Tourismus und Stadtmarketing

"Schattenorte" der Nazizeit – Stigma oder Standortvorteil?

Eine Besucherin in der NS-Dokumentationsstelle Obersalzberg
Eine Besucherin in der NS-Dokumentationsstelle Obersalzberg © picture-alliance/ dpa - Peter Kneffel
Von Philipp Schnee · 27.07.2016
Lager, Bunker oder Propagandaschauplätze aus der Nazizeit galten lange als "Schattenorte". Heute werden die dunklen Orte der Geschichte offensiv vermarktet. Der Umgang mit NS-Stätten in deutschen Städten verändert sich.
- "Excuse me, is this Hitlers Stadium?"
- "Ja, da gehen wir immer her, wenn mer ein bisschen Sonne brauchen oder nen Ausblick. Dann gehen wir hier her und schauen uns das an."
-"So traurig es ist, wird jeder Ort einer Katastrophe irgendwann zu einem historischen, touristischen Ort."
-"Satire darf alles, Marketing, glaube ich, nicht."
-"Also ich empfinde dabei kein Unbehagen dafür Geld zu verlangen, für touristische Angebote und Führungen."
-"Also wir haben auch fertig touristische Programme, die auch vermarktet werden. Es ist auch wirklich ein Wirtschaftsfaktor. Und ich finde, man darf das auch ganz offen ansprechen."
Kann eine ehemalige Stätte der NS-Propaganda eine Touristenattraktion sein? Oder eine Gedenkstätte für ein Konzentrationslager - eine Sehenswürdigkeit? Ein Touristenmagnet, der in den Broschüren der Städte angepriesen wird? Andererseits: Dürfen Werbebroschüren die Vergangenheit von Orten verschweigen, die als „Schattenorte“ der deutschen Geschichte bezeichnet werden?
Regisseur Robert Thalheim:"Natürlich ist es irgendwie, hat man ein ungutes Gefühl dabei, wenn Leute sich in ne Stehzelle in nem Bunker in Auschwitz stellen und sich da gegenseitig fotografieren. Also wenn der eigentliche Gedenkort dann zu nem rein touristischen Ort wird."
Wendet Regisseur Robert Thalheim ein. "Am Ende kommen Touristen“ heißt sein Kinofilm über die polnische Stadt Auschwitz und ihr deutsches Konzentrationslager. Als Zivildienstleistender in Auschwitz hatte Thalheim in den 1990er Jahren selbst die Erfahrung gemacht, was es heißt, wenn Besucher an solch einen Ort strömen: "Das ist halt immer so nen Widerspruch. Auf der anderen Seite will man ja auch, dass Leute dort hinfahren. Und dann muss man denen auch immer was Spektakuläres bieten. Ich finde, der Stacheldrahtzaun von Auschwitz ist immer ein super Symbol dafür, weil es natürlich total eindrücklich ist, wenn man über das Lagergelände geht und diesen Stacheldrahtzaun sieht, der für dieses Eingeschlossensein steht. Und auf der anderen Seite muss man halt wissen, Stacheldraht rostet nach vier Jahren und alle vier Jahre stellen sich Leute da hin und hängen einen neuen auf. Das ist ein Dilemma."
Ein Dilemma. In Auschwitz, der Stadt, deren Name zum Inbegriff für das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen geworden ist. Das Lager und der Tourismus. In dem Dilemma stecken auch deutsche Städte. Stigma oder Standortfaktor: Wie sollen Städte mit dunklen Orten ihrer Geschichte, mit Orten von Gewalt und Verbrechen umgehen? Mit Lagern oder Propagandaschauplätzen der Diktaturen, mit politischen Gefängnissen?
