Tod beim Lesen im Koran

Von Raschid Bockemühl · 17.06.2006
Der Kalif Osman ibn Affan leistete mit der Zusammenfassung des Korans zu einem Buch einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung des Islams. Bis dahin waren die Offenbarungen des Propheten Muhammad nur auf verstreuten Blättern und Notizen oder mündlich weitergegeben worden. Vor 1350 Jahren wurde der dritte Kalif Opfer des ersten politischen Mordes in der islamischen Geschichte.
"Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts."

Mit diesen Worten beginnt die erste Sure des Korans. Aber dass gerade sie am Anfang des islamischen Offenbarungsbuches stehen würde, ja dass ihr Text überhaupt für die Nachwelt aufbewahrt werden konnte, ist dem Kalifen Osman ibn Affan zu verdanken, dem dritten Nachfolger des Propheten Muhammad. Erst Osman ließ aus dem Koran ein Buch im heutigen Sinne machen – gut 20 Jahre nach dem Tod des Propheten.

Die göttlichen Offenbarungen, die Muhammad über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten verkündet hatte, waren nur in verstreuten Notizen festgehalten, oft auch gar nicht aufgezeichnet, sondern nur mündlich rezitiert und memoriert worden, noch dazu in verschiedenen Lesarten mit zum Teil abweichendem Wortlaut. Aber je mehr sich die neue Religion Islam zu konsolidieren begann, desto dringender wurde die Einigung auf einen verbindlichen Text. Erst dann konnte man von einer echten Offenbarungsschrift sprechen, wie die Juden von der Thora und die Christen vom Evangelium. Vor allem wegen dieser, für die Identität und den Zusammenhalt der Muslime wichtigen Leistung hat sich Osman einen festen Platz in der islamischen Geschichte erworben.
"Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir um Hilfe.
Leite uns den rechten Weg,
den Weg derer, denen Du gnädig bist,
nicht derer, denen Du zürnst,
und nicht den der Irrenden."

Osman war ein reicher, hoch angesehener Tuchhändler aus Mekka, dessen Karawanen bis nach Syrien zogen. Er hatte zu den allerersten gehört, die sich dem Islam anschlossen. Der Prophet hatte ihm zwei seiner Töchter zu Frauen gegeben. All dies waren beste Voraussetzungen, um 644 in Medina nach dem Tode des Kalifen Omar zu dessen Nachfolger ernannt zu werden.

Das junge islamische Reich expandierte. Aber mit der Expansion nahmen auch die inneren Spannungen und Konflikte zu, für die viele Osman verantwortlich machten. Man kritisierte seine ungerechte Verteilung der Kriegsbeute und seine Vetternwirtschaft: Die meisten wichtigen Posten hatte er mit Mitgliedern seines eigenen Clans besetzt. Viele Muslime fühlten sich an eine Vorhersage des Propheten erinnert:

"Alle Ehre gebührt Allah! Welch großen Reichtum hat er meinem Volk beschert! Und welcher Unfriede ist durch diesen Reichtum im Volk entstanden!"

Der Unmut der Kritiker begann sich zu regelrechtem Widerstand zu steigern. In einzelnen Provinzen meuterten die Soldaten. Aus Ägypten marschierte eine Truppe in Richtung Medina, um die direkte Konfrontation mit dem Kalifen zu suchen. Zwar hatte der Koran vorgeschrieben:

"Kein Gläubiger darf einen anderen Gläubigen töten. Die Gläubigen sind doch Brüder! Darum stiftet Frieden unter euren Brüdern!"

Aber die Männer waren zum Äußersten entschlossen und begannen, Osmans Haus zu belagern. Ali, Osmans späterer Nachfolger, stellte sie zur Rede:

"Männer, so etwas tut kein Muslim, nicht einmal ein Ungläubiger. Warum verweigert ihr Osman Essen und Trinken? Selbst die Perser und die Byzantiner geben ihren Gefangenen Nahrung und Wasser."

Ali und seine Gefährten boten Osman an, für ihn zu kämpfen. Aber Osman lehnte ihre Hilfe mit den Worten ab, er wolle nicht, dass Blut von Muslimen vergossen werde, um seinen Kopf zu retten.

Die Rebellen ließen sich nicht mehr zurückhalten. Am 17. Juni 656 drangen sie in Osmans Gemächer ein, wo er, ein Mann von 80 Jahren, über den Koran gebeugt, von ihnen erschlagen wurde - der erste politische Mord in der islamischen Geschichte.

Ali wurde kurz darauf zum vierten Kalifen gewählt. Aber fünf Jahre später wurde auch er ermordet – nicht von Ungläubigen, sondern von anderen Muslimen. So schien sich die böse Vorahnung des Propheten Muhammad zu bewahrheiten:

"Wenn meine Nachfolger sich erst einmal untereinander mit dem Schwert bekämpfen, wird das so bleiben bis zum Jüngsten Tag."