Tod des Optimismus

Von Susanne Mack · 02.11.2005
Am Morgen des Allerheiligentages anno 1755 bebt in Lissabon die Erde. 30.000 Menschen finden augenblicklich den Tod. Dem Beben der Erde folgt ein Beben des Geistes: "Der Schrecken von Lissabon" steht für einen Umbruch im Denken des 18. Jahrhunderts - theologisch, philosophisch, naturwissenschaftlich und auch politisch. Vielleicht bezeichnet "Lissabon" sogar die Geburtsstunde des "grünen", ökologischen Bewusstseins?
ARD-Tagesthemen vom 09.Oktober 2005: "Guten Abend, meine Damen und Herren. - Vom Erdbeben am schlimmsten betroffen sind der Norden Afghanistans, Pakistan und Indien. Vor allem in Pakistan haben die Menschen Angst vor einem Nachbeben."

Nachrichten MDR-Fernsehen vom 08. Oktober 2005: "Schweres Erdbeben. In Pakistan, Indien und Afghanistan werden Tausende Tote befürchtet."

Die ersten Fernsehmeldungen über die jüngste Naturkatastrophe in Südasien. Die Zahl der Opfer wird von Tag zu Tag nach oben korrigiert: Inzwischen rechnet man nicht mehr mit 2000, sondern mit 80.000 Toten.

FAZ: "Wenige Stunden nach dem Beben hatte die Bundesregierung bereits Hilfe zugesagt. Ein Trupp des technischen Hilfswerkes ist am Montag in der Katastrophenregion eingetroffen. "

vermeldet die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Oktober 2005:

"Fünfzehn Männer sollen - gemeinsam mit einer türkischen Rettungsmannschaft - nach Verschütteten suchen. Im Gepäck haben sie Radargeräte, Wärmebildkameras und Betonkettensägen. Finanziert wird der Einsatz vom Auswärtigen Amt in Berlin, den Empfang in Pakistan hatte die Deutsche Botschaft in Islamabad organisiert. "

Rainer Enskat: " Das ist der glückliche Umstand, dass wir uns in solchen Situationen auf die geradezu riesenhaften technischen Entwicklungen und Möglichkeiten berufen können, die seit, sagen wir, ungefähr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts realisiert worden sind, und von denen wir in solchen Situationen profitieren können."

sagt Rainer Enskat von der Universität in Halle. Er ist Experte in Sachen "Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts" und erinnert an das erste große Erdbeben der Moderne: Lissabon im Jahre 1755. Damals eilte kein "Technisches Hilfswerk" in das Katastrophengebiet. In deutschen Zeitungen hat man erst vier Wochen später überhaupt etwas von diesem Beben erfahren.

Anno 1755 in Lissabon, da wütete "Natur pur" - ohne Vorwarnung, ohne Hilfe von außen - und bis zum bitteren Ende. Der alte Goethe erinnert sich noch über fünfzig Jahre später an die Schreckensmeldungen aus seiner Kinderzeit:

J.W. Goethe: "Häuser stürzen ein. Kirchen und Türme darüber her. Der königliche Palast wird vom Meere verschlungen. Die geborstene Erde scheint Flammen zu spei’n. Überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen gehen mit einander zugrunde. Und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist.

Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Misshandlungen bloßgestellt. Und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. "

Die reale Katastrophe von Lissabon führt im Schlepptau eine Katastrophe des Geistes. Das christliche Europa ist erschüttert - in den Grundfesten seines Denkens und vor allem seines Glaubens. Goethe schreibt in seinen Memoiren:

"Der Knabe war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen."

An genau diesem Umstand entzündet sich in den folgenden Jahren eine vielstimmige Kontroverse über die europäischen Grenzen hinweg. Alle großen Geister des 18. Jahrhunderts sind beteiligt. Zur Diskussion steht ein Thema, das uns bis heute erhalten geblieben ist - die Gretchenfrage der Philosophen an die christliche Theologie, die da lautet: Wenn es einen Gott gibt, und dieser Gott ist allmächtig, gütig und gerecht, hat er die Schreie von Lissabon nicht gehört? Die gefalteten Hände nicht gesehen? Warum duldet Gott dieses massenhafte und sinnlose Leiden?

