Tierforschung

Wölfen auf der Spur

Ein Wolf blickt aus seinem Gehege im Wildpark Eekholt, Schleswig-Holstein, den Fotografen an.
Ein Wolf im Wildpark Eekholt, Schleswig-Holstein. © dpa / picture alliance / Carsten Rehder
Von Lutz Reidt · 19.04.2014
Sie wurden von den Menschen fast ausgerottet, nun kehren die Wölfe in die Wälder Mitteleuropas zurück. Von der Lausitz aus dringen sie immer weiter nach Osten und Süden vor - bis nach Weißrussland und Norditalien.
Früh übt sich, wer mal ein großer Wolf werden will. Und wenn sechs Welpen miteinander balgen, dann geht's auch mal ruppig zu. Dreist steigt einer jetzt auf Bruder oder Schwester drauf, während ein anderer seine Zähnchen fletscht und dem Nachbarn spielerisch an die Gurgel geht. Die Elterntiere sind nicht zu sehen. Sie drehen ihre Runden im Wolfsrevier, suchen nach Beute, markieren ihr Territorium. Später kommt das Rudel hier wieder zusammen auf dem "Rendezvousplatz" - mitten im Wolfsland. Britta Habbe schaut dabei öfters zu:
"Das ist so ein leichter Hang; und in der Mitte ist ein Baumstumpf, der regelmäßig von den Elterntieren markiert wird und einmal - so schräg den Hang nach hinten rauf - geht ein Wechsel, wo wir das erste Mal die Alttiere nachweisen konnten. Wo auch regelmäßig Wild durchgelaufen ist. Und an diesem Hang spielen jetzt diese sechs Welpen und daddeln da rum."
Britta Habbe ist Biologin und erforscht für die Landesjägerschaft die Wölfe in Niedersachsen. Die weißgrauen Welpen gehören zum Rudel bei Gartow im Wendland, im nordöstlichen Zipfel von Niedersachsen, unweit der Elbe, an der Grenze zu Brandenburg und Sachsen-Anhalt.
Neben diesem Rudel hat die Biologin noch zwei weitere Wolfsfamilien im Blick, und zwar in der Lüneburger Heide, auf den Truppenübungsplätzen bei Munster und Bergen. Doch dabei wird es nicht bleiben:
"Im Landkreis Celle, im Raum Eschede, ist ein weiteres Wolfspaar nachgewiesen. Das wäre dann das vierte Rudel. Und wir haben weitere Einzelnachweise im Landkreis Cuxhaven, auch schon mehrere. Da haben wir auch ganz stark die Vermutung, dass sich da ein Tier schon längerfristig aufhält. Aber da fehlen uns noch die abschließenden genetischen Ergebnisse, um das wirklich sagen zu können."
Viele Wölfe sind genetisch identifiziert
Vermutlich ist diese Wölfin - im Fachjargon "Fähe" genannt - aus dem Rudel von Altengrabow in Sachsen-Anhalt zugewandert.
Viele Wölfe in Deutschland sind genetisch identifiziert. Das Forschungsinstitut Senckenberg im hessischen Gelnhausen führt eine Datenbank mit den Erbanlagen jedes registrierten Wolfes. Somit reichen später Fell- oder Kotproben, um die Herkunft des Tieres bestimmen zu können. Auf diese Weise fanden die Forscher zum Beispiel heraus, dass die Elterntiere des Rudels bei Bergen Geschwister sind, die ebenfalls aus Sachsen-Anhalt stammen. Also: Bruder und Schwester aus einem Wurf von 2009. Die Gefahr von Inzucht sieht Britta Habbe dabei nicht - noch nicht:
"Erst, wenn sich jetzt die Welpen von diesem Paar wieder untereinander vermehren würden; und dann die wieder in der nächsten Generation, dann würde dann irgendwann auch biologische Einschränkungen merken wie Knochendeformationen oder verringerte Wurfgrößen oder Kreislaufprobleme oder ähnliches. Aber so jetzt, in dieser ersten Generation ist das genetisch gesehen gar kein Problem. Und wenn man sich die Genetik der Wölfe in Deutschland insgesamt anguckt, so sagen da die Genetiker, dass sich häufig Cousin und Cousine zum Beispiel miteinander verpaaren, oder auch Tante und Neffe. Das ist aber auch noch weit genug voneinander entfernt, als dass man sich da Gedanken machen müsste."
