Topologie des Terrorismus

Rezensiert von Sibylle Tönnies · 02.02.2007
Zwei schwere Wälzer (1400 Seiten, drei Kilogramm) hat das Reemtsma-Institut für Sozialforschung zum Thema "Die RAF und der linke Terrorismus" hervorgebracht. Das Inhaltsverzeichnis ist überwältigend: 47 Autorinnen und Autoren beleuchten das Thema von allen Seiten – von wirklich allen Seiten, von so vielen Seiten, dass die RAF selbst beinahe verschwindet. Denn es geht um den Terrorismus allgemein, Terrorismus nicht nur von links, sondern auch von rechts, Terrorismus von unten und Terrorismus von oben, Terrorismus gestern, heute, morgen.
Was hat man sich hier denn vorgenommen? fragt sich der eingeschüchterte Leser und sucht Antwort in der Einleitung des Herausgebers Wolfgang Kraushaar auf Seite 1. "Topologie des Terrorismus" ist sie überschrieben.

"Wenn hier von einer spezifischen Topologie des Terrorismus gesprochen wird, dann ist damit zunächst die Logik einer räumlichen Dimension gemeint. Im Unterschied zur Topografie geht es jedoch nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, um die Beschreibung von Orten, sondern um eine Analyse von deren Funktionen und Strukturen."

Hilfe, sagt sich der Leser. Orte, die nicht beschrieben wurden, werden hier auf ihre Funktionen und Strukturen hin analysiert? Welche Orte denn? Gar keine Orte, stellt sich im nächsten Satz heraus:

"Die Frage lautet ganz allgemein: Wie ist ein Phänomen wie der RAF-Terrorismus situiert gewesen, wo lagen seine Grundstrukturen und wie waren deren Elemente untereinander angeordnet?"

Ach so. Es geht, kurz gesagt, um Strukturen. Na ja, das hat man nicht anders erwartet. Womit soll sich ein Institut für Sozialforschung denn sonst befassen?

Seite 1 ist ein Rausschmeißer. Man hat hier mit dem alten Soziologesisch zu kämpfen, dem zu verdanken ist, dass sich die Leserschaft in den letzten Jahrzehnten von der Soziologie abgekehrt hat. Aufgeblähte, aufgeschäumte Sätze ohne Inhalt - irgendwann hatte man davon genug, und auch große Buchhandlungen führen keine Abteilung Soziologie mehr.

Aber Gott sei Dank, nicht alle Texte sind von dieser Art. Immerhin sind 47 Autoren an dem großen Werk beteiligt, und es wird in 47 verschiedenen Jargons gesprochen. Nur da, wo topologische und nicht-topografische Analysen von Funktionen und Strukturen unternommen werden, tritt immer wieder die Gefahr auf, dass sich die Gedanken ineinander verhaken, miteinander verfilzen und in Sprachhüllen verstecken müssen. Entgegen den Absichten des Herausgebers gibt es in diesem Buch aber auch Beschreibung, und er selbst trägt in einigen interessanten Texten dazu bei.

Betrachten wir aber die Analyse. Sie wird gleich zu Anfang Herfried Münkler überlassen, der deutschen Autorität in allen Fragen der Gewalt, von einfachen Explosionen bis zu ganzen Kriegen. Er will die RAF klassifizieren, und er hat dabei in erster Linie ein Interesse: Er will klären, ob ihre Mitglieder Guerilleros waren oder Terroristen – streng wissenschaftlich.

"Bei der jeweiligen Etikettierung ... liegen oftmals nicht wissenschaftliche Präzision, sondern politische Sympathie oder Antipathie den jeweiligen Bezeichnungen zugrunde. Dass politische Begriffe zu Lob oder Denunziation instrumentalisiert werden, mag im politischen Handgemenge verständlich sein; dass sich die wissenschaftliche Diskussion davon aber ebenfalls nicht freizuhalten vermochte, muss bedenklich stimmen."

