"Total schwierig und konflikthaft"

Anja Wollenberg im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 19.07.2012
Die Presse in Libyen war jahrzehntelang dominiert von der Gaddafi-Herrschaft. Es gab kaum eine Chance für freie Meinungen. Mit der Revolution und den politischen Reformen hat sich das geändert. Es bildet sich eine ganz neue Medienlandschaft, wie die Gründerin der internationalen Medienentwicklungsorganisation MICT, Anja Wollenberg, erklärt.
Stephan Karkowsky: Hunderte neuer Zeitungen, Radiosender und Websites wurden gegründet. Wie die Libyer umgehen mit der neuen Freiheit, hat Anja Wollenberg vor Ort untersucht. Sie ist Gründerin der internationalen Medienentwicklungsorganisation MICT. Frau Wollenberg, guten Tag!

Anja Wollenberg: Hallo!

Karkowsky: Wie sieht sie aus, die neue Medienlandschaft in Libyen? Sie waren da, Sie haben sich das selber angeguckt.

Wollenberg: Ja, zunächst mal ist es bemerkenswert, wie Sie es gerade auch erwähnt haben, dass da in sehr kurzer Zeit sehr, sehr viel entstanden ist. Also es sind im Grunde wenige Monate nach dem Sturz des Regimes. In Bengasi gab es schon über 100 Printprodukte und etwa ein Dutzend Radio- und Fernsehsender, also die Vielfalt und Menge beeindruckt zunächst, und das ist durchaus auch verständlich vor dem Hintergrund der repressiven Kultur vorher, da entsteht natürlich ein starker Wunsch, sich diese Öffentlichkeit jetzt anzueignen und zu bespielen und mit Stimmen zu füllen, mit revolutionären Stimmen. Und was nun auffällig war, als ich da war, dass natürlich alle vom Selbstverständnis - also alle Akteure im Medienfeld - vom Selbstverständnis her jetzt erst mal nicht Journalisten im primären Sinne sind, sondern Revolutionäre, also die im Grunde metaphorisch gesprochen die Waffe mit dem Stift ausgesprochen haben. Und das hat nun durchaus zur Folge, dass es eine gewisse Gleichschaltung gibt, also eine politische Gleichschaltung in den Medien, die sich auf ein Ziel richten, nämlich diese Revolution zum Erfolg zu führen. Das würde man jetzt aus unserer Perspektive kritisieren, eine politische Gleichschaltung, aber das war in dem Augenblick richtig. Also das war natürlich wichtig und richtig, dass es diese Bewegung gab, und dass die diesen Raum für sich geöffnet haben. Es ging darum, den offen zu machen für alle, der sehr exklusiv vorher für eine politische Elite reserviert war, und vor allem - das fand ich auffällig - Vielfalt sichtbar zu machen.

Karkowsky: Gibt es denn überhaupt die alten Medien noch, die Propagandasender und Zeitungen des Regimes, oder sind die mit dem Regime gefallen?

Wollenberg: Ja, ich habe konkret mir den Staatssender angeguckt, als ich da war, und da ist es so gewesen, dass relativ schnell nach dem Sturz in Tripolis die Rebellen aus Bengasi gekommen sind und die Leitung übernommen haben von dem LRT, dem Libyan Radio and Television, und haben aber - so wurde es von der Belegschaft dann empfunden - die Mitarbeiter dort despektierlich behandelt, die fühlten sich diskriminiert von den Leuten aus Bengasi, und haben sich dann denkwürdigerweise beim NTC, also beim Transitional Council, beschwert, und dann wurde dieses Management abgelöst und der Sender wurde für eine gewisse Zeit lang von den Mitarbeitern geleitet. Und das fand ich ganz beeindruckend, dass die jetzt Demokratie auf diese Weise sogar zuspitzen. Ich hatte etwas Ähnliches in Tunesien auch erlebt, wo sich also die Meinung durchsetzte bei der staatlichen Zeitung, dass man die Leitung wählt, also die Mitarbeiter wählen den Zeitungsleiter, was die dann auch gemacht haben. Und das sind so ein bisschen echte Highlights in so einem demokratischen Prozess, während allerdings jetzt in der letzten Zeit der Staatssender doch wieder jetzt von der Regierung, also vom NTC vereinnahmt wurde und so als Kommunikationsplattform genutzt wird. Also das ist 'mal der Status Quo, die haben da sich ein bisschen wieder zurückgenommen und erklären das auch ganz offen: "Wir brauchen das jetzt, um Politik zu kommunizieren!" - Was ja auch eine Berechtigung hat.

