Tiananmen-Platz

"Die Schießerei hat hier vor zwei Stunden begonnen"

Nur wenige Tage nach dem Massaker: Panzer stehen am 6. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens Wache.
Nur wenige Tage nach dem Massaker: Panzer stehen am 6. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens Wache. © picture alliance / dpa / Catherine Henriette
Von Otto Langels · 04.06.2014
Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking hatte eine von Studenten angeführte Bewegung im Frühjahr 1989 wochenlang friedlich für politische Reformen und Demokratie demonstriert. In der Nacht zum 4. Juni ließ die chinesische Regierung die Demokratiebewegung blutig niederschlagen.
"Feuer frei! Schießt! Schießt auf Alte, Kinder, Frauen
Auf Studenten, Arbeiter, Händler, schießt
Knallt sie ab, zielt auf diese wütenden Gesichter, die erstaunten, zuckenden, lachenden Gesichter, die verzagten und die gelassenen Gesichter, knallt sie ab."
Ein Auszug aus dem Gedicht "Massaker", das der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu unmittelbar vor dem 4. Juni 1989 verfasste, unter dem Eindruck der Massenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. In dem Gedicht nahm Liao Yiwu das brutale Vorgehen der chinesischen Armee gegen die Demonstranten vorweg.
Zwei Monate zuvor, im April 1989, hatten Studenten in Chinas Hauptstadt zu Protesten aufgerufen. Auslöser war der Tod des früheren KP-Chefs Hu Yaobang. Er galt in der Partei als Reformer und war 1987 entmachtet worden. Nach seiner Beisetzung marschierten Tausende Studenten zu dem riesigen Platz im Zentrum Pekings und forderten demokratische Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, eine Reform des politischen und wirtschaftlichen Systems, die Gründung unabhängiger Organisationen sowie den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft.
Die Studenten erhielten Zulauf von Intellektuellen und Arbeitern. Hunderte traten in den Hungerstreik und errichteten auf dem Tiananmen-Platz ein provisorisches Lager.
Führung reagierte zunächst unentschlossen
Die Proteste griffen auch auf andere Städte über. Am 17. Mai gingen Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße. Die chinesische Führungsspitze verurteilte die Massenproteste, reagierte aber zunächst unentschlossen, bis sie am 20. Mai das Kriegsrecht über Peking verhängte. Ministerpräsident Li Peng erklärte, die Regierung werde den Aufruhr entschlossen beenden. Dennoch setzten die Studenten ihren gewaltfreien Widerstand fort.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni rollten Schützenpanzer der Volksbefreiungsarmee Richtung Stadtzentrum. Passanten versuchten vergeblich, die Soldaten aufzuhalten.
"Die Schießerei hat hier vor zwei Stunden begonnen und es gibt schon Dutzende von Verletzten, haben Passanten gesagt. Revoltierende Studenten skandieren Sprüche", berichtete ein Reporter der BBC aus Peking.
Die vorrückenden Militärs stießen auf erbitterten Widerstand. Unbewaffnete Zivilisten stellten sich ihnen in den Weg, die Soldaten mussten brennende Barrikaden aus dem Weg räumen und schossen rücksichtslos in die Menge.
Unter den Demonstranten war der damals 37-jährige Duo Duo, einer der bekanntesten Dichter Chinas. Er floh später ins Ausland.
"Als wir auf dem Platz waren, hatte niemand Angst oder fühlte sich allein gelassen. Es war ein heldenhaftes, solidarisches Gefühl. Selbst als wir gleichzeitig zu Tausenden fliehen mussten, weil auf uns geschossen wurde, geriet niemand in Panik. Es war ein großartiger Moment der Verbundenheit, obwohl die Soldaten das Feuer eröffneten."
Traurige Bilanz am nächsten Morgen
Am Morgen des 4. Juni hatte das Militär den Tiananmen geräumt. Dabei wurde eine unbekannte Zahl von Menschen erschossen oder von Panzern überrollt. Die chinesische Regierung sprach von 200 Opfern, inoffizielle Schätzungen gehen von zwei- bis dreitausend Toten aus. Hunderte wurden festgenommen, zum Teil gefoltert und zum Tode verurteilt, weil sie, so die bis heute offizielle Sichtweise, an einem konterrevolutionären Aufstand teilgenommen hatten.
"Was die Unruhen von 89 angeht, hat die chinesische Regierung ihre Einschätzung schon vor langer Zeit deutlich gemacht."
Erklärte jüngst der Sprecher des chinesischen Außenministeriums. Bis heute unterbindet die Führung jede öffentliche Diskussion über das Massaker und verhindert Gedenkveranstaltungen für die Toten. Dennoch haben Angehörige der Opfer ein Netzwerk gegründet, die Mütter des Tiananmen. Die Gruppe, darunter Ding Zilin, fordert Aufklärung, Entschädigungszahlungen und die Nennung der Verantwortlichen.
"Mein Sohn verschwand am 3. Juni 1989, andere Kinder erst in den chaotischen Tagen danach. Wir sahen keinen der Vermissten je lebend wieder. Niemand weiß, wo sie geblieben sind."
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