Rainer Enskat: "Das erste unmittelbare Zeugnis einer solchen Reaktion stammte aus der Feder des vermutlich berühmtesten, das ganze Jahrhundert überstrahlenden Autors: von Voltaire. Wenige Wochen nach dem Erdbeben im November hatte Voltaire bereits sein berühmtes Gedicht über das Erdbeben von Lissabon, und, wie es im Titel heißt: "über den Optimismus" verfasst."

F. Voltaire, "Gedicht über das Erdbeben von Lissabon":
O unglückselige Menschen, bejammernswerte Erde!
Unsinniger Leiden unaufhörliche Qual!
- Betrogene Philosophen. Ihr schreit: "Alles ist gut!"
Kommt her! Und seht die grässlichen Ruinen,
verstreute Glieder unter Marmortrümmern.
- Wie einen Gott sich denken, der, die Güte selbst,
den Kindern, die er liebt, die Gaben spendet,
und doch mit vollen Händen Übel auf sie gießt?


Voltaire bringt - wie so oft - den Zeitgeist auf den Punkt und zieht für sich selbst die Konsequenz aus den schrecklichen Ereignissen von Lissabon. Er gibt seinen Glauben auf, oder besser: er gibt seinen christlichen Glauben auf - und wird einer der Wegbereiter der modernen atheistischen Weltanschauung.

Rainer Enskat: "Weil es nun ausschließlich nur noch um die Frage ging, ob die Welt im Ganzen von einem gerechten Schöpfer eingerichtet worden ist oder nicht. Und diese Frage wurde zunehmend im 18. Jahrhundert negativ beantwortet. Voltaires Schriften sind, wie gesagt, besonders drastische, symbolische Formen der Distanzierung von allen diesen Überlegungen und stellen es eigentlich dem Einzelnen anheim, sich völlig auf eigene Faust einen Reim auf diese Erscheinungen zu machen und sich nicht mehr an tradierte Dogmen zu halten, aber auch nicht mehr an den Diskussionen der Gelehrten teilzunehmen."

Kann man einen Gott der Liebe rechtfertigen angesichts des massenhaften Leidens in der Welt? Unmöglich, meint auch Henry Stendhal, fünfzig Jahre später als Voltaire. Von ihm stammt auch das Lieblings-Bonmot eines fröhlichen Atheismus:

"Die einzige Entschuldigung für Gott ist - dass es ihn nicht gibt."

Aber Voltaire hat sich mit seinem Poem über Lissabon nicht nur Freunde gemacht. Er hat auch Gegner auf den Plan gerufen. Einer davon war früher einmal ein Freund, oder wenigstens ein guter Bekannter: Jean-Jacques Rousseau. Dem hatte Voltaire seinen Text persönlich zugesandt - und als Antwort einen langen, bösen Brief bekommen:

"Täuschen Sie sich nicht darin, mein Herr! Es entsteht das Gegenteil von dem, was Sie sich vornehmen. - Dieser Optimismus, den Sie so grausam finden, tröstet mich doch in eben dem Leiden, das Sie mir als unerträglich darstellen."

Rousseau ist verstimmt: Voltaire habe mit dem Gedicht seinen Glauben verletzt. Und was er ihm besonders übel nimmt, ist ein Mangel an intellektueller Redlichkeit gegenüber einem großen Philosophen des Jahrhunderts. Die Rede ist von Gottfried Wilhelm Leibniz und seiner "Theodizee", einer Schrift - so heißt es im Untertitel - "Über Gott, die menschliche Freiheit und das Übel in der Welt":

Rainer Enskat: "Also, man darf wohl relativ sicher sein, dass Voltaire sowohl angesichts seines Dilettierens in der Philosophie angesichts seiner schwer zu bezähmenden Neigung zum Spott nicht viel Federlesens mit den sehr tiefgründigen Arbeiten von Leibniz gemacht hat."

F. Voltaire, "Gedicht über das Erdbeben von Lissabon":
Leibniz erklärt mir nicht, warum Unschuldige wie Schuldige das Übel erleiden müssen.

beklagt sich Voltaire. - Das hat sich Hiob auch schon gefragt, das kann kein Mensch erklären, meint Rousseau. Und das hat Leibniz auch nicht versucht:

Rainer Enskat: "Das Hauptanliegen, das Leibniz eigentlich während seines ganzen wissenschaftlichen und philosophischen Lebens verfolgt hat, war, davon zu überzeugen, dass die Welt im Ganzen, so wie sie von ihrem von ihm geglaubten Schöpfer geschaffen war, die beste aller möglichen war."