Karkowsky: Aber das Personal ist das gleiche?

Wollenberg: Das Personal, also ich sage mal: Nicht ganz das Gleiche. Das obere Management wird immer sofort entfernt, und die Operative bleibt da, und dann gehen, also ich sage mal: Diese ganzen Parteigänger von Gaddafi und so weiter, die gehen dann auch. Und man weiß nicht wohin, aber das Kern-Mitarbeiterteam, zumindest im Staatssender, war dasselbe. Und die haben sich ja, wie ich sagte, das dann auch so ein bisschen erst mal genommen. Aber das sind natürlich konflikthafte Prozesse, da sind dann die Rebellen aus Bengasi plötzlich zusammen mit den Mitarbeitern eines Gaddafi-Senders in Tripolis, das ist total schwierig und konflikthaft

Karkowsky: Wie informieren sich denn die Libyer eigentlich über das Geschehen im Land und in der Welt? Was sind das für Mediennutzer, sind das Zeitungsleser?

Wollenberg: Schwieriges Thema - also wir als MICT, wir begleiten ja ein paar Zeitungen, ausgesuchte Zeitungen in ihrem Professionalisierungsprozess, und das schwerwiegendste Problem, mit dem die zu kämpfen haben, ist in der Tat eine absolut nicht vorhandene Kultur des Zeitungslesens. Also ich selbst habe versucht, einen Zeitungskiosk zu finden, das ist wirklich nicht möglich. Also Zeitungen kauft man im Papiergeschäft, oder wie heißt das: Schreibwarengeschäft. Und man sieht auch nirgendwo mal jemanden eine Zeitung lesen, oder in einem Café - also das ist ein Problem.

Karkowsky: Laufen denn die Fernseher überall, also Al Dschasira in jedem Café?

Wollenberg: Meiner Wahrnehmung nach nicht, nein, aber was im Moment, meiner Wahrnehmung nach das wichtigste Medium ist, ist schon Radio. Das setzt sich gerade sehr stark durch, weil Fernsehen im Moment dazu tendiert, eher kommerziell zu werden, und dann gibt es noch also einen Fernsehsender, der in der ersten Stunde der Revolution gegründet wurde, Al-Hurra, das war sozusagen der Revolutionssender, der natürlich jetzt auch erst mal gucken muss: Was wird aus dem jetzt? Der muss jetzt auch erst mal eine neue Identität entwickeln, das finden die Leute. Und der war auch sehr stark mit dem NTC jetzt verbunden, der ja jetzt aufgelöst wird, also da sind die jetzt gerade wirklich auch an so einer Schwelle von Veränderung, wo im Grunde jeder gucken muss, was ist jetzt die Zukunft für mich als Sender oder Zeitung.

Karkowsky: Wie Libyen seine Medienlandschaft neu aufbaut, erzählt uns Anja Wollenberg. Sie ist Gründerin der internationalen Medienentwicklungsorganisation MICT und war vor Ort. Frau Wollenberg, die Leute, die jetzt in den populären Radiosendern zu hören sind, was sind das für Menschen?

Wollenberg: Das sind - gut, es ist schwer zu sagen: Was sind das für Menschen? Weil sich das im Moment stetig wandelt, aber sagen wir mal, als ich jetzt da war: ganz junge Leute, ...

Karkowsky: Keine Journalisten?

Wollenberg: ... keine Journalisten, das ist natürlich alles selbstgemachter Journalismus - viele Studenten, ...

Karkowsky: Keine Ausgebildeten?

