Thomas Krüger

Bildung darf nicht Propaganda sein

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Thomas Krüger posiert lachend für ein Pressefoto.
Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) © picture-alliance / dpa / Tim Brakemeier
Thomas Krüger im Gespräch mit Moderator Ulrich Ziegler · 03.01.2015
Mit einer Aufklärungsoffensive soll die Bundeszentrale für politische Bildung drohenden Konfrontationen zwischen Islamisten und Rechtsextremen zuvorkommen. Ihr Präsident Thomas Krüger widerspricht: Politische Bildung sei kein Auftrag, die Leute zu agitieren.
Deutschlandradio Kultur: Zu Gast ist heute Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Herr Krüger, herzlich willkommen.
Thomas Krüger: Einen schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt einen Satz, mit dem die Bundeszentrale für politische Bildung vor langer Zeit geworben hat. Der lautet: „Jeder Bürger halte Wache, denn der Staat ist seine Sache.“ – Gilt dieses Leitmotiv auch noch für das neue Jahr?
Thomas Krüger: Das ist ein Satz, der aus der Anfangszeit der politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Institution gegründet worden ist, stammt. Es ist, wenn man so will, die Art und Weise das auszudrücken, was wir heute eigentlich immer noch machen. Wir sagen heute, dass es um die Stärkung der Demokratie und um die Erreichbarkeit aller Bürgerinnen und Bürger, egal welchen Bildungsstatus sie haben, egal aus welchen Kontexten sie kommen, welche Religion sie haben oder nicht haben. Das heißt also, jeder hat ein Recht auf politische Bildung. Und jeder hat auch Verantwortung für das Land, in dem er lebt.
Deutschlandradio Kultur: Und Sie erreichen die Leute. Wenn man sich beispielsweise anschaut, was wir in Dresden erleben und anderswo, dass Leute – Wutbürger, Salafisten, Hooligans – auf die Straßen gehen, mit diesem Staat eigentlich nicht so viel am Hut haben. Da könnte man sich natürlich fragen: Hat die politische Bildung, und ich meine nicht nur Ihre Institution, in den letzten Jahren irgendwas übersehen?
Thomas Krüger: Also, man muss natürlich sagen, dass Bildung immer ein offener Prozess ist. Wir leben in einem Land, in dem Agitation und Propaganda nicht angesagt ist. Bildung sind offene Lernprozesse. Und da hat natürlich jeder Klient, jeder, der politische Bildung genießt, die Möglichkeit auch zu sagen, nee, ich interessiere mich nicht für diese Angebote und ich lehne sie ab.
Also, man muss aufpassen, politische Bildung für all das verantwortlich zu machen, was Politik und Gesellschaft insgesamt versäumen. Das ist eine alte Übung, die wir kennen, auch übrigens in der Jugendsozialarbeit. Erst werden die Probleme laufen gelassen. Dann kommt der Feuerwehrruf. Und jetzt müsst ihr das sozusagen alles aufkehren. Und wenn das nicht hundert Prozent klappt, dann sagt man, na ja, politische Bildung hat versagt. Wir können uns das Geld eigentlich wieder einsparen. – Und dann ist man immer in Konjunktur und Dekonjunkturen begriffen und kann eigentlich nicht nachhaltig Infrastrukturen aufbauen und politische Bildung mit langem Atem organisieren. Das ist eigentlich das Problem, mit dem wir zu tun haben.
Politische Bildung immer dann am besten, wenn Leute auch interessiert sind
Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem stellt sich die Frage, ob Sie in der Vergangenheit die richtigen Adressaten erreicht haben, wenn Sie beispielsweise Unterrichtsmaterial an den Schulen verteilen und wir gleichzeitig sehen, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die sich dafür überhaupt nicht interessieren.
Thomas Krüger: Absolut richtige Frage. Politische Bildung funktioniert immer da am besten, wo die Leute schon politisch gebildet sind oder politisch interessiert sind wenigstens. Deshalb stellen wir seit mehreren Jahren die ganz konzentrierte Frage: Was ist eigentlich mit den Menschen in unserem Land, die sowohl Politik als auch Bildung nicht als ihre Kernsache begreifen? Wie kommen wir an die Leute ran?