Das KZ Buchenwald - eines der touristischen Top Five
Jürgen Block von der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing, kennt das Problem: "Ich habe mir gerade die Seite von Weimar noch mal angeguckt. Einerseits wirkt es auf den ersten Moment ein wenig skurril, wenn die KZ-Gedenkstätte Buchenwald als touristisches Top Five mit transportiert wird, andrerseits gehört es eben auch dazu.“
Ein zweistöckiger Wachturm hinter einem Stacheldrahtzaun.
Ein Wachtum in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.© imago / Ulli Winkler
Die Gedenkstätte Konzentrationslager Buchenwald gehört zum Weimarer Tourismus. Aber nicht immer: "Verblüffend, verblüffend fand ich diesen neuen Werbefilm, den die Stadt in Auftrag gegeben hat. Da kommt Buchenwald überhaupt nicht vor. Da sehen Sie nur die Überblendungen von schönen Silhouetten und schönen Fassaden. Das ist schon gediegen. Da fällt man zurück hinter 20 Jahre interessante Debatten. Das ist aber legitim. Wenn das jemand bezahlt, ist das in Ordnung. Wir leben in einer Marktgesellschaft. Und wenn das Leute nach Weimar bringt, ok." Justus H. Ulbrich ist Historiker, gelegentlich auch Stadtführer in Weimar.
Der Fall Weimar zeigt, in welchem Dilemma eine Stadt steckt, die mit Goethe und Schiller werben kann. Und mit Buchenwald…? Die dunkle Geschichte offen zur Schau zu tragen macht stutzig. Sie zu verschweigen noch mehr. Stadtimage, die Stadt als Marke: für das Werben um Investoren, um Touristen ist Stadtmarketing immer wichtiger. Was gibt man von sich preis? Und was preist man sogar an?
Weimar – kein Einzelfall. Nürnberg steckt in einem vergleichbaren Dilemma. Nürnberg: Albrecht Dürer, die Burg, der Christkindlsmarkt – und: Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage der NSDAP, die Stadt der NS-Rassegesetze, schließlich – auch das wurde nach 1945 lange Zeit als Makel empfunden – die Stadt der Nürnberger Prozesse, der alliierten Militärtribunale nach 1945.
Sehr lange kämpfte die Stadt mit diesem historischen Erbe. Inzwischen aber nennt sich Nürnberg „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ - das Stadtmarketing versucht, die Geschichte positiv umzudeuten: ein Menschenrechtspreis, ein Menschenrechtsbüro, ein Memorium Nürnberger Prozesse – und das Dokumentationszentrum auf dem riesigen Gelände der einstigen Reichsparteitage, heute als "authentischer Lernort“ vermarktet. All das soll zeigen: Nürnberg hat aus der Geschichte gelernt, Nürnberg zeigt offen und transparent auch die wenig rühmlichen Facetten seiner Geschichte, Nürnbergs Botschaft für die Besucher ist ein "Nie wieder“. Ein Besuch vor Ort.
"Ja, also wir sitzen jetzt hier auf der jederzeit öffentlich zugänglichen Zeppelinhaupttribüne, die früher eine der wichtigsten Orte der Reichsparteitage war", sagt Alexander Schmidt, Nürnberger, der als Kind selbst auf dem Gelände spielte und als Historiker am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände arbeitet. "Unter uns liegt jetzt eine große Aufmarschfläche für bis zu 200.000 Menschen."
Es bröselt und bröckelt
Heute eine banal betonierte Parkfläche, LKW´s stehen hier, Leitplanken sind angebracht, dahinter Sportplätze. "Die wird eingerahmt einerseits von Zuschauerwällen mit 32 Türmen, die dann je so sechs so Nazifahnen trugen." Bauzäune sperren die grasbewachsenen, baufälligen Tribünen ab: "Und ausgerichtet ist das alles auf den Platz, wo Hitler gesprochen hat, nämlich die Rednerkanzel, die sich genau zentral in der Mitte des ganzen Areals befindet, dahinter etwas erhöht die Tribüne für die Ehrengäste und das Ganze strahlt dann wirklich eine klare Hierarchie aus."
