Tradition der Schmähkritik

Luther, Shakespeare, Böhmermann

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und ZDF-Moderator Jan Böhmermann in verschiedenen Aufnahmen nebeneinander.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und ZDF-Moderator Jan Böhmermann. © dpa / Robert Ghement
Florian Werner im Gespräch mit Nana Brink · 14.04.2016
Kunst oder Knast? Zwischen diesen Extremen schwankt die Diskussion zum Fall Böhmermann. Der Schriftsteller Florian Werner sagt: Kunst. Ihm zufolge steht Böhmermann mit seiner Erdogan-Schmähkritik in der Tradition von Shakespeare und Martin Luther.
Hätte sich Böhmermann mit dem Megafon vor die türkische Botschaft gestellt und sein hier nachzulesendes Erdogan-Gedicht vorgetragen, wäre das wohl strafbar gewesen, sagt der Schriftsteller Florian Werner. "Aber in dem Moment, wo es eben erkennbar in einer Satiresendung und auch von ihm 'in character' als Comedian gesprochen und eben auch immer wieder gebrochen und reflektiert wird, ist es natürlich Kunst und als solches auch geschützt."

Vorbild: Grabrede Mark Antons für Julius Cäsar

Böhmermann verwende dabei einen alten rhetorischen Kniff, den man beispielsweise bei Shakespeare in dessen Drama "Julius Cäsar" finde. Darin soll Mark Anton die Grabrede für den ermordeten Cäsar halten, darf dabei aber weder das Testament verlesen noch Cäsar loben.
"Und dann sagt er eben: 'Mitbürger, Freunde, Römer hört mich an! Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen.' Und dann macht er genau das: Er preist Cäsar, er lobt ihn über den grünen Klee."
Dieser rhetorische Kniff sei eine radikale Form der Ironie, so der Schriftsteller. "Und das macht Böhmermann ja auch im Negativen durch dieses Gedicht, das eben immer mit diesem Metakommentar durchsetzt ist."

Obrigkeitskritik geht traditionell über den Unterleib

Auch in der Traditionslinie Martin Luthers ist Böhmermann Werner zufolge zu sehen: So habe Luther 1545 gemeinsam mit Cranach dem Älteren eine Reihe von anti-papistischen Flugblättern herausgegeben. Auf einem dieser Flugblätter sei die Geburt des Papsttums aus einem weiblichen Dämon zu sehen, "der den Papst und alle seine Kardinäle über der Stadt Rom – verzeihen Sie den Ausdruck – wirklich hinausscheißt. Also, durch den Anus kommen die in die Welt."
"Daran sieht man, glaube ich, ganz schön, dass schon vor fast 500 Jahren es gang und gäbe war, dass man extrem unsachlich und eben immer auch bevorzugt über den Unterleib und die unteren Organe die Mächtigen kritisiert hat." Er sei sich sicher, dass sich Böhmermann in gewisser Weise dieser Traditionslinien auch bewusst sei, so Werner.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Selten hat ja ein Gedicht so viel Wirbel produziert – oder sagen wir besser nicht ein Gedicht, sondern eine Schmähkritik, so hat der Satiriker Jan Böhmermann ja seine Beschimpfung auf den türkischen Präsidenten bezeichnet.
Jan Böhmermann: Herr Erdogan, es gibt Fälle, wo man auch in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind, also es gibt Kunstfreiheit, das eine, Satire und Kunst und Spaß, das eine, das ist erlaubt, und auf der anderen Seite, ich glaube, es heißt – wie heißt es?
Kabelka Schmähkritik.
Böhmermann: Schmähkritik!
Brink: Schmähkritik. Der Schriftsteller Florian Werner ist jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Morgen!
Florian Werner: Guten Morgen, Frau Brink!