Jemand, der eher Bildungsbenachteiligung erfahren hat, für den auch Schule kein Erfolgserlebnis ist, der reagiert auf andere Angebote politischer Bildung vielleicht viel besser. Und insofern suchen wir hier vor allem mit dem Mittel der Peer Education glaubwürdige Multiplikatoren, also eigentlich Leute aus ihren sozialkulturellen Milieus, die für die glaubwürdig sind.
Es ist einfach so, dass wir in einer sehr sich ausdifferenzierenden Gesellschaft leben. Da funktioniert nicht mehr die Autorität des Pfarrers, des Lehrers, des Polizisten ganz allgemein, wie das früher noch der Fall war, sondern die Glaubwürdigkeit wird der Person zugemessen, die in dem eigenen sozialkulturellen Umfeld was zu sagen hat. Und wir versuchen uns eben mit den Leuten zusammenzutun und Angebote so herzustellen, dass sie tatsächlich an die Leute überhaupt rankommen. Deshalb arbeiten wir mit Privatfernsehen zusammen. Deshalb arbeiten wir mit neuen Medien und Social Media zusammen. Also, alles das sozusagen braucht eben einen Ansatz, der an die Leute überhaupt erstmal herankommt.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie suchen vornehmlich die sogenannten Multiplikatoren. Sie gehen nicht dahin, wo es laut ist, wo es manchmal auch stinkt, wie Ihr Parteifreund Sigmar Gabriel es mal genannt hat?
Thomas Krüger: Doch, auch da gehen wir natürlich hin. Die Formate sehen dann etwas anders aus, also da, wo es stinkt, wenn man so will. Nehmen Sie die Formate wie Berlin Tag und Nacht oder Köln 50667, die im deutschen Privatfernsehen laufen, eigentlich Soaps. Mit denen arbeiten wir zusammen, und zwar ganz klassisch, indem wir bestimmte Fragen der politischen Bildung mit den dortigen Skripteditoren besprechen, reflektieren und Wege suchen, auch in solchen Formaten, die eben rezipiert von den entsprechenden Zielgruppen, Anstöße, Anregungen zu geben. Das heißt nicht, dass man Unterhaltungsformate jetzt zu politischen Bildungsformaten ummodelt, sondern dass man einfach versucht, seine eigene Disziplin zu entgrenzen und mit Leuten zusammenzuarbeiten, die oftmals viel näher an denen sind, die politische Bildung vielleicht viel dringender benötigen.
Deshalb arbeiten wir auch mit Übungsleitern im Sport, mit Jugendsozialarbeitern zusammen und mit entsprechendem Personal in Justizvollzugsanstalten.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am Rednerpult im Bundestag
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU)© picture alliance/ dpa/ Maurizio Gambarini
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir nochmal bei diesem aktuellen Problem. Wir haben darüber gesprochen. Jetzt sagen die Bundesinnenminister, man müsse mit einer Art Aufklärungsoffensive gegen diese Islamisten vorgehen. Und der Bundesinnenminister meint, wenn es jemand machen könne, dann könnte es ja auch die Bundeszentrale für politische Bildung tun. – Können Sie ihm diesen Wunsch erfüllen?
Thomas Krüger: Ich kann das natürlich und bin als der Präsident einer nachgeordneten Behörde des Bundesinnenministeriums sogar in der Pflicht, ihm Wünsche zu erfüllen – am besten mit den Mitteln, die wir sehr gut können, nämlich politischer Bildung. Die politische Bildung darf nicht verwechselt werden mit Agitation und Propaganda.
Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mit dem Bundesinnenminister darüber zu sprechen. Wir sind uns komplett einig darin, dass die Methoden und die Wege, diese Themen in der Gesellschaft zu reflektieren und zu diskutieren, am besten mit unabhängiger parteiübergreifender und neutraler politischer Bildung gelingen kann. Agitation und Propaganda wird immer durchschaut als solches.
Deutschlandradio Kultur: Es geht aber auch um kurzfristiges Handeln. Wenn man sich diese Demonstrationen jetzt anschaut und beunruhigt ist, wer kann da jetzt schnell aktiv werden?
Thomas Krüger: Es ist wichtig, dass wir ein Klima in unserer Gesellschaft erzeugen, um die Ängste und die Nöte, die Leute haben, aufzugreifen und kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Wir finden die Phänomene der Proteste der Straße eigentlich in allen europäischen Ländern. Und die haben sehr stark zu tun mit diesen Dimensionen, dass Politik stärker über die Grenzen hinausreicht, dass sie transnationaler wird, dass Gesellschaften bunter werden, hybrider werden, dass man mit sehr vielen unterschiedlichen Religionen zusammen existieren und leben muss. Und jeder hat seinen exklusiven Anspruch.
