"Tja, was genau ist Dirigieren?"

Dirigent Paavo Järvi: "Ich mag es, wenn Musiker mitdenken, auch mal widersprechen, eine klare Meinung haben."
Dirigent Paavo Järvi: "Ich mag es, wenn Musiker mitdenken, auch mal widersprechen, eine klare Meinung haben." © picture-alliance / dpa / Ingo Wagner
Moderation: Holger Hettinger · 28.12.2012
Paavo Järvi gilt als einer der erfolgreichsten Dirigenten in der internationalen Musikwelt und verfügt über reichlich interkulturelle musikalische Erfahrung. In den USA werde selten hinterfragt, was der Dirigent vorgebe, sagt er. In Deutschland hingegen forderten die Orchester den Dirigenten regelrecht heraus.
Holger Hettinger: Paavo Järvi, Sie kommen aus einer extrem musikalischen Familie. Ihr Vater ist der berühmte Dirigent Neeme Järvi, Ihr Onkel war Kapellmeister an der Oper Tallinn. Als Sie ein kleiner Junge waren, was konnten Sie zuerst – laufen oder dirigieren?

Paavo Järvi: Nun, ich glaube, es muss das Laufen gewesen sein. Aber wissen Sie, wenn man in einer Musikerfamilie aufwächst mit einem Dirigenten als Vater, dann ist man buchstäblich umgeben von Musik. Ich habe Konzerte besucht, Opern, Proben, und auch zu Hause lief ständig Musik. Und irgendwann, da war ich so drei oder vier Jahre alt, war ich mir sicher: Ich werde einmal Dirigent, und zwar, weil mein Vater diesen Beruf hatte. Ich hatte keine Ahnung, was genau man da machen muss, aber es sah so aus, als würde es eine Menge Spaß machen.

Hettinger: Sie haben dann in Tallinn Musik studiert, haben Schlagzeug studiert und haben – für eine kurze Zeit nur, aber immerhin – in einer Band gespielt, gemeinsam mit dem Komponisten Erkki-Sven Tüürs. Also nun ist ja Rockmusik machen etwas ganz, ganz anderes als klassische Musik, da kommt es ja viel mehr auf Groove an, auf das richtige Gefühl, auf Timing. Hat diese Erfahrung Auswirkungen auf Ihre heutige Musizierpraxis?

Järvi: Ich glaube, Sie wären überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten es da gibt. Gut, in jungen Jahren, da habe ich Klavier geübt, auch ein wenig Geige, ich habe im Knabenchor gesungen, viel Musik gemacht, Schlagzeug gespielt. Rockmusik war dagegen ein einziger großer Spaß – das musste ich natürlich ausprobieren. Ich glaube aber, am Ende unterscheiden sich Rockmusik und Klassik gar nicht so sehr voneinander. Natürlich gibt es Unterschiede, aber gemeinsam zu musizieren, das stellt ähnliche Anforderungen, egal in welcher Konfiguration.

Hettinger: Sie sind im Jahr 1980 in die USA gezogen, waren dann ab 2001 Chef des Cincinnati Sinfony Orchestra. Auch in Deutschland haben Sie viel gearbeitet, mit dem HR-Sinfonieorchester, dessen Chefdirigent Sie sind, Sie sind der künstlerische Leiter der Kammerphilharmonie Bremen. Nun kennen Sie beide Systeme, das amerikanische und das deutsche. Wo sind die Gemeinsamkeiten, wo sind die Unterschiede?

Järvi: Es gibt gleichermaßen Unterschiede wie Gemeinsamkeiten, mit den Unterschieden meine ich noch nicht einmal solche Sachen wie Mentalitätsunterschiede zwischen Amerikanern und Deutschen. Die Art zu spielen ist ganz anders. Dann ist das Verhältnis zur historischen Aufführungspraxis komplett unterschiedlich – da ist Europa einfach weiter. Entfernungen sind geringer in Europa, dadurch ist der Austausch einfacher. Natürlich haben auch amerikanische Orchester wunderbare Eigenheiten: Der technische Standard ist sehr hoch, die klangliche Geschlossenheit ist enorm, aber auch die Geschwindigkeit, mit der die Musiker neue Stücke lernen. Auf der anderen Seite: Die beiden Orchester, die ich in Deutschland dirigiere, hinterfragen sehr stark, was sie da spielen müssen und wie sie es spielen müssen. Amerikanische Orchester sind da anders, die folgen viel bereitwilliger und machen ziemlich genau das, was man als Dirigent vorgibt.