Freude an der Grenzüberschreitung

Brink: Schmähkritik – können wir das Wort noch mal ein bisschen erklären?
Werner: Es geht offensichtlich um eine Herabminderung des Kritisierten, indem man bestimmte diffamierende, ehrverletzende Äußerungen ihm gegenüber tut. Wobei man sich natürlich gleich fragen kann bei diesem sogenannten Gedicht, was dann Herr Böhmermann vorträgt, ja immer wieder unterbrochen von der eigenen Metakritik zur Schmähkritik – ob das wirklich Schmähungen sind, die überhaupt Herrn Erdogan treffen in irgendeiner Form –, es ist ja keine Kritik in der Sache, sondern es geht offensichtlich um auch eine gewisse Freude an der Grenzüberschreitung, an der Transgression.
Brink: Stellt er sich da in eine Tradition?
Werner: Ich musste sofort eigentlich an zwei große Vorbilder denken. Das eine ist Shakespeare, und das andere ist Martin Luther. Bei Shakespeare – also, das was man macht hier, rhetorisch betrachtet, ist ein ganz, ganz alter Kniff.
Und das berühmteste Beispiel, das mir einfiel aus der Literatur, ist eben aus Shakespeare, dem Drama "Julius Cäsar". Mark Anton soll eine Grabrede halten am Sarg von Cäsar, aber er darf auf gar keinen Fall das Testament verlesen, und auf gar keinen Fall darf er Cäsar loben, denn dann könnten ja Brutus und Cassius, die Verräter dann kommen. Und dann sagt er eben: Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an. Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen. Und dann macht er genau das: Er preist Cäsar, er lobt ihn über den grünen Klee, so lange, bis das Volk eben doch aufgebracht ist.
Mit diesem rhetorischen Kniff, das ist eigentlich eine radikale Form der Ironie, wo man genau das rhetorisch tut, was man nicht zu tun vorgibt. Und das macht Böhmermann ja auch im Negativen durch dieses Gedicht, das eben immer mit diesen Metakommentaren durchsetzt ist. Das wäre eben diese Shakespeare-Folie, dieser rhetorische Kniff, den ich da gesehen habe. Martin Luther –

Obrigkeit und Unterleib

Brink: Das wollen wir jetzt wissen.
Werner: – passend zum Reformationsjahr kommendes Jahr, hat 1545 gemeinsam mit Lucas Cranach dem Älteren, keinem Geringeren, eine Reihe von antipapistischen, antikatholischen Flugblättern herausgegeben. Das berühmteste davon heißt, glaube ich, "Die Geburt des Papsttums". Da ist eben der Papst dargestellt, auch als ein Oberhaupt, ein sowohl politisches als natürlich auch religiöses, und er wird eben geboren, aber von einem Monster, also wirklich einem weiblichen Dämon, der den Papst und alle seine Kardinäle über der Stadt Rom – verzeihen Sie den Ausdruck – wirklich hinausscheißt, also durch den Anus kommen die in die Welt. Daran sieht man, glaube ich, ganz schön, dass schon vor fast 500 Jahren es sozusagen gang und gäbe war, dass man extrem unsachlich und eben immer auch bevorzugt über den Unterleib und die unteren Organe die Mächtigen kritisiert hat.
Brink: Das heißt also, könnte man dann sagen, dass Böhmermann an dieser Kritik auch oder an diesen Beispielen auch textlich anknüpft?
Werner: Das ist natürlich schwer zu sagen, gerade bei dem von mir angeführten Beispiel mit Martin Luther. Das funktioniert wirklich vor allem über das Bild. Natürlich aber auch über diese Schere zwischen doch dem hehren Titel "Geburt des Papsttums" und dann dieser extremen Drastik des Bildes. Ich bin mir sicher, dass Böhmermann sich dieser Traditionslinien auch in gewisser Weise bewusst ist. Sein ganzer Text, der funktioniert ja wirklich auch nur darüber, dass die Bilder, die er verwendet, so drastisch und schlecht und wirklich krude sind.
Und die Rahmung, dieser ganze Metakommentar, der mitgesprochen ist, dann doch eben sehr reflektiert. Er reflektiert ja sogar sein eigenes Strafmaß mit. Bemerkenswerterweise bleibt er aber weit hinter dem, was ihm wirklich drohen könnte. Er sagt, glaube ich, das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass es aus der Mediathek geschmissen wird. Stimmt, passierte, aber das Schlimmste, was ihm natürlich droht, sind fünf Jahre Haft.