Demokratien funktionieren nur, wenn sie soziale Praktiken der Anerkennung einüben. Und das ist ein Lernprozess, dem man sich stellen muss. Wir setzen uns deshalb sehr intensiv schon seit einigen Jahren mit diesen rechtspopulistischen Tendenzen in den europäischen Gesellschaften auseinander. Gerade in diesem Jahr haben wir eine große Fachtagung gemacht und die Bewegungen, die es in den verschiedenen europäischen Ländern gibt, analysiert und auch versucht, Strategien für Bildungsprozesse zu entwickeln.
Da lernen wir natürlich, da sind wir unterwegs, aber es gibt Möglichkeiten das zu tun, und es gibt auch konkrete Erfolge zu verzeichnen.
Deutschlandradio Kultur: Brechen wir es mal runter beispielsweise auf den Schulunterricht. Viele Jugendliche sind gefährdet, was diese Rechtsextremen und Salafisten angeht. Liegen Sie mit dem Material, das Sie den Lehrern, den Multiplikatoren anbieten, auch beispielsweise mit den Kongressen, die Sie machen, richtig? Oder sollte man einfach dichter rangehen, da, wo es tatsächlich laut ist und brodelt?
Thomas Krüger: Es ist so, dass wir eigentlich, was den schulischen Alltag betrifft, noch die kompakteste Rezeption von Hybridität haben. Wenn Sie Schüler nach Rassismus oder nach Fremdenfeindlichkeit fragen, würden die das immer relativ stark von sich weisen, auch wenn man sozusagen in Formulierungen, die sie selber verwenden, auf solche Muster stößt. Weil, sie müssen jeden Tag zur Schule gehen, jeden Tag sich aushalten in ihren Unterschieden und entwickeln dabei auch soziale Praktiken der Anerkennung. Natürlich fliegen da manchmal auch die Fetzen und gibt es Probleme. Aber das ist sozusagen eher noch eine Generation, die am ehesten in der Lage ist, mit diesen Herausforderungen umzugehen und sich mit Mitteln der Einschließung, der Inklusion versucht zu positionieren.
Wenn wir jetzt gucken, was auf der Straße passiert, das sind sehr oft Menschen der älteren oder der mittleren Generation, die die Straße suchen und sich wehren und versuchen eine homogene Gesellschaft zu propagieren und zu favorisieren, die als solche gar nicht mehr existiert – vielleicht noch in einzelnen Ecken dieses Landes, wo nicht so viel Zuwanderung und Einwanderung passiert. Und dann kommen natürlich entsprechende Herausforderungen, Flüchtlinge unterzubringen. Und schon schreien die Leute Hallodri. Das, denke ich, muss man problematisieren. Da muss man sagen, es ist einfach eine Situation, in der wir leben, die sich verändert hat und auf die wir reagieren müssen.
Und bitteschön, als jemand, der in der DDR groß geworden ist: Viele Menschen damals aus der ehemaligen DDR haben die DDR verlassen, sind also übergesiedelt, geflohen, haben versucht ein neues Leben zu beginnen. Und man sollte sich doch bitte in 25 Jahren nach dem Fall der Mauer daran erinnern, in welchen Nöten die Menschen in der DDR selbst gelebt haben und jetzt nicht sozusagen den Spieß umdrehen und sagen, ich hab mein Scherflein im Trocknen und die, die jetzt kommen, die müssen mal außen vor bleiben. So können wir eigentlich nicht mit unserer eigenen Geschichte umgehen.
Die Bundeseinrichtung braucht lokale Partner für ihren Auftrag
Deutschlandradio Kultur: Das ist unbestritten. Die Frage ist nur: Wer geht zu den Menschen hin? Wir können darüber reden. Und es wird viele Katholische geben, die wir dann auch noch katholisch machen. Aber die Frage ist: Hat die Bundeszentrale für politische Bildung Mittel, hat sie Verbindungen, wo sie sagt, okay, wir versuchen gemeinsam genau das zu tun, was sich der Bundesinnenminister auch wünscht? Wir gehen zu den Leuten und sagen, wir nehmen eure Ängste ernst, obwohl wir eure Ängste nicht teilen.
