gab es 2009 eine orthografische Reform des Portugiesischen, die sich maßgeblich an der brasilianischen Schriftsprache orientierte und bei den puristischen portugiesischen Verlagshäusern für Verstimmung sorgte.

Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato, einer der höchstdotierten brasilianischen Schriftsteller dieser Tage, bemerkte am Rande des "Berlinda"-Festivals:

"Die Beziehung zwischen Brasilien und Portugal ist fast so wie die zwischen Vater und Sohn. Ein Sohn, der sehr groß und stark geworden ist, und ein Vater, der sich davon bedroht fühlt, gleichzeitig aber auch stolz auf den Jungen ist. Ich finde es immer noch wichtig, in Portugal zu publizieren. Es gibt allerdings oft Probleme mit einigen Verlagshäusern, die die brasilianische Version der Werke ins Portugiesische übersetzen, also anpassen wollen, und das akzeptieren ich und viele meiner Kollegen nicht. Daher ist es manchmal leichter, in Frankreich oder Italien zu veröffentlichen."

Für sein Werk "Es waren viele Pferde", das In 69 Streiflichtern ein kaleidoskopisches Bild der Megacity Sao Paulo entwirft und dabei poetisch exakt und synästhetisch eindrucksvoll das verstörende Mosaik einer zerrissenen Stadt zeichnet, erhielt Ruffato den Machado de Assis Preis Brasiliens, ein Ritterschlag für jeden portugiesischsprachigen Autor. In Portugal verkauft sich zeitgenössische brasilianische Literatur wie die von Luiz Ruffato jedoch kaum. Ruffato hat allerdings auch keine Illusionen, was die Stellung der brasilianischen Literatur in der lusophonen Welt betrifft.

"Es ist nicht die zeitgenössische brasilianische Literatur, die gerade interessiert. Was interessiert, ist Brasilien. Und das auch nicht, weil Brasilien so toll wäre, sondern weil Brasilien eine ökonomische Macht ist, das ist ganz klar. Wenn wir unsere internen Probleme nicht in den Griff bekommen und diese Protagonistenrolle abgeben, wird auch die brasilianische Literatur wieder die Bedeutung erlangen, die sie all die Jahre vorher hatte, nämlich fast keine."

Die kulturellen Verbindungen der portugiesischsprachigen Welt - Lusophonie als Krankheit oder als Metapher - sind daher nicht immer nur sprachlicher Art. Sie bestehen jedoch andauernd fort und bilden Projektionsflächen für Träume. Sergió Tréfaut, portugiesischer Dokumentarfilmregisseur mit Wohnsitz in Brasilien, fand einst eine epische Beschreibung der Lusophonie, hier zitiert von Inês Almeida, der Organisatorin des "Berlinda"-Festivals in Berlin, das nach einem Monat gestern Abend zu Ende ging.

"Dieser Satz: Es gibt 200 Millionen Leute, die auf Portugiesisch träumen, gibt uns eben auch diese poetische Dimension, die wir hier mit dem Festival weitergeben können und wollen."