Für eine Gen-Auffrischung sorgen vor allem sogenannte "Wanderwölfe" aus Polen, Sachsen oder sonst wo her, die ihr Rudel verlassen müssen. Auf der Suche nach einem geeigneten Territorium können sie an einem einzigen Tag - oder auch bei Nacht - durchaus 50 bis 70 Kilometer zurücklegen. Im Verlauf weniger Wochen entfernen sich Wanderwölfe mehr als 1000 Kilometer von ihrem Geburtsort. So ist es dann auch kein Wunder, wenn sie aus dem deutsch-polnischen Vorkommen an der Millionenmetropole Hamburg vorbei sogar bis nach Dänemark vordringen, berichtet Ulrich Wotschikowsky:
"Ja, die Dänen haben zu ihrer Riesenüberraschung und zum Teil auch zum Entsetzen inzwischen drei Wölfe. Davon kommen zwei meines Wissens aus Westpolen und einer kam aus Sachsen, also aus Deutschland. Es ist auch ein sächsischer Wolf bis nach Weißrussland gelaufen. Das ist eindeutig nachgewiesen, weil er einen Radiosender am Hals getragen hat."
Von Sachsen bis nach Weißrussland
Eine eindrucksvolle Wanderung Richtung Osten, den der bayerische Wolfsforscher Ulrich Wotschikowsky aus Oberammergau dokumentieren konnte. Nachweise kamen aus der Nähe von Danzig, später aus dem Raum Warschau. Schließlich verstummte irgendwann das Sendemodul, als der Wolf in den weiten Wäldern Weißrusslands verschwand.
Auch Deutschland ist Waldland. Einer Lebensraumanalyse des Bundesamtes für Naturschutz zufolge gäbe es hierzulande Platz für etwa 400 Rudel - das wären dann rund 2.000 erwachsene Wölfe. Gegenwärtig sind es knapp 30 Rudel - also noch nicht einmal ein Zehntel dessen, was biologisch möglich wäre.
Das Kerngebiet der heutigen Verbreitung liegt in der Lausitz, die auch früher schon von Wölfen aus Polen besucht wurde. 1998 konnte im sächsischen Teil der Lausitz das erste sesshafte Wolfspaar nachgewiesen werden, zwei Jahre später der erste Nachwuchs. Im Laufe der Jahre etablierte sich ein Rudel nach dem anderen, zunächst in Brandenburg, dann in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und seit 2012 auch in Niedersachsen.
Einfach ist es für die Tiere jedoch nicht, sich auszubreiten. Vor allem Straßen und Bahnlinien sind Todesfallen. Mehr als 30 totgefahrene Wölfe haben die Forscher bislang in Deutschland dokumentiert.
Dennoch können Autos und Lokomotiven die Ausbreitung des Wolfes nur hemmen, aber nicht mehr stoppen. Das belegt auch der Nachweis einer Fähe im Westen von Niedersachsen, und zwar im Emsland, unweit der niederländischen Grenze. Auf dem weiten Weg dorthin musste sie etliche Autobahnen und Bahnlinien über- oder auch unterqueren:
"Auf dem Schießplatz Meppen haben wir ein kurzes Fotofallenvideo von einem Wolf gehabt. Und wir konnten das Tier auch genetisch identifizieren, weil es 14 Tage später noch einen Riss gab, der gefunden wurde. Und der hat ergeben: Es war wiederum auch eine Fähe aus der deutsch-westpolnischen Population. Allerdings waren deren Elterntiere noch nicht genetisch erfasst. Also kann es sein, dass sie entweder direkt aus Polen rübergekommen ist oder dass sie in Deutschland in einem der Rudel geboren worden ist, wo uns halt die Genetik noch fehlt."
Hier wartet das zentrale deutsche Wolfsregister auf seinen nächsten Eintrag - und die Wölfin auf einen Rüden, mit dem sie ein Rudel gründen kann.
Moderne Technik in der Wildtierforschung
Das Beispiel dieser Fähe zeigt, wie wichtig heute moderne Technik für die Wildtierforschung ist. Vor allem Fotofallenkameras sind mittlerweile klein und zuverlässig genug, um monatelang Bildnachweise zu liefern - bis hin zu kurzen Videosequenzen.