Thomas Krüger: Wir können nicht als Bundeseinrichtung sozusagen in jeden Winkel des Landes kommen, brauchen deshalb Partner vor Ort. Die haben wir. Wir fördern hunderte von Trägern politischer Bildung überall in der Republik.
Aber ich will mal ein konkretes neues Beispiel bringen. Die große Frage ist ja immer: Wie kommen wir an die ran, die wir bisher noch nicht erreichen? Und wir haben uns sehr stark in den letzten Jahren um Formen multimedialen Interagierens gekümmert. Das heißt: Was kann man eigentlich über die Möglichkeiten des Internets machen, über solche Plattformen wie YouTube? Und eins der wirklich erfolgreichen Projekte in den letzten anderthalb Jahren war eine Kampagne „YouTuber gegen Nazis“. Und zwar haben wir einen relativ verbreiteten, beliebten Song im Netz von Blumio, einem Rapper aus Düsseldorf mit asiatischen Wurzeln, dessen Song „Hey Mr. Nazi“ mit anderen bekannten deutschen YouTubern geremixt oder gecovert heißt das in Neudeutsch. Das heißt eigentlich, ihre eigene Version produziert von diesem Song. Und bekannte YouTuber wie Albertoson und Wititi und Bullshit-TV, die Außenseiter, sind an den Start, haben ihre Version vorgestellt und in ihrer jeweiligen Community zur Diskussion gestellt.
Wir hatten bis heute vier Millionen Downloads von diesen Videos. Wir hatten zig Kommentare und sogar Diskussionen, die dann übergesprungen sind auf Facebook, also auf andere Kanäle. So viel Betrieb bei einem Projekt der Bundeszentrale habe ich bisher nur beim Wahlomat erlebt. Das ermutigt eigentlich, solche neuen Wege zu gehen, um eben nicht über den Umweg von Multiplikatoren, sondern möglichst direkt mit Formaten an die Leute heranzugehen und sie einzuladen mit zu diskutieren, mit zu partizipieren, auch zu reagieren.
Wir müssen lernen, so was wie Kontrollverlust zu wagen. Wir können Bildungsprozesse nicht monitoren und das sozusagen vom Ziel her denken, sondern wir müssen offen in einen Bildungsprozess reingehen und dann letztendlich diejenigen, die wir erreichen wollen, zu Co-Produzenten des Bildungsprozesses machen. Das heißt, auch zulassen, dass die Fragen und Akzente und Impulse geben, die uns vielleicht noch nicht so bekannt sind oder vor denen wir selber nicht Angst haben, sondern denen gegenüber wir unsicher sind, und selber sozusagen begreifen. In einem solchen Bildungsprozess muss auch so eine Einrichtung wie die Bundeszentrale lernen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Krüger, das hört sich ziemlich modern an, was Sie da erzählen. Wenn man Bekannte im Alter der 40-, 50-Jährigen fragt, was verbindet ihr eigentlich mit der Bundeszentrale für politische Bildung, die werden immer sagen: Das sind die Heftchen, die wir damals im Unterricht bekommen haben.
Thomas Krüger: Sie werden es nicht glauben, die existieren immer noch, und zwar in hoher Auflage.
Deutschlandradio Kultur: Und werden auch gelesen?
Thomas Krüger: So isses.
Deutschlandradio Kultur: Werden sie?
Thomas Krüger: Natürlich. Wir evaluieren das ja auch. Wir haben die Informationen zur politischen Bildung, die ja bekannter sind als die Institution, wenn man so will, wo ganze Generationen mit groß geworden sind, auch ein bisschen modernisiert. Der Zeilenabstand ist größer geworden. Die Hefte sind magaziniger geworden. Wir machen nicht mehr nur alles Schwarz-Weiß, sondern es gibt auch vier Farbfotos. Das heißt, die Formate gehen mit der Zeit auf der einen Seite. Sie versuchen aber nach wie vor, bestimmte basale, also grundsätzliche Informationen zu bestimmten Sachverhalten zu transportieren.
Der Printweg, wenn man so will, der Weg über ein gedrucktes Produkt, ist nach wie vor ein gängiger. Aber wir müssen uns natürlich eingestehen, er erreicht nicht mehr alle Leute.