Heute bröselt es und bröckelt, dazwischen immer wieder Unkraut. "Hier treffen sich Menschen, da drüben sitzen zwei und trinken ihr Mittagsbier. Also das ist normaler Alltag hier auf dem Gelände und ich finde das auch nicht falsch, sondern eigentlich ganz gut, dass sich die Nürnberger ihr Gelände am Dutzendteich wieder zurückerobern und sich nicht dauerhaft dieses Gebiet von diesen Nazibauten sozusagen stehlen lassen."
Profanisierung und Trivialisierung, eine demokratische Eroberung des einstigen Propagandageländes ist offizielles Konzept der Stadt Nürnberg. Warum kommen die Menschen hier her? - "Wenn mer en bisschen Sonnen brauchen, dann komm mer hier her und schauen uns des an", sagt ein Rentner aus dem Umland.
Die Zeppelintribüne auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
Die Zeppelintribüne auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg© dpa / picture alliance / Daniel Karmann
Vor Hitlers Rednerkanzel: ein einsamer Skateboarder und ein Jogger macht Treppenläufe an der Ehrentribüne, sprintet die Stufen hinauf, im lockeren Trab hinunter. Auf dem Parkplatz sind inzwischen zwei Busladungen amerikanischer Touristen angekommen.
"Excuse me, is this Hitler´s Stadium?"
Ob das Hitlers Stadion sei, fragt ein Mann abseits der Gruppe und erzählt, aber lieber ohne Mikrofon, dass er in den 1950er Jahren hier stationiert war und dass er Angehörige in den "Death Camps" verloren hat. Seine Augen werden feucht und er verabschiedet sich in den Reisebus. Kaum fünf Minuten reichen hier, um eine Bandbreite zwischen Mittagsbier, Sport und Trauer zu erleben. Das ehemalige Propagandagelände ist heute ein Touristenmagnet.
"Bewerben tun wir derartige Orte nicht, wir sehen das mehr als Aufklärung. Wir stellen bereit. Wir informieren."
Sagt Wolfram Zilk, von der Congress- und Tourismuszentrale Nürnberg. Dennoch kann auch Herr Zilk, wenn er nicht aufpasst, erst zögerlich, dann immer deutlicher, ins Schwärmen geraten: "Ich würde nicht von Standortvorteil sprechen. Natürlich ist in Nürnberg die einmalige Chance, diese Zeit erleben zu können. Denn nur hier finden Sie die entsprechenden Bauwerke dazu. Ein Holocaust-Denkmal in Berlin wurde nachträglich gebaut, ein Dokumentationszentrum in München … beschreibt zwar die Zeit, ist aber nicht original. Nur hier können Sie diese Faszination, die durch Gewalt erzeugt wurde, auch am lebendigen Ort erleben... Nur hier hast du die Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu begehen, zu erleben."
Auf der Webseite der Nürnberger Tourismuszentrale findet man auch das: "Nürnbergs Verpflichtende Vergangenheit“, ein Pauschalangebot, ab 65 Euro. NS-Geschichte im Paket buchbar. "Wir haben fertige touristische Programme, die auch vermarktet werden und Nürnberg hat jetzt auch Vorteile von dieser Geschichte. Es ist wirklich etwas, was auch Menschen veranlasst nach Nürnberg zu kommen."