Leibniz hatte die Schöpfung als Ganze für gut befunden. Voltaire dagegen wettert gegen die Philosophen, die schreien "Alles ist gut". Das hat Leibniz nie behauptet:

Rainer Enskat: " Er macht darauf aufmerksam, dass man den Dingen dieser Welt und der Welt im Ganzen gewissermaßen nicht mit dem bloßen Auge ansehen kann, dass sie gut und schön und richtig sind, man muss darüber nachdenken, unter welchem Gesichtspunkt sie schön und gut und richtig sind!"

Denn was vom Standpunkt der Ewigkeit, des Universums gut und richtig, weil naturnotwendig ist, das ist vom Standpunkt des einzelnen Menschen betrachtet, oft hart und manchmal sogar grausam. Das hat "Lissabon" gezeigt:

Immanuel Kant: "Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres": "Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten. - Der Mensch ist nicht geboren, um auf der irdischen Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. - Alle diese Verheerungen scheinen uns zu erinnern, dass die Güter der Erde unserem Triebe zur Glückseligkeit keine Genugtuung verschaffen können."
Das schreibt Immanuel Kant. Auch ihn hat die Tragödie von Lissabon zu einem philosophischen Text herausgefordert, und genau wie Rousseau votiert er "pro Leibniz und contra Voltaire".

Aber was ist das eigentlich für ein Gott, von dem hier die ganze Zeit die Rede ist? Zuerst "ordnet dieser Gott die Naturgesetze an" - so hatte es ja Kant ja formuliert. Dann schafft er den Menschen, laut Bibel "nach seinem Bilde", und dann liefert er diesen Menschen den Launen einer übermächtigen Natur aus?

Friedrich Nietzsche: "Der Wille zur Macht": "Soll das etwa der Gott der Liebe sein? Den Christen anbeten als "Vater unser im Himmel? "

Das ist absurd, meint - Friedrich Nietzsche. Und rollt Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion wieder auf. Da hatte Voltaire wohl doch den Finger tief in eine Wunde gegraben. In eine theologische Wunde. Die zu heilen, ist nicht schwer, schreibt Nietzsche:

"Entfernen wir doch die höchste Güte aus dem Begriff Gottes! - sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir die höchste Weisheit - es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheitsmonstrums von Gott verschuldet hat - Nein! Gott ist die höchste Macht - das genügt. Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt - die Welt."

Haben Christen solchen Argumenten etwas entgegenzusetzen? Allenfalls das Argument, dass man die Liebe Gottes nicht beweisen kann, denn das Christentum ist kein System des Wissens, sondern ein Glauben, sprich: ein tiefes Gefühl. Das Gefühl der Geborgenheit in Gott, das Nietzsche offensichtlich nicht gekannt hat. Ein Urvertrauen, das den Menschen trägt, auch angesichts von Leiden und von Katastrophen, die ihm am Ende unbegreiflich bleiben. Der Theologe Hans Küng in einem Text aus dem Jahre 1978:

Hans Küng, "Existiert Gott?": "Warum gibt es sinnloses Leid? Diese Frage zählt zu den ältesten der Theologie: Und eine befriedigende Antwort gibt es nicht. Der streitbare Theologe und Philosoph plädiert für eine Kultur des Schweigens - und für eine trotzige Hoffnung auf Jesus."

Neben der Frage "Was hat Gott mit dem Erdbeben von Lissabon zu schaffen?" taucht damals noch eine zweite auf. Hat vielleicht auch die Lebensweise in dieser großen und modernen Stadt Lissabon etwas zu tun mit dieser Katastrophe? Trifft den Menschen also ein gewisses Maß an Schuld? Nicht für das Beben selbst natürlich, aber für die ungeheure Zahl der Opfer? Es ist Jean-Jacques Rousseau, der damals ein vollkommen neues Argument in die Diskussionsrunde wirft. Es findet sich in dem schon erwähnten Brief an Voltaire:

J. J. Rousseau, Brief an Voltaire vom 18. August 1756: "Ohne Ihren Gegenstand von Lissabon zu verlassen: Gestehen Sie mir, dass nicht die Natur zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken zusammengebaut hatte! - Und dass, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, so würde die Verheerung weit geringer, und vielleicht gar nicht geschehen sein."