Deutschlandradio Kultur: Und man müsste auch sicherstellen, dass genügend Politikunterricht in dem Sinne, wie Sie es beschrieben haben, in den Schulen stattfindet – auch bei verkürzten Schuljahren.
Thomas Krüger: Ein großes Problem! Wir haben durch den G8-Prozess, den 12-Klassen-Abschluss beim Abitur, Verzicht aufs 13. Schuljahr eine Situation, dass natürlich die Curricula ausgedünnt worden sind. Und leider hat es den Politik- und Geschichtsunterricht sehr häufig getroffen in den verschiedenen Curricula der Länder. Das heißt, wir haben heute weniger Unterricht in diesen geisteswissenschaftlichen Fächern, über die politische Bildung ja vermittelt wird. Das ist ein großes Problem, weshalb wir eigentlich kompakte Formate wie diese Informationen zur politischen Bildung, gar nicht mehr in den Schulalltag einfließen lassen können. Das heißt, es wird verwendet vor allem im Bereich der weiterführenden Schulen, der Leistungskurse zu diesen Fächern. Aber in der Breite müssen wir neue Formate entwickeln.
Das haben wir in den letzten Jahren getan, indem wir vor allem Übersichts- und Orientierungswissen über das Internet versuchen zu verbreiten. Das heißt, nicht so lange Texte, sondern mehr grafikunterstütze Überblickstexte, so dass man damit etwas anfangen kann und das mit anderen Quellen und Texten vergleichen kann, und Angebote, wo junge Leute selbst ermutigt werden zu partizipieren, also Co-Produzenten zu werden, selber etwas beizutragen zu diesem Bildungsprozess. Das ist immer der didaktisch sinnvollere Weg, Leute zu aktivieren selbst sich einzubringen und nicht nur Konsumenten von Bildung zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Die Bundeszentrale für politische Bildung soll und muss natürlich auch immer die Jugendlichen einbeziehen. Jetzt erleben wir aber das Phänomen, dass bei Landtagswahlen, Europawahlen, bei fast allen Wahlen die Zahl derer, die an der Wahl teilnehmen, immer geringer wird, vor allen Dingen bei den Jugendlichen. – Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? Sind die noch nicht richtig orientiert? Sind sie noch nicht diese Bürger, die auch den Staat bewachen wollen? Oder ist es tatsächlich ein Mangel auch an politischer Bildung in den Schulen?
Veränderungen im Bereich der repräsentativen Demokratie
Thomas Krüger: Ich glaube, wir haben es zunächst erstmal mit Veränderungen im Bereich der repräsentativen Demokratie insgesamt zu tun. Wenn man sich die Wahlforschung genau ansieht, stellt man ein fast noch bedrückenderes Faktum fest als die geringer werdende Wahlbeteiligung. Das ist nämlich der Fakt, dass diejenigen, die sich nicht beteiligen, zum allergrößten Teil aus dem Bereich bildungsbenachteiligter Menschen kommen. Das heißt, diejenigen, die ohnehin schon weniger profitieren von den Segnungen einer offenen parlamentarischen Demokratie, die beteiligen sich noch dazu weniger, so dass sie sich auch auf der repräsentativen Ebene immer weniger wiederfinden.
Das ist das große Problem. Deshalb diskutieren Fachleute und Experten und wir auch in der politischen Bildung darüber, wie wir neue Formen der Aktivierung vor allem derjenigen, denen es nicht so gut geht in der Gesellschaft, herstellen können.
Deutschlandradio Kultur: Was könnte das denn sein?
Thomas Krüger: Wir müssen versuchen Formate zu entwickeln, die das politische Interesse der Leute adressiert, weil, wir haben mal eine Untersuchung gemacht, gerade bei jungen Menschen in bildungsbenachteiligten Situationen haben wir festgestellt, dass es schon so was wie ein politisches Interesse gibt, aber die Leute sagen nicht mehr Politik dazu. Sie benutzen andere Worte. Da geht’s um Fragen von Anerkennung, von Respekt, aber durchaus Konflikte, die sie unmittelbar in ihrem Lebensalltag haben, also sehr alltagsbezogene politische Gesichtspunkte, die es aufzugreifen gilt. Und wir sprechen in der Forschung da von dem unsichtbaren Politikprogramm dieser Jugendlichen.