Der Historiker Alexander Schmidt hat, anders als seine Kollegen aus Presseamt und Touristikbüro, kein Problem, auch von Wirtschaftsfaktor NS-Geschichte zu sprechen: "Ich finde das nicht falsch. Wenn der Tourismus, wenn das Angebot, das wir hier machen, ein gewisses Niveau hält und nicht auf so ne banale Eben rutscht: „“Was, hier hat Hitler gestanden?“ Also dabei darf´s nicht bleiben, man muss auch in ne analytische und aufklärerische Ebene gehen. Und dann ist mir jeder Tourist recht, muss ich auch sagen, jeder, der kommt und was wissen will über die Geschichte, ist uns willkommen. Dann verdient man damit auch Geld. Das sind Fakten. Beim Tourismus, bei den Busunternehmen, bei den Hotels. Da gibt´s keine Zahlen jetzt, wie viele Arbeitsplätze das jetzt hier mit ermöglicht, aber es ist tatsächlich jetzt ein Wirtschaftsfaktor. Und ich finde, man darf das jetzt auch ganz offen ansprechen, wenn man verantwortlich damit umgeht."
"Authentische Lernorte" für das Geschichtsbewusstsein
Das Stigma nun als Standortvorteil? Nürnbergs Pressesprecher Siegfried Zelnhefer meint dazu: "Nein, ich würde nicht von Standortvorteil sprechen. Standortvorteil - das klingt sehr wirtschaftlich. Es ist ein Aspekt, den die Stadt Nürnberg nicht nur nicht verheimlicht, sondern eben offen und in einem Sinne einer politischen Bildungsarbeit nach außen trägt. Das spricht offensichtlich auch Menschen an.“
Zelnhefer ist Historiker, hat sogar zum Reichsparteitagsgelände promoviert. Dass er Pressesprecher ist, zeigt, wie wichtig die Diskussion um die NS-Vergangenheit in der Stadt ist. Die Stadt will die Tribüne, einst Ort für Massenpropaganda und Volksverzauberung, als einen "authentischen Lernort“ erhalten. Was die Propaganda des Nationalsozialismus bedeutete, soll am historischen Ort erfahrbar sein, das wirke viel besser als Bücher und Filme, betonen Zehlnhefer und Schmidt immer wieder: "Je weniger Zeitzeugen die Geschichte weitertragen können, desto wichtiger werden authentische Orte, wo sich Geschichte manifestiert hat.“
Doch der „steinerne Zeitzeuge“ in Nürnberg ist baufällig. Grob geschätzte 70 Millionen Euro würde eine Instandhaltung kosten. Kein Geld zum Erhalt der „Brutalität in Stein“, der in Stein gegossenen Ideologie, fordert manche Stimme in Nürnberg. Der Verein „BauLust“, der immer wieder kritisch die Auseinandersetzung mit dem Reichsparteitagsgelände vorangetrieben hat, mahnt vor einer „Disneyfizierung“, jede Instandhaltung käme auf Grund des vorangeschrittenen Verfalls einer Rekonstruktion gleich. Der Verein bemängelt ein fehlendes Konzept der Stadt für das riesige Gesamtgelände des ehemaligen Reichsparteitags, die einseitige Konzentration auf die Zeppelintribüne, die sich eben auch touristisch gut herzeigen lässt.
Was geschieht, wenn man weniger offen und offensiv mit seiner Geschichte umgeht wie Nürnberg, zeigt das Beispiel Berchtesgaden und seine Nachkriegsgeschichte.
"Der Obersalzberg war nach dem Ende des Krieges Ziel vieler Touristen vor allem aus dem Ausland, weil sie einen Blick in Hitlers privaten Wohnsitz werfen wollten." Der Obersalzberg, auf dem Adolf Hitlers "Berghof“ stand, eine Art inoffizieller Regierungssitz, Ort der Verklärung, Hitler und die Bergwelt. Albert Feiber ist der Kurator der Dokumentation Obersalzberg und kennt die Geschichte des Tourismus an diesem Ort des Nationalsozialismus. "Das war ein großer wirtschaftlicher Faktor und die Politik und auch die Geschäftsleute sahen das ein wenig zwiegespalten. Zum einen freute man sich über das große Interesse, weil es Besucher brachte und damit auch Einnahmen generierte. Zum anderen fürchtete man sich vor den negativen Schlagzeilen, die eine solcher Tourismus brachte. Und das führte zu einer Art Doppelstrategie. Nach außen und öffentlich vertrat man das Narrativ, die Leute kommen wegen der schönen Landschaft."