Hier hingegen fordern die Orchester einen regelrecht heraus, wenn sie etwas nicht einsehen, weil hier jeder ermutigt wird, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Das gefällt mir ehrlich gesagt besser. Ich mag es, wenn Musiker mitdenken, auch mal widersprechen, eine klare Meinung haben. Es gibt so viele kluge Musiker im Orchester, da wäre es doch dumm, dieses Wissen zu ignorieren.

In Amerika ist es hierarchischer, aber um Unterschiede festzustellen, muss man gar nicht nach Amerika blicken. Sehen Sie sich die beiden Orchester an, die ich hier in Deutschland leite, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und das HR-Sinfonieorchester. Die könnten ebenfalls unterschiedlicher nicht sein. Das eine ist ein selbstverwaltetes Ensemble in der Größe eines Kammerorchesters, das andere ist ein großes Sinfonieorchester, das jede Woche ein anderes Programm spielt, das sich jede Woche mit einem anderen musikalischen Stil auseinandersetzen muss, vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik und allem, was es dazwischen gibt. Jedes dieser Gebilde hat ein ganz spezifisches Innenleben, eine bestimmte Kultur. Das dritte Orchester, das ich in Europa leite, das Orchestre de Paris, ist noch mal eine ganz andere Welt. Da begegne ich der französischen Art, die Dinge, die Welt und die Musik zu sehen. Und das ist eine vollkommen andere Oper.

Hettinger: Als Sie den Paul-Hindemith-Preis der Stadt Hanau bekommen haben, da hat der Laudator, der Komponist Jörg Widmann, den Beruf des Dirigenten verglichen mit jemandem, der einen Stadtplan besitzt, und der anderen Leuten die interessanten, die markanten, die bemerkenswerten Punkte einer Stadt zeigt. Stimmen Sie Jörg Widmann zu in dieser Beschreibung?

Järvi: Ja, auf der einen Seite ist das so. Das war ein sehr schönes Bild, das Jörg Widmann in dieser Rede gezeichnet hat. Wissen Sie, es ist furchtbar kompliziert, zu erklären, was ein Dirigent eigentlich tut. Wenn es einfacher wäre, zu erklären, was einen guten Dirigenten ausmacht, gäbe es mehr davon. Es ist viel einfacher, Kriterien für einen guten Instrumentalisten festzuschreiben, für einen Geiger oder Pianisten beispielsweise. Für die gibt es handfeste Faktoren, die man einschätzen kann.

Man kann die Sauberkeit des Spiels hören, man kann die Musikalität hören, das technische Vermögen, die Qualität des Tons. Das Paradoxe daran ist: Wir als Dirigenten erzeugen keinen einzigen Ton, und doch klingt das Orchester immer anders, je nachdem, wer dirigiert. Nun haben auch Dirigenten eine Schlagtechnik. Da gibt es Dirigenten, die diese Schlagtechnik virtuos beherrschen – und trotzdem klingt das Orchester nicht gut. Und dann gibt es andere, die so gut wie keine Schlagtechnik haben, aber dafür irgendetwas anderes, was die Aufmerksamkeit der Musiker erweckt und ihre Vorstellungskraft anregt. Und das Orchester musiziert ungeachtet der Frage, ob es nun leicht oder schwer ist, den Vorgaben des Dirigenten zu folgen. Tja, was genau ist Dirigieren? Wer weiß?

Hettinger: Paavo Järvi, ich habe mich auf dieses Gespräch mit Ihnen vorbereitet, indem ich unter anderem diese Box mit Beethoven-Sinfonien hervorgezogen habe, die Sie zusammen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen aufgenommen haben. Das war sehr interessant, weil ich habe mich entscheiden müssen: Welche Sinfonie höre ich denn zuerst? Ich dachte, na, vielleicht eher was Seltenes, die zweite oder die siebte. Aber ich habe mich dann doch für die fünfte und für die neunte entschieden, also eigentlich so die berühmtesten, die großen, die, ja, jetzt negativ formuliert, die schier totgespielten, und ich habe mich gewundert, denn es wirkte auf mich so, als hätte ich wirklich eine ganz neue Sicht auf diese wohlbekannten Sinfonien, als würde ich dieser Musik zum ersten Mal begegnen. Was ist der Interpretationsansatz?