Das heißt natürlich, dass Bildungsformate sich auch an so eine Situation anpassen müssen und versuchen müssen, die Leute da abzuholen, wo sie sind, nämlich in ihrem konkreten Alltag und um ihren Alltag zu verbessern, zu verändern und sie selbst sozusagen als Subjekte ihrer eigenen Interessen, als Experten ihres Alltags sichtbar werden zu lassen. Das ist extrem schwierig. Aber ohne dass Sie diesen Graben überwinden, kommen Sie an die Leute nicht ran.
Deutschlandradio Kultur: Das führt aber nicht unbedingt dazu, dass die Leute dann ihr Kreuzchen bei einer Landtagswahl machen beispielsweise.
Thomas Krüger: Ich glaube, wenn junge Menschen sich als politische Subjekte begreifen, als – wenn man so will – die Agenten ihrer eigenen Interessen, dann ist der Weg zurück zur Wahlurne durchaus einer, den man wieder für möglich halten kann. Auf der anderen Seite, muss man natürlich sagen, sind die großen Wahlbeteiligungen Ende der 60er und in den 70er Jahren in der Geschichte der Bundesrepublik selber eher die Ausnahme gewesen. Das heißt, man muss auch ein Stück auf dem Teppich bleiben.
Und ich will Ihnen ein Beispiel aufzeigen, wo es eben auch mal umgekehrt gegangen ist. In Baden-Württemberg hatten wir vor allem durch die Diskussion um Stuttgart21, um verschiedene Partizipationsdiskussionen plötzlich eine höhere Wahlbeteiligung als fünf Jahre zuvor. Warum ist das so? Weil es Kontroversen gibt, weil es Sachen gibt, über die man sich öffentlich streitet, öffentlich ins Gespräch kommt. Das heißt also, wenn es uns gelingt, auch die Vielfalt und die Pluralität von Gesellschaft wieder stärker in Kontroversen, in Alternativen zu kommunizieren, sind die Leute möglicherweise wieder motivierter, auch aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und Situationen heraus den Weg an die Wahlurne zu gehen – weil es geht um was. Es geht um ihr Leben. Es geht für oder gegen etwas.
Und ich glaube, wenn das nicht sichtbar wird, wenn die Parteien sich nicht hinreichend unterscheiden, dann kann man in der Situation sein: Ja, wieso soll ich dann wählen?
Deutschlandradio Kultur: Ich kann Ihnen das auch nochmal deutlich machen. Wir haben einen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg. Jetzt haben wir einen Linken in Thüringen. Wir haben sozialdemokratische Ministerpräsidenten, eine CDU-Kanzlerin – alles scheinen ordentliche Demokraten zu sein, mehr oder weniger, je nach Sichtweise. Man könnte auch sagen, da gibt’s so groß gar keine Kontroversen. Wir werden irgendwie gut regiert. Die Arbeitslosenzahlen sind eigentlich auch ganz okay, zumindest für viele, die Beschäftigung haben. Also, warum noch Kontroversen?
Thomas Krüger: Da kann ich Ihnen auch ein Beispiel nennen. Und zwar haben wir mit dem Wahlomat ein Online-Tool im Vorfeld von Wahlen genau dieses Vorurteil aufgegriffen. – Die Parteien unterscheiden sich ja sowieso nicht. Und dann sehen wir, wenn man den Wahlomat spielt mit den 38 Thesen, die dann ausgewählt sind, plötzlich, die unterscheiden sich sehr wohl. Und zwar ganz konkret in den Beantwortungen der Thesen kriegt man mit, die einen sind für eine Maut, die anderen sind gegen eine Maut. Die einen sind für ein bestimmtes Kontingent an Ausbildungsplätzen, die anderen wollen das dem freien Markt überlassen. Und die einen sind für Freigabe von Marihuana, die anderen dagegen und manche sogar neutral.
Das heißt also, es gibt unterschiedliche Positionierungen der Parteien. Und zu begreifen, dass das so ist, ist eine der Aufgaben politischer Bildung. Und die haben wir mit diesem Instrument, dem Wahlomat, finde ich, auf eine ganz besondere Art und Weise hinbekommen. 13,3 Millionen haben vor der letzten Bundestageswahl den Wahlomat genutzt.