Allerdings, das zeigen neueste Untersuchungen, so Feiber, kamen und kommen zwei Drittel der Besucher, mehrere Hunderttausend im Jahr, durchaus auch wegen der Geschichte: "Es gab über viele Jahre ein modernes Hitler-Merchandising, könnte man sagen, in dem Postkarten mit Motiven aus dem „Dritten Reich“ eins zu eins verkauft wurden, manchmal etwas kaschiert, indem die Hakenkreuzfahne vor Hitlers Haus durch die Bayerische weiß-blaue ersetzt wurde, aber ansonsten war es eine Vermarktung Hitlers am Obersalzberg. Broschüren, die über die Geschichte des Obersalzbergs in der Art und Weise informiert haben, dass sie eigentlich die Goebbels´sche Propaganda in die Gegenwart verlängert haben. Das kommt aber daher, dass man dem offiziellen Narrativ erlegen ist, dass die Menschen sich ja eigentlich nicht für NS-Geschichte interessieren, sondern nur für Landschaftsaufnahmen, oder einfach die Gegend anschauen."
Hitlers Bergblick erleben – ein touristischer Standortfaktor: Für den Obersalzberg und das Berchtesgadener Land hat das Tradition. Berchtesgaden hatte in der gesamten Nachkriegszeit einen Tourismus mit und durch Geschichte. Weil die politisch und geschäftlich Verantwortlichen aber lieber über die alpenländische Bergwelt sprachen, bekam man vor Ort Probleme. Der Obersalzberg war einmal einer der Orte für Dark Tourism, ein Ort, an dem der Nationalsozialismus als Faszinosum wahrgenommen werden konnte. Inzwischen hat sich daran einiges geändert. Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Abzug der Amerikaner, die Teile des Obersalzbergs genutzt hatten, wird dort die NS-Geschichte explizit zum Thema gemacht.
"Die Berchtesgadener Bevölkerung und Lokalpolitik waren dem zunächst kritisch gegenübergestanden, weil sie vor allem befürchteten, dass damit verbunden sei, dass Berchtesgaden bis heute ein braunes Nest sei, dass Berchtesgaden einen Imageschaden hatte. Als sie aber nach der Eröffnung der Dokumentation feststellten, dass die Dokumentation dazu beitrug, dass das Image Berchtesgaden weltweit positiv aufgenommen wurde, weil man sich kritisch mit der Geschichte auseinandersetzt und weil wider Erwarten die Dokumentation auch ein wirtschaftlicher Faktor wurde - damit änderte sich die Einstellung viele Berchtesgadener und heute kann man sagen, dass die Dokumentation im Ort relativ anerkannt ist und sicherlich die überwiegende Mehrzahl der Berchtesgadener stolz auf ihre Dokumentation ist."
Dokumentationszentren, Gedenkstätten, kritische Auseinandersetzung – darauf ist man stolz
Wenn selbst an diesem luftigen Ort, an dem Jahrzehnte lang die Besucherscharen das malerische Bergpanorama genossen und unreflektiert den Schauer spürten, dass Hitler einst hier seine Blicke schweifen ließ – wenn selbst an diesem Ort ein Dokumentationszentrum eingerichtet worden ist, dann hat sich der touristische Umgang mit Geschichte in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Bei einem Kongress über „Schattenorte“ in Potsdam im Februar 2015 brachte der Historiker Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung den Wandel auf diesen Begriff: "Vom Odium zum Esset, vom Schandmal zum Alleinstellungsmerkmal, vom Stigma zum Standortfaktor."
Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit der Geschichte scheint sich etwas Grundlegendes geändert zu haben. Die Städte, die früher lieber verschwiegen hatten, was bei ihnen geschehen war, zeigen ihren gewandelten Umgang mit der Geschichte gerne her. Dokumentationszentren, Gedenkstätten, kritische Auseinandersetzung – darauf ist man stolz. Sie passen in ein angestrebtes weltoffenes Stadtimage. Der offene und positive Umgang mit dem Stigma wird zum Standortvorteil. Und Geschichte zum Wirtschaftsfaktor.
Was das bedeutet, kann man in keiner deutschen Stadt besser studieren als in Berlin, dem „Rom der Zeitgeschichte“, wie manche sagen. In Berlin ist Zeitgeschichte ein Markt, auf dem viel Geld von Touristen umgesetzt wird.
Die abgebaute Mauer verlief auf den Straßenbahnschienen zwischen den Bezirken Kreuzberg (r) und Berlin Mitte (l). auf der rechten Seite der Martin-Gropius-Bau, links das Ostberliner Haus der Ministerien. (Aufnahme vom 29.3.1990).
Die Berliner Mauer - einst Todesstreifen, heute Touristenziel© picture alliance / dpa / DB Kneffel
"Public History ist ein unique selling point, ein ganz entscheidender Wirtschaftsfaktor für Berlin." Hanno Hochmuth klingt wie ein Marketingexperte: "Die Schattenorte Berlins sind aus dem Tourismuskonzept der Stadt überhaupt nicht wegzudenken und spielen hier eine ganz, ganz starke Rolle." Hochmuth ist aber Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine Profession: "Public History“.
"Berlin ist in den 90er Jahren in eine starke ökonomische Krise geraten und die Antwort des Landes darauf war, das zu vermarkten, was Berlin in einem Übermaß besitzt, nämlich interessante Geschichte. Und deswegen ist der Markt hier in einem starken Maße geöffnet worden und heute der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle der Stadt. Das ist für Berlin ein absoluter Standortvorteil. Und man sieht auch, wie die Stadt selbst, die Verantwortlichen für das Branding der Stadt, das Image der Stadt bemühen."
Und das lockt Touristen. Etwa zum Checkpoint Charlie, dem ehemaligen deutsch-deutschen Grenzübergang, der heute in der wiedervereinigten Mitte Berlins liegt. "Das Interessante ist, dass den Touristen, die den Checkpoint Charlie besuchen, dass denen gar nicht bewusst ist, dass das meiste, was sie hier sehen, gar nicht authentisch in Anführungsstrichen ist, sondern dass es sich um Repliken handelt. Sie sind trotzdem sehr zufrieden mit dem, was sie hier sehen, weil es ihren Erwartungen entspricht. Die Touristen, die hier herkommen, sind in hohem Maße vorgebildet, das heißt, sie haben Bilder im Kopf und diese Bilder sind Ikonen des Kalten Krieges, die unter anderem hier am Checkpoint Charlie entstanden sind."
Die Bilder der „Berlin-Krise“ von 1961, als sich hier sowjetische und amerikanische Panzer kampfbereit gegenüberstanden. Der Checkpoint Charlie wurde in den Jahren danach zu einem Grenzübergang ausgebaut, heute aber steht dort nicht die "echte“, authentische Anlage wie zu Zeiten des Mauerfalls dort stand, sondern ein kleines Holzhäuschen "wie es man kennt von den Aufnahmen aus dem Oktober 1961. Und ich würde sagen, es wurde genau deshalb so wieder aufgebaut, dass es eben genau diesen vorgefertigten medialen Erwartungen der Touristen entspricht. Die hierherkommen wollen, um die Bilder, die sie im Kopf haben, hier vor Ort abgleichen zu können."