Wollenberg: ... junge Leute, keine Ausgebildeten - also wie gesagt, in den alten Medien sind auch die Leute, die Journalismus unter Gaddafi gemacht haben mit den Einschränkungen, die dazu gehörten. Und der - sagten wir mal: Das ist ja natürlich nicht Journalismus in dem Sinne, wie wir das verstehen - was nicht ausschließt, dass sie jetzt nicht umlernen. Das sind ja jetzt Leute, die treten jetzt in einen Lernprozess ein, aber das sind wahnsinnig junge Leute, 16,17,18, ganz viele Frauen, alle arbeiten ohne Geld - also das war die längste Zeit nach dem Fall des Regimes, monatelang wurde vollkommen ohne Geld gearbeitet. Das einzige, was man bezahlen musste, war die Druckerei, und ansonsten wurden keine Honorare bezahlt oder irgendwer hätte da jetzt für Profit gearbeitet. Das ändert sich natürlich jetzt alles auch, also die Wahlen sind schon auch eine Zäsur für den Eintritt in eine neue Phase der Medienentwicklung, wo alle irgendwie professionell werden müssen, auch im wirtschaftlichen Sinne natürlich. Natürlich wollen jetzt auch die Mitarbeiter bezahlt werden, ist ja klar. Und jede Zeitung muss überlegen, wie können wir wirtschaftlich überleben?

Karkowsky: Können Sie denn einschätzen, was diese Menschen motiviert? Warum machen die das, warum arbeiten die umsonst für Zeitungen, für Radiosender und so weiter?

Wollenberg: Na klar, also ich meine, dass im direkten Nachgang des Regimesturzes war die Motivation natürlich die: Alles muss jetzt genau anders sein als wie es vorher war. Wir möchten jetzt hier gehört werden, wir möchten Vielfalt sichtbar machen, wir möchten, dass jeder die Möglichkeit hat, sich zu zeigen und zu sprechen. Also die Motivation ist erst mal, alles ins Gegenteil zu verkehren, wie es vorher gewesen ist, und das auch zu nutzen, also diese Freiheit zu nutzen, das ist ja mal so der greifbarste Revolutionsgewinn, der dann da ist. Alles andere ist ja unklar.

Karkowsky: Das ist ja erst mal so meine Motivation für mich: Ich tue jetzt erst mal was für mich, wenn ich zum Radio gehe oder zur Zeitung, wenn ich mich ausdrücken kann. Gibt es schon so etwas wie eine Journalisten-Ethik oder die Funktion, die Journalisten erfüllen sollten, nämlich: einfach informieren?

Wollenberg: Das entwickelt sich jetzt, also jetzt - viele Medien oder Zeitungen haben den Betrieb eingestellt, andere lassen sich durchaus auch von politischen Interessensgruppen jetzt vereinnahmen, also nehmen Geld von Parteien. Und dann gibt es wiederum welche, die wollen jetzt echt ein journalistisches Projekt werden oder ein journalistisches Produkt, und da gibt es diese Ambitionen natürlich. Da geht es darum: Wir möchten der Regierung auf die Finger schauen, wir möchten auch sichtbar machen, welche Meinungen in der Gesellschaft vorherrschen, wir möchten hier kontroverse Debatten sehen, aber in der Tat eben auch dieses: Wir möchten die Regierung kontrollieren, was ja auch eine Aufgabe von Medien ist.

Karkowsky: Die vierte Gewalt!

Wollenberg: Das ist definitiv eine Motivation für Journalisten, die es jetzt ernst meinen, die sich entscheiden, ich bleibe hier in diesem Feld, ich gehe nicht zurück in einen anderen Job, sondern: Ich gehe weiter.

Karkowsky: Und wenn ich zum Beispiel wissen will, ist die Straße von X nach Y frei, fallen irgendwo Schüsse, ist das eine Gegend, in die ich nicht hingehen kann, was für Medien sollte ich da am besten nutzen?

Wollenberg: Soweit ich das wahrnehme, wird das über Twitter viel verbreitet. Also da ist schon Twitter die Quelle der ersten Wahl - so unzuverlässig, das eben auch ist. Aber da läuft ... , also das ist in Tripolis oder in Libyen natürlich wichtig, genau diese Fragen. Als ich da war, waren auch andauernd irgendwelche Straßen gesperrt oder eben ganze Stadtteile in Konflikte verstrickt, wo man dann sich fernhalten sollte, oder diese Besetzung vom Flughafen, und irgendwelche Milizen haben sich jetzt da wieder in den Haaren - all das will man wissen, also auch einfach wirklich ganz persönlich für die eigene Sicherheit oder für die der Kinder, und das läuft über Twitter.

Karkowsky: Wie die Libyer gerade ihre Medienlandschaft neu aufbauen, hat Anja Wollenberg vor Ort untersucht, sie ist Gründerin der internationalen Medienentwicklungsorganisation MICD. Danke für das Gespräch!

Wollenberg: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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