Leider vermochte sich auch Münkler nicht von Sympathie und Antipathie frei zu halten; auch die von ihm verwendete Unterscheidung zwischen Guerillero und Terrorist muss bedenklich stimmen. Denn er benutzt sie dazu, um die RAF zu verdammen, ohne seine alte linke Liebe zur Guerilla aufgeben zu müssen. Baader und Meinhof waren nach seiner Ansicht üble Terroristen, während Guerilleros eine erfreuliche Erscheinung sind. Sie kämpfen im Geiste von Mao Tse Tung und Che Guevara, was Baader-Meinhof zwar auch für sich in Anspruch nahmen, aber nach Münklers Ansicht zu Unrecht. Mit aller Schärfe weist er den Versuch der RAF zurück, sich in den Geist dieser großen Männer zu stellen. Der Guerillero übt sinnvolle Sabotage, er macht etwas Schlechtes kaputt, während der Terrorist gegen das, was er zerstört, eigentlich nichts einzuwenden hat, sondern nur Furcht erregen will.

"Allen Guerilla-Strategien ist gemeinsam, dass sie ihre politischen Ziele durch die Anwendung von Gewalt unmittelbar zu erreichen suchten und es ihnen primär um die physischen Folgen der Gewaltanwendung ging. Dagegen orientiert sich die Strategie des Terrorismus ... an den durch die Gewaltanwendung provozierten Reaktionen bei Freund, Feind und zunächst Gleichgültigen und sucht so primär die psychischen Folgen der Gewaltanwendung."

Wenn Münkler die RAF als terroristische Organisation diffamiert, die nicht zu direkter Aktion fähig war, übersieht er, dass unter dem Kommando von Baader-Meinhof einige sehr ordentliche Sabotageakte vorgenommen wurden: einige effektive Bombenanschläge auf amerikanische Militärstationen, von denen aus die Angriffe in Vietnam geflogen wurden. Münkler muss diese Anschläge übersehen. Denn andernfalls wäre er gezwungen, diese Explosionen, bei denen etliche GIs – hauptsächlich Schwarze – ums Leben kamen, als echte Guerilla-Aktionen einzuordnen und zu würdigen.

Letzten Endes schwingt Münkler gegen die Baader-Meinhof-Gruppe einen furchtbaren Holzhammer: Sie war kleinbürgerlich, und sie war moralisch. Da staunt der Leser. Kleinbürgerlich? Kamen die nicht aus besseren Häusern? Und moralisch – das ist doch eigentlich nicht so schlimm! Nur der ältere Leser weiß, dass diese Vorwürfe – kleinbürgerlich und moralisch - zum streng marxistischen Repertoire gehörten ... und bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass der Text aus dem Jahre 1992 stammt, als einige Leute noch marxistisch dachten.

Man könnte meinen, dass Münklers Text deshalb nicht repräsentativ sei für die große Veröffentlichung. Doch, er ist es. Er ist es insofern, als dem ganzen Werk der geistige Boden fehlt. Ihm fehlen die Topoi – wir kommen damit auf das Wort Topologie zurück, Topologie des Terrors. Soweit dieses Werk Topoi hat, sind sie veraltet. Topoi sind feste Bezugspunkte für eine Argumentation, Orte des Denkens, die unumstritten sind, Orte, die man aufsuchen kann, wenn man überzeugen will.

"Moral" zum Beispiel ist ein solcher Topos und kein Schimpfwort. An diesem Ort muss endlich aufgeräumt werden, damit er wieder zu einem Standpunkt werden kann. Ein weiterer Topos, der dem Nachdenken über Terror einen Boden geben könnte, ist "Gewaltfreiheit". Ist die physische Gewalt tatsächlich derjenigen vorzuziehen, die psychisch wirken will? Ein dritter Topos müsste erst gegründet werden; er hieße: "Staatsbejahung". Denn inzwischen weiß man ja, wie schlimm ein "failed state" ist. Man hat dazu gelernt: Ein schlechter Staat ist besser als gar keiner, und nicht jeder Guerillero ist ein Held. Auch Mao tse Tung steht nicht mehr so gut da wie ehedem.

Vielleicht macht die Ort-Losigkeit der beiden Wälzer dem Publikum bewusst, wie dringend eine neue Topik der Gewalt heute benötigt wird.

Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus
Hamburger Edition, 2006
Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus
Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus© Hamburger Edition
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