Ein Kriterium für Kunst ist die "Rahmung"

Brink: Das, was wir uns ja immer fragen, oder was wir jetzt gerade auch irgendwie ja besprechen so ein bisschen, ist das Schmähkritik, ist es Satire, wo ist da irgendwie die Grenze, und das ist ganz interessant, heute in der neuen Ausgabe der "Zeit", da steht jetzt "Liebe Regierung, mal ganz ruhig bleiben", das ist ein Solidaritätsaufruf für Jan Böhmermann, und da steht irgendwie drin, es ist Aufgabe von Kunst und Satire, gesellschaftliche Grenzen immer wieder neu auszuloten, und wir solidarisieren uns mit Jan Böhmermann und fordern die Staatsanwaltschaft Mainz auf, die Ermittlungen unverzüglich einzustellen. Da haben dann so Leute unterschrieben wie zum Beispiel Yanis Varoufakis, aber auch Helene Hegemann, Claas Heufer-Umlauf oder Jan-Josef Liefers. Ist das wirklich die Frage, ob das Satire ist oder nicht?
Werner: Ja, ich glaube, strenggenommen, der Literaturwissenschaftler würde sagen, es ist ein Pasquill. Pasquill nennt man da dieses satirische Schmähgedicht, das gegen eine Person gerichtet ist. Ich glaube, die entscheidende Frage juristisch ist, ob es sich um Kunst handelt oder nicht. Und das würde ich ganz eindeutig bejahen. Natürlich ist es Kunst. Und das ist eine Frage der Rahmung.
Seit etwa 99 Jahren ist es ja zunehmend schwierig zu sagen, was ist Kunst und was nicht, und ich finde, ein gängiges Kriterium ist immer wirklich die Rahmung. Marcel Duchamps hat 1917 ein Pissoir genommen, ein Urinal, hat das ins Museum gestellt, hat dazu geschrieben "Fountain", also Springbrunnen. Klar, dieses Pissoir, wenn es irgendwo auf der öffentlichen Toilette hängt, ist es keine Kunst. In dem Moment, wo es im Museum ist und Herr Duchamps das zur Kunst erhebt, ist es ein Kunstwerk.
Und so ähnlich würde ich das auch bei Herrn Böhmermann sehen. Klar, wenn er sich vor die türkische Botschaft gestellt hätte und dieses Gedicht mit dem Megaphon herausdeklamiert als persönliche Meinungsäußerung, dann wäre es vermutlich strafbar oder ziemlich sicher strafbar. Aber in dem Moment, wo es eben erkennbar in einer Satiresendung und auch von ihm in Character, als Comedian gesprochen und eben auch immer wieder gebrochen und reflektiert wird, ist es natürlich Kunst uns als solche auch geschützt.

Unappetitliche Ressentiments und Klischees

Brink: Dann betreiben wir jetzt also auch keine Textexegese mehr, oder ist es müßig? Ich möchte Sie nämlich fragen, wie Sie ihn finden.
Werner: Ich finde, das habe ich ja eben schon gesagt, durch dieses Shakespeare-Beispiel, in seiner Form und in seiner rhetorischen Strategie finde ich es genial, und ich glaube, es wird viele Generationen von Juristen und Germanisten noch beschäftigen, was der da genau gemacht hat. Wenn man das Gedicht jetzt isoliert betrachtet, finde ich es natürlich, finde ich es nicht besonders gut. Ich meine, es ist krude gereimt, schöner Paarreim, metrisch sehr holprig.
Was mich wirklich geärgert hat, ist, dass die Bilder, die er teilweise verwendet, eben doch aus der Mottenkiste eigentlich der rassistischen Klischees über Türken, über türkischstämmige Menschen stammen. Es kommt der Döner vor, es kommt das Schwein als natürlich für Muslime unreines Tier vor. Die Ziegen, die eben angeblich sodomiert werden als anatolische Bauerntiere. Und das fand ich dann doch sehr unappetitlich. Aber das ist eine Frage des Taktes und nicht der Politik.
Brink: Vielen Dank, Florian Werner. Und weil Sie von "Rahmungen" gesprochen haben und weil wir natürlich jetzt irgendwie zitiert haben, das hat uns ja alles erreicht, und jeder eine Meinung dazu hat, hilft es ja manchmal auch, den ganzen Text zu kennen, auch mit Rahmung. Und den ganzen Text und das ganze Stück eigentlich aus dieser Sendung von Jan Böhmermann finden Sie jetzt bei uns online mit allen Ab- und Anmoderationen und natürlich mit allen Berichten, die wir auch darüber gemacht haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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