Ganz ähnlich wie sein Philosophen-Kollege Rousseau denkt auch Immanuel Kant:

Kant, "Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres":
"Die Einwohner in Peru zum Beispiel wohnen in Häusern, die nur in geringer Höhe gemauert sind, und das übrige besteht aus Rohr. - Der Mensch muss sich in die Natur schicken lernen - aber er will, dass sie sich in ihn schicken soll!""
Der Mensch muss lernen, sich wieder "in die Natur zu schicken". Diesen Gedanken hat Kant von Rousseau geerbt. Eine Idee, die in Frankreich zuerst einmal gründlich missverstanden und sogar verlacht worden ist. - Voltaire hatte dafür gesorgt. Mit einem offenen Brief an Rousseau, nachdem dessen "Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen" erschienen war. In diesem Brief heißt es:

"Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen die menschliche Gattung erhalten. - Niemand hat es mit mehr Geist unternommen, uns zu Tieren zu machen als Sie! Das Lesen Ihres Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen Vieren herumzulaufen. Da ich jedoch diese Beschäftigung vor einigen sechzig Jahren aufgegeben habe, fühle ich mich unglücklicherweise nicht in der Lage, sie wieder aufzunehmen. "

Rainer Enskat: "Das sind alles natürlich Karikaturen. Ich vermute, dass diese Karikaturen damit zusammenhängen, dass die ehemaligen Freunde und auch die ständigen Gegner von Rousseau gemerkt haben, dass Rousseau in einem ganz bestimmten Punkt ihnen in einer entscheidenden Hinsicht überlegen war."

Denn Rousseau besaß die Kraft zur Vision. Er hat im 18. Jahrhundert jene Grundsatzfragen aufgeworfen, die heute die "grüne Bewegung" beschäftigen, und der einzige Zeitgenosse, der Rousseau wirklich kongenial verstanden hat, das war keiner seiner Denker-Kollegen aus Frankreich, das war Immanuel Kant:

Rainer Enskat: "Kant hat Rousseaus Auffassung von der Rolle der Natur auf die Formel gebracht: Rousseaus Meinung sei nicht, wir sollten zur Natur zurückkehren, sondern wir sollten auf die Natur zurückblicken! Um uns durch das Studium der Natur darüber zu belehren, was in unserem Verhalten naturgemäß ist und was nicht. Das bedeutet nicht, dass wir zurückkehren sollen auf das Niveau der Tiere oder der Wilden. Es, bedeutet nur, dass der Blick auf die biologische, die chemische und Ordnung der Natur eine wesentliche Information für die Menschen bieten kann, um sich in der Natur, in der sie nun einmal leben, in angemessener Weise einzurichten."

"Sich in die Natur schicken": das heißt für jeden Menschen, sich damit abzufinden, dass er erstens nicht der "Nabel des Universums" und zweitens sterblich ist: so vergänglich eben, wie alle Dinge in der Natur. Das einzusehen, scheint dem Erdenbürger generell schwer zu fallen, schreibt Kant nach dem Erdbeben von Lissabon:

"Als Menschen, die geboren werden, um zu sterben, können wir es nicht vertragen, dass einige im Erdbeben gestorben sind. Und als die, die wir Fremdlinge sind auf der Erde und kein Eigentum besitzen, sind wir untröstlich, dass Güter verloren wurden, die in kurzem durch den allgemeinen Weg der Natur von selbst wären verloren gegangen. "

Sich "in die Natur schicken", das bedeutet für den Menschen auch, sich seiner eigenen Natur gemäß zu verhalten und mit der natürlichen Umwelt in Frieden und Partnerschaft zu leben. - Der moderne Menschen dagegen schwingt sich allmählich auf zum "Herrn der Erde".

"Wehret den Anfängen!", fordert Rousseau, wir müssen lernen, anders zu denken:

J.J. Rousseau, "Emil oder über die Erziehung": "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt. Alles entartet unter den Händen des Menschen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht!"