Operation Wal... Wal... mit Tom Cruise
Geschichtstourismus lebt von den Bildern im Kopf der potentiellen Kunden: "Ich bin aus Brasilien. Mein Name ist Flavia. Ich reise seit Anfang April und ich bin sehr an der Geschichte des Zweiten Weltkrieges interessiert." Auch Flavia hat Bilder im Kopf: "Ich habe schon viele, sehr viele Orte besucht. Das Holocaust-Mahnmal, das Jüdische Museum, und einen Ort, den ich heute noch besuchen will, ist … hmm, ich habe den Namen vergessen, die Operation Wal... Walküriiee? … der Film mit Tom Cruise …"
Den Bendler-Block mit seiner Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Jetzt aber folgt Flavia erstmal einer Gruppe von 30 Berlinbesuchern von der vielbefahrenen Straße durch eine dicke Metalltür in einen Bunker.
"Willkommen in Berlins Unterwelt. Mein Name ist Kristina. Ich bin ihre Führerin in den nächsten eineinhalb Stunden. Und worüber ich heute erzählen werde, ist dieser Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg."
Flavia hat eine Tour beim Verein „Berliner Unterwelten“ gebucht. Er gehört zu den großen privaten Anbietern für Geschichtstourismus in Berlin. Entstanden aus einer Initiative von Hobbyhistorikern, die Berlins Bunkerlandschaft pflegen wollten, ist der Verein zu einem touristischen Unternehmen gewachsen: Bunkertouren in mehreren Sprachen, über 300.000 Kunden im vergangenen Jahr, 50 festangestellte und etwa 90 freie Mitarbeiter. Nur über den Umsatz und die Einnahmen will der Verein auch auf Nachfrage keine Auskunft geben. Das Urteil des Public History–Experten Hanno Hochmuth: "Bei diesen Bunkertouren, wenn man sich diese anschaut, geht es zwar auch um Verbrechen des Nationalsozialismus, z.B. die Zwangsarbeiter, die diese Bunker errichten mussten. Es geht aber auch sehr stark um das faszinierende Grauen solcher im wahrsten Sinne schattigen Anlagen, und es geht auch um die offene Faszination vor dem Größenwahn des Nationalsozialismus. Das spielt bei der touristischen Erschließung der belasteten Vergangenheit hier in Berlin eine sehr, sehr große Rolle."
"Die Männertoilette werden wir nicht sehen, sie ist sehr klein, da würden wir nicht alle reinpassen. Die Frauentoilette war größer, da vor allem Frauen im Bunker waren. Die Männer waren im Krieg."
"Die Männer waren im Krieg.“ Mehr Infos für die internationalen Gäste gibt es zunächst nicht. Begleitet man die Bunkertouren, zeigt sich: Der Verein versucht sich nicht an einem Gruselkabinett zum Nazigrauen. Die Touren sind recht nüchtern gehalten. Allerdings: Der Krieg, aus dem hier erzählt wird, wirkt wie jeder andere Krieg, jede andere Geschichtsepoche. Krieg und nationalsozialistische Gewaltherrschaft werden kaum thematisiert. Ein bisschen Abenteuer. Eine spannende Entdeckungstour, ein Geschichtserlebnis. Details aus dem Zweiten Weltkrieg ohne den historischen Kontext, Faszination an Architektur und Technik dieser Unterwelt. Wie war das etwa mit der Dunkelheit in den Bunkern? "Dieses Problem wurde durch eine ganz besondere Wandfarbe gelöst. Simulieren wir einen Stromausfall."
"Wie sie sehen, leuchtet die Farbe in der Dunkelheit. Diese Farbe wurde allerdings schon 1941 aufgetragen. Heute leuchte sie nicht mehr ganz so stark.Uns haben allerdings Augenzeugen berichtet, dass während des Krieges diese Farbe so hell geleuchtet hat, dass man hier sitzen und ein Buch lesen konnte."
