Titiou Lecoq: "Die Theorie vom Marmeladenbrot"

Als das Netz die Unschuld verlor

Ein Mann hält seine Hand vor einen Glasfaserkabel-Verteilerpunkt in Neumünster.
Das Internet steht nicht nur für Kommunikation und Information. © dpa / picture alliance / Daniel Reinhardt
Von Vera Linß · 26.05.2016
Der Roman "Die Theorie vom Marmeladenbrot" der französischen Bloggerin Titiou Lecoq ist eine Zeitreise in die Anfangstage des Web 2.0. Es geht um digitale Freiheitsräume, Pornografie und Freundschaft. Das Buch hat Charme, kommt aber manchmal etwas didaktisch daher.
Wofür steht – ganz nüchtern betrachtet – das Internet? Für den hehren Wunsch nach Austausch, nach demokratischer Mitbestimmung oder etwa die Suche nach aktuellen News? Schöne Illusion. In den Augen vieler steht das Internet für Pornografie. Die sorgte jedenfalls bis zum Beginn dieses Jahrtausends für den meisten Traffic im Netz. Kein Zufall also, dass sich Marianne, Christophe und Paul im Jahre 2006 über die frisch geschaffene Website "Youporn" kennen lernen. Alle drei sind so genannte early adopter des Internets und gescheiterte Existenzen, die es – in einer Mischung aus Technikinteresse und persönlicher Krise – ins Netz treibt.
Christophe ist ein Nachrichtenjunkie um die 30, der vom häuslichen Sofa aus für die journalistische Plattform "Vox" schreibt, sich damit aber kaum über Wasser halten kann. Marianne, eine Mittzwanzigerin, betreibt unter Pseudonym einen Sexblog und jobbt nebenbei für kleines Geld. Und der 19-jährige Hacker Paul hängt am finanziellen Tropf seiner Eltern, die ihn dermaßen nerven, dass er seinen Alltag quasi komplett in die virtuelle Welt verlegt hat. Ihre Wege kreuzen sich, als der Ex-Freund von Marianne ein Video auf "Youporn" hoch lädt, das beide beim Sex zeigt. Christophe soll über den Coup auf "Vox" berichten, um endlich Klickzahlen zu generieren, doch als er Marianne deswegen ausfindig macht, will die nur so schnell wie möglich das Video aus dem Netz haben. Paul, den Christophe aus einem Chat kennt, soll es richten.

Mit den eigenen Erfahrungen vergleichen

Auch wenn das nur kurzzeitig gelingt, viel mehr zählt: Alle drei werden Freunde. Wie sich zeigt, sind sie Geschwister im Geiste, die das Internet zum Freiheitsraum stilisieren. Das haben sie mit Titiou Lecoq gemeinsam, die 2006 ebenfalls Mitte 20 war und seit Jahren auf "girls and geeks" über ihr Intimleben bloggt. Der größte Schocker war, als sie nach der Geburt ihres Kindes das Foto ihrer Plazenta online stellte.
So ist die nette kleine Geschichte, die Lecoq in "Die Theorie vom Marmeladenbrot" erzählt. Der Roman ist eine Zeitreise zurück in die ersten Tage des Web 2.0. Ein Rahmen, um die gescheiterten Internet-Utopien von damals noch einmal durchzudeklinieren. Auch die drei Freunde wollen im Netz "Verrücktes" tun. Paul etwa gründet einen dubiosen Service für Penisvergrößerungen, um endlich mal Geld zu machen. Christophe sucht nach Geschäftsmodellen für digitalen Journalismus. Sie wollen Selbstverwirklichung, ihre eigenen Gesetze schreiben – und merken langsam, dass dies auch im Internet nicht so einfach gehen wird, denn längst ist es dabei, von Regierungen und Großunternehmen reguliert zu werden.
Manchmal kommt Titiou Lecoqs Roman etwas didaktisch daher. Etwa, wenn die drei über die Gefahren von Big Data und Überwachung diskutieren oder wenn Paul das John Perry Barlows "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" zitiert. Charme hat das aber trotzdem. Zumal man mit den eigenen Erfahrungen vergleichen kann. Neun Jahre später, quasi im Internet von heute angekommen, resümiert Paul enttäuscht, dass Bits und Bytes es nicht geschafft hätten, "die Welt zu verbessern". Und das ist die Botschaft von Titiou Lecoq. Nicht mehr und nicht weniger.

Titiou Lecoq: Die Theorie vom Marmeladenbrot. Roman
Aus dem Französischen von Stefanie Schäfer
Ullstein Verlag, Berlin 2016
364 Seiten, 16,99 Euro

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