Järvi: Um zu erklären, was es mit diesem Beethoven-Zyklus auf sich hat, muss ich ein wenig ausholen. Mit diesem Orchester, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, arbeite ich seit 15 Jahren zusammen. Unser erstes gemeinsames Konzert war ein Open-Air-Konzert in einem Park, "Sommer in Lesmona" hieß es. Klingt lieblich – aber es hat die ganze Zeit geregnet. Und trotz dieser frustrierenden Rahmenbedingungen habe ich gemerkt: Da sitzt ein Orchester vor mir, das die Musik wirklich hört und das die Bereitschaft und die Begeisterung hat, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Musik zum Klingen zu bringen. Und während das Orchester so vor mir saß, ist mir klar geworden: Wenn ich jemals eine Aufnahme von Beethoven-Sinfonien mache, dann mit diesem Orchester. Zu diesen Aufnahmen kam es dann erst zehn Jahre später.

Das Merkwürdige an diesem Beethoven-Projekt ist: Ich bin aufgewachsen in einer Dirigentenfamilie, wir haben die Einspielungen von allen großen Dirigenten gehört, Furtwängler, Karajan, Bruno Walter, Fritz Reiner – ich könnte 20 weitere Namen aufzählen. Das waren ziemlich traditionsorientierte Interpretationen, die sehr tiefgründig und ernst klangen – ein Aspekt, den Beethovens Musik absolut hergibt. Dieser Interpretationsansatz ist sehr traditionell, er kommt aus der Nach-Wagner-Zeit. Die Tiefe und Intensität der Musik hat diese Generation sehr mit dem Tempo verknüpft. Wenn etwas ernst klingen soll, muss es langsam gespielt werden. Das ist oft ein Fehler, denn Beethoven hat in seinen Partituren ganz klar vermerkt, in welchem Tempo die Musik gespielt werden soll. Da gibt es eindeutige Metronomangaben, die aber von den meisten Dirigenten ignoriert werden, weil sie Beethoven misstrauen. Die Tempi sind nämlich überwiegend ziemlich schnell.

Ich finde das alles Unfug. Beethoven war ein extrem intelligenter Mensch, der diese Tempoangaben aus einem bestimmten Grund notiert hat. Er wollte nämlich, dass die Interpreten in dem Tempo spielen, das er sich vorgestellt hat. Wir haben unserer Einspielung die Neuausgabe der Beethoven-Sinfonien zugrunde gelegt und haben enormen Wert gelegt auf die präzise Artikulation. Wir haben über jeden Punkt und jeden Bogen in der Partitur nachgedacht. Wir haben die Größe des Orchesters der Besetzung angepasst, die Beethoven damals zur Verfügung hatte. Wir haben die einzelnen Instrumente so ausgesucht, dass sie dem Klang der Originalinstrumente nahekommen. Wir benutzen Naturtrompeten ohne die modernen Ventile. Wir haben also so viele Informationen wie möglich gesammelt, wie es damals hätte sein können.

Als wir dann all diese neuen Aspekte verinnerlicht hatten, da habe ich beschlossen, das alles aus meinem Kopf zu verbannen und stattdessen die Interpretationsideen einzubeziehen, die ich von den traditionell romantischen Aufführungen her kannte, denn Furtwänglers Einspielungen sind ja nicht verkehrt, vieles ist wirklich fantastisch. Was wir machen wollten, war: Wir wollten das Beste aus den beiden Interpretationswelten in unserer Einspielung vereinen. Die Hörerfahrung mit den ganzen legendären Einspielungen, damals als Kind gemeinsam mit meinem Vater, das kam mir sehr zugute, und es hat sich auch sehr gut mit der Gegenwart verbunden. Man kann nichts, was in den letzten 30, 40 Jahren passiert ist, einfach ausschließen mit der Behauptung, es sei nicht wertvoll. Man muss es integrieren. Und das Privileg eines Interpreten heutzutage liegt darin, dass man eine Entscheidung darüber treffen kann, was man davon berücksichtigt und was nicht. Unsere Annäherung an diese Musik war also nicht akademisch-theoretisch, sondern organisch, und aus dem Bedürfnis heraus entwickelt, so dicht wie möglich zum Notentext vorzudringen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.