Was hält Flavia von der Tour? - "Ich denke diese Tour ist schon ein wenig oberflächlich. Sie setzten das Wissen voraus. Ich hoffe, die Leute hier wissen ein bisschen etwas über den Krieg, denn es ist etwas befremdlich … Ich würde gerne sehen, wo Hitler war und solche Sachen … "
Hanno Hochmuth: "In Berlin wird, ganz klar, mit Schattenorten auch Geld verdient. Es gibt so Einrichtungen wie die Topographie des Terrors oder die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, die im starken Maße öffentlich gefördert sind. Aber es gibt andere Orte, die private Initiativen sind, die manchmal aus zivilgesellschaftlichen Initiativen hervorgegangen sind, die heute private Unternehmen sind. Und die müssen sich am Markt behaupten, das können sie nur, wenn sie Geld verdienen und das können sie wiederum nur, wenn sie das Authentizitätsbedürfnis der Berlinbesucher befriedigen und indem sie das bieten, was die Touristen suchen, nämlich Histotainment.
Die Zauberworte des Geschichtstourismus
Authentizität und Histotainment – das sind die beiden Zauberworte des Geschichtstourismus. Die Touristen wollen den Originalschauplatz besuchen und möglichst noch ein Erlebnis dazu, unterhaltsam aufbereitete historische Fakten. Menschen interessieren sich auch für die schwierigen und dunklen Kapitel der Geschichte. Die Konsequenz ist, dass sich daraus ein Markt bildet. Mit sogenannten „Schattenorten“ kann Geld verdient werden.
"Man muss sich heute schon etwas einfallen lassen, um auf diesem Markt zu bestehen“, sagt Hanno Hochmuth. Ist das für ihn als Historiker ein Problem? - "Ich würde sagen, all diese Formen der geschichtlichen Aneignung haben ihre Berechtigung und unsere Rolle als Zeithistoriker ist es weniger, das zu evaluieren oder zu sagen, das ist gute Vergangenheitsvergegenwärtigung und das ist schlechte. … Ich halte es grundsätzlich für legitim, mit Geschichte auch touristische Interessen zu befriedigen und auf dem Markt von Anbietern damit auch zu bewegen. Nicht wir als Historiker haben Geschichte allein für uns gepachtet, auch nicht die Gedenkstätten für sich gepachtet, sondern in unserer pluralistischen Gesellschaft gehört unsere Vergangenheit allen. Und ich halte es auch für legitim, dass eine Stadt wie Berlin heute von Geschichte lebt und Geschichte als Standortvorteil nutzt."
Und Alexander Schmidt vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg: "Wir sagen nicht, für die machen wir es jetzt besonders spektakulär und besonders platt oder irgendwas, ja. Wir bieten auch keine Events an. Da gibt’s so Grenzen, man kann keine Spielchen spielen oder Schauspieler auf Führung einsetzen beim Thema Nationalsozialismus. So was geht definitiv nicht, so was machen wir auch nicht. Das geht bei anderen Themen schon. Mittelalter, was man da auch alles Schönes machen kann an Eventtourismus, das geht alles auf dem Gelände nicht, das ist auch ne Grenze für mich und ein No-Go."
Auffällig ist, dass die meisten beteiligten Historiker die Debatte um den Geschichtstourismus viel nüchterner sehen als Marketingfachleute, Touristiker und Stadtverantwortliche. Letztere laden ihre Argumente oft moralisch auf, um Kritik an der Vermarktung von Schattenorten der Geschichte vorzubeugen.
Der offensiv-aufklärerische Umgang mit dem Stigma kann zum beworbenen Standortfaktor werden, zum Touristenmagnet, zum Imagepluspunkt. Mit dieser Lockerheit wächst aber auch der Markt für einen Geschichtstourismus, der maßgeblich von Unterhaltung, Schauer und Faszination lebt.
Tourismus an dunklen Orten der deutschen Geschichte – er bleibt wohl immer ein schmaler Grat zwischen Verschweigen und Ausschlachten, zwischen Ignorieren und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Ein richtiges Maß, bei dem niemand ein ungutes Gefühl hat, wird es wohl nie geben.
(Wiederholung einer Sendung vom 3. Juni 2015)
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