Wenn sich heute eine Katastrophen-Meldung durch die Medien verbreitet: Welche Diskussionen werden da geführt? Löst das Beben von Islamabad anno 2005 etwa die gleichen Fragen aus wie das von Lissabon anno 1755?

Ja und nein. Zuerst einmal: Nein. Denn inzwischen hat die Politik eindeutig Vorfahrt gegenüber der Metaphysik. Zuerst wird nicht über den Grund und die höhere Bedeutung der Katastrophe sinniert, sondern über die praktischen Möglichkeiten, wenigstens ihr Ausmaß zu begrenzen:

Nachrichten MDR-Fernsehen vom 08.Oktober 2005: "Bis in die späten Nachstunden dauern in Pakistans Hauptstadt Islamabad die Aufräumarbeiten. Meter um Meter beräumen Trupps mit schwerer Technik Stahl und Beton eines eingestürzten Wohnhauses im Sektor Nummer zehn. Ein paar Meter weiter haben sich islamische Stiftungen am Straßenrand niedergelassen, die kostenlos Wasser und Nahrung reichen oder bei Bedarf Angehörigen von Opfern auch Beistand geben."

heißt es in den Fernsehnachrichten unmittelbar nach dem jüngsten Beben in Südasien. Ein paar Tage später greifen dann die Zeitungen die alten, großen Fragen wieder auf. "Kant gegen Voltaire" - diese Kontroverse wird auch heute gern genommen, wenn es darum geht, ein Erdbeben zu kommentieren. Zuletzt geschehen in einer Ausgabe der "Zeit" vom Dezember 2003:

"Wie kalt räsoniert Immanuel Kant zu diesem Thema! "

heißt es dort. Und doch lässt sich der Autor Gero von Randow durch Kant überzeugen:

"Erdbeben zeigen, dass es Mächtigeres gibt als den Menschen, sie führen ihm seine Verletzlichkeit vor Augen. - Doch so fragil das einzelne Leben ist, so unverwüstlich erscheint doch die Gattung: neu aufgebaut hat der Mensch noch jedes Mal."

Das einzige, was der Zuschauer angesichts der Katastrophen tun kann: Sich mit all seiner Vorstellungskraft in die Lage der Opfer versetzen. Und, so gut es eben geht, seinen geschundenen Mitmenschen Hilfe leisten. Das hatte Kant anno 1755 schon gefordert, und Gero von Randow tut es ihm gleich:

"Heutzutage trägt das Fernsehen dazu bei, unser Mitgefühl zu wecken. Der Mensch zeigt seine Sorge um den Mitmenschen, gleichgültig, ob der irgendwie anders aussieht, spricht, heißt oder betet. Der Altruismus gehört eben doch zur Innenausstattung. Nur deswegen kann man überhaupt den Egoismus beklagen. "

Und wie wird das Thema "Verantwortung" diskutiert angesichts der großen Katastrophen der Gegenwart?

"Wo war Gott?" titelte die "Bild"-Zeitung im letzten Jahr, als der Tsunami die Küsten Indonesiens überrollte. Das klingt ja fast wie bei Voltaire! Aber eine metaphysische Diskussion war da wohl nicht beabsichtigt. Immerhin: den Theologen hat man in jenen Tagen genau diese Frage gestellt, und der evangelische Bischof Wolfgang Huber äußerte sich wie folgt:

Wolfgang Huber, "bild-online": "Gott zeigt sich in der Liebe, mit der er sich uns Menschen zuwendet, damit wir uns auch angesichts des Unbegreiflichen an ihr orientieren. Trotz unserer Kenntnisse der Natur und trotz unserer Möglichkeiten, sie uns dienstbar zu machen, drängt uns dieses Erleben wieder zu einer Haltung der Demut."

Die theologischen Diskussionen kreisen bis heute um genau jene Probleme, die Leibniz aufgeworfen hat mit seiner "Theodizee", da gibt es nicht viel Neues unter der Sonne. Aber in unseren Zeiten wird höchstens noch am Rande über Gott und seine "unerforschlichen Ratschlüsse" debattiert. Immer öfter dagegen taucht die Frage auf, die Rousseau angesichts der Trümmer von Lissabon aufgeworfen hat: Welchen Anteil hat der Mensch an den großen Tragödien der Moderne? Seine Lebensweise, sein Umgang mit der Natur, mit Wissenschaft und Technik?