Britta Habbe platziert diese etwa zehn mal 15 Zentimeter großen, in Tarnfarben bemalten Kästen vor allem an Bäumen - und zwar dort, wo erwiesenermaßen viel Wild unterwegs ist:
"Die Fotofallen haben Sensoren drin. Die reagieren auf Bewegungen und auf Wärme. Sprich: Wenn sich eine Wärmequelle vor der Kamera bewegt, dann lösen die automatisch aus. Und unsere sind jetzt so eingestellt, dass sie dann auch automatisch fünf Bilder sofort hintereinander machen - ein Bild pro Sekunde ungefähr. Und wenn dann immer noch der Sensor neu getriggert wird, dann gibt es eine neue Sequenz an Bildern."
In regelmäßigen Abständen kontrolliert die Biologin ihre Kameras, tauscht die Batterien aus und überspielt Bilder und Videos auf ihr Laptop zur weiteren Auswertung.
Diese Arbeitsweise ist mittlerweile weltweit Standard in der Wildtierforschung. Daher lassen sich auch anderenorts interessante Wanderungen belegen. So bekommen die Wälder in Süddeutschland schon seit längerem Wolfs-Besuche aus den Alpen, berichtet Ulrich Wotschikowsky:
"Nach Rheinland-Pfalz ist ein italienischer Wolf gekommen. In Bayern hatten wir auch schon einen italienischen Wolf. Wölfe können aus allen Richtungen an alle Punkte in Europa kommen. Es gibt auch schon einen Nachweis eines Wolfes in Belgien, der kam offensichtlich ebenfalls aus Polen."
Diese weiträumigen Wolfswanderungen sind Folge der europaweiten Schutzbemühungen. Das hindert zwar einige Jäger nicht, beim Anblick eines Wolfes einfach abzudrücken - aller möglichen Strafen zum Trotze, die vom Verlust des Jagdscheines über saftige Geldstrafen bis hin zu mehreren Jahren Gefängnis reichen können. Doch Ulrich Wotschikowksky, selbst leidenschaftlicher Jäger, ist überzeugt, dass die Unverbesserlichen seiner Zunft das Zusammenwachsen der verschiedenen Wolfsvorkommen in Europa auf Dauer nicht verhindern werden.
Das belegt auch der gut 1.200 Kilometer lange Weg eines Wolfsrüden aus der Balkan-Population in Slowenien durch Norditalien bis in die Nähe von Verona, wo er dann – endlich - auf eine Wölfin aus den Alpen traf. Das Wolfspaar hat bereits Nachwuchs, zwei Welpen sind nachgewiesen:
"Es kommt auf diese Weise demonstrativ zu einem Zusammenschluss von zwei räumlich weit getrennten Wolfs-Populationen. Und das ist ein ermutigendes Symbol für Menschen wie mich, die sich mit dem Schicksal und der Zukunft von solchen charismatischen Tieren beschäftigen. Es wird sich nächstens vielleicht auch einmal eine Wölfin aus der italienischen, französischen Population mit einem Rüden aus Nordostdeutschland, also aus Sachsen einlassen. Und dann hätten wir eine weitere Verknüpfung; und so sehen wir, dass sich die Wölfe allmählich wieder in ihre Lebensräume begeben, in denen sie bis vor 200 Jahren heimisch waren. Und darüber freue ich mich über alle Maßen."
Ausgelassen über alle Maßen toben die sechs Wolfswelpen bei Gartow im Wendland auf ihrem Rendezvousplatz umher. Die Elterntiere haben sich immer noch nicht blicken lassen. Also geht's weiter mit der Balgerei unter Geschwistern. Die jungen Wölfe sind zwar noch Säuglinge, aber im Alter von gut drei Monaten schon größer als Dackel. Wolfswelpen wachsen rasend schnell. Auf dem Rendezvousplatz trainieren sie für ihr späteres Wolfsleben:
Britta Habbe: "Sie sind halt alle am Spielen: Man muss hier die Kräfte messen. Man muss halt alles ausprobieren, was man später als großer Wolf so wissen muss. Man übt auch gerne schon mal den Kehlbiss, den Drosselbiss. Man übt, den anderen auf den Boden zu werfen, hinterherzujagen; und so bauen die Welpen halt einfach im Spiel Muskulatur auf und eignen sich die Verhaltensweisen an, die sie später nachher auch für die Jagd zum Beispiel brauchen."
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