Deutschlandradio Kultur: Man könnte natürlich auch sagen: Wenn Parteien darüber diskutieren, ob Maut für Ausländer eingeführt werden soll oder wo Menschen mit Migrationshintergrund ihre Sprache sprechen sollen oder nicht, dass die Leute dann sagen: Sind das die Themen, die uns interessieren? Wollen wir die wirklich wählen und wollen wir uns damit auseinandersetzen? Oder kehren wir uns davon ab und tun genau das, was teilweise auch in Bundesländern stattgefunden hat, dass die Wahlbeteiligung teilweise unter 50 Prozent sinkt. Also, die Parteien tragen eine Mitverantwortung in der Bestimmung der Themen, die sie setzen. – Ärgert Sie das nicht?
Thomas Krüger: Ja, das mag mich ärgern und Sie auch ärgern. Und wir beide gehören vielleicht zu einem Teil der Gesellschaft, die diese Themen, die Sie gerade aufgerufen haben, ein bisschen blöd finden. Aber die Parteien sind ja keine dummen Organisationen, sondern die wissen ganz genau, was sie tun, und wissen auch ganz genau, wenn sie ein bestimmtes Thema anschlagen, welche Klientel sie damit ansprechen wollen und hinter sich versammeln wollen. Ob ihnen das gelingt oder nicht, das hängt ganz stark von der jeweiligen Performance und von der Überzeugungskraft der Argumente ab. Aber es gibt völlig unterschiedliche Perspektiven in dieser Gesellschaft.
Ich glaube, das hat alles seinen guten Grund. Und wir sollten nicht den Fehler machen, Parteien und auch die repräsentative Ebene von Politik kurzerhand zu verdammen, sondern die haben ihre Motivation, die haben ihre guten Gründe, dass sie das, was sie machen, so machen, wie sie es machen.
Ob das ausreicht, das ist das große Fragezeichen. Ich glaube, dass wir in unserer Gesellschaft eine immer größere Klientel haben, die sich nicht mehr repräsentiert fühlt. Und die zu erreichen, da muss politische Bildung ergänzen und komplementär helfen. Da müssen Parteien auch nochmal die Augen etwas breiter aufmachen und gucken, ob man nicht neben der klassischen Klientel, die man erreichen will, eine viel stärker werdende Klientel, die sich nicht mehr repräsentiert fühlt, adressieren sollte.
Deutschlandradio Kultur: Sollte, hätte – Fahrradkette! – Es gibt eine Umfrage, die sagt, dass 40 Prozent der jungen Deutschen nicht mehr genau unterscheiden können zwischen Demokratie und Diktatur. Also, wir reden ja nicht nur über Randgruppen, sondern es scheint ein grundsätzliches Defizit zu geben von einer Vorstellung, wie demokratische Gesellschaft funktioniert – und das, obwohl es die Bundeszentrale für politische Bildung seit über 60 Jahren gibt. Da ist doch was schief gelaufen!
Thomas Krüger: Es gibt immer verschiedene Umfragen. Die Shell-Jugendstudie beispielsweise fragt die Identifikation mit Demokratie als Längsschnitt über jede dieser Shell-Jugendstudien ab. Da gibt’s ein ganz überraschendes Ergebnis beispielsweise, dass es nämlich relativ konsolidiert zwischen 60 und 70 Prozent Zustimmung bei Jugendlichen vor allem im Westen Deutschlands gibt. Im Osten Deutschlands ist es etwas niedriger, aber raten Sie mal, wer die höchste Zustimmungsrate zu Demokratie hat. Das sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die liegen weit über 70 Prozent.
Das, finde ich, sind auch ermutigende Zeichen. Wir sollten da nicht immer nur gucken, wo das Glas halb leer ist, sondern auch, wo es halb voll ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Krüger, politische Bildung im neuen Jahr, welche Schwerpunkte wird es geben – jenseits dieser Gedenkfeierlichkeiten? Müssen wir uns auch mehr um die Migranten kümmern?
Diskussion über Armutsschere
Thomas Krüger: Eindeutig ja. Also, ich glaube, dass politische Bildung für alle da ist. Bis zum Jahr 2000, das müssen Sie sich mal überlegen, gab es im Erlass der Arbeit der Bundeszentrale die Ansage, dass wir uns an das deutsche Volk zu wenden haben. Das heißt also, Zuwanderer waren gar nicht erfasst von dem Auftrag der politischen Bildung. Das hatte natürlich seinen guten Grund darin, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg, ich sage es jetzt mal salopp, aus Nazis Demokraten machen wollte und das ein Auftrag war, der sogar schon im Potsdamer Abkommen niedergelegt worden ist durch