Rainer Enskat: "Rousseau ist alles andere als eine wissenschaftspolitische Kassandra gewesen oder eine bildungspolitische, sondern er ist vielleicht der wichtigste Autor des 18. Jahrhunderts. Weil er als einziger von Anfang an darauf gedrungen hat, dass es darauf ankommt, von der Wissenschaft und von der Technik einen guten Gebrauch zu machen, aber sich nicht im blinden Enthusiasmus, der oft allzu naiv ist, in den technischen Gebrauch der Wissenschaft zu stürzen. Denn was dieser Enthusiasmus im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts über uns gebracht hat, das haben wir inzwischen zur Genüge erfahren. Es hat seitdem immer mehr Unfälle, Pannen, Katastrophen gegeben, die menschengemacht, die hausgemacht sind. Und in diesem Maße wächst uns die Versuchung immer mehr zu, uns wechselseitig schuldig zu machen für diese Arten von Katastrophen. "

Rousseau war ein Denker, der jene "Dialektik der Aufklärung" offensichtlich schon geahnt hat, die Adorno und Horkheimer dann ausführlich beschrieben haben in ihrem Klassiker aus dem Jahre 1947:

M. Horkheimer / T.W. Adorno "Dialektik der Aufklärung": "Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. - Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils."

Das Zeitalter der Aufklärung war ursprünglich angetreten, die Vernunft an die Stelle des Glaubens zu setzen und den Menschen an die Stelle Gottes. Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik wollte der selbstbewusste Bürger sich zum Herrn der Erde aufschwingen.

Zwei Jahrhunderte und zwei Weltkriege später hat sich herausgestellt: Rousseau hat recht gehabt, die Wissenschaft ist ein zweischneidiges Schwert. Ihr Gebrauch hat zweifellos einigen Segen über die Menschen gebracht. Aber eben auch Leiden, und zwar in einem schier unerträglichen Maß.

"Durch den Menschen, durch die Wissenschaften, hat die Natur sich selbst gestört. Diese Möglichkeit der Störung liegt schon immer im Wissen und im freien Willen des Menschen, aber ihre Wirklichkeit reifte langsam - und war dann plötzlich da. In diesem Jahrhundert ist der lange vorbereitete Punkt erreicht worden, wo die Gefahr offenbar und kritisch wird."

schreibt der Philosoph Hans Jonas im Jahre 1979. "Das Prinzip Verantwortung", so lautet der Titel seines Werkes über die zunehmende Selbstbedrohung des Menschen, der seine natürliche Umwelt entstellt und vergiftet. Das Buch ist ein Bestseller geworden - und das Manifest der "grünen", ökologischen Bewegung.

1986. Von nun an leben wir in der "Risikogesellschaft". Das Wort hat Ulrich Beck erfunden. Es ist der Titel eines Werkes, das ebenfalls zum Bestseller wird, weil es kurz nach einer schweren Katastrophe auf den Markt kommt. "Tschernobyl" bewegt noch die Gemüter. Ulrich Beck nimmt kein Blatt vor den Mund. Das "Prinzip Hoffnung" ist seine Sache nicht, eher schon die Apokalypse. Beck ist der Prophet einer Bedrohung, die lautlos alle Grenzen überschreitet:

"Gefahren werden zu blinden Passagieren unseres Normalkonsums. Sie reisen mit dem Wind und mit dem Wasser, passieren mit der Atemluft, der Nahrung, der Kleidung alle sonst so streng kontrollierten Schutzzonen der Moderne. Hier offenbart sich das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit einer hoch zivilisierten Welt, die Stacheldraht und Mauer, Militär und Polizei aufgeboten hat, um ihre Grenzen zu schützen. Eine ungünstige Drehung des Windes, auch noch Regen - so ein Pech! - und die Vergeblichkeit nimmt ihren Lauf."
Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar
Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar© AP
Immanuel Kant
Immanuel Kant© AP
Helfer bergen Erdbebenopfer
Helfer bergen Erdbebenopfer.© AP
Der Philosoph Theodor W. Adorno auf einem Archivbild vom 10. Sept. 1968
Der Philosoph Theodor W. Adorno auf einem Archivbild vom 10. Sept. 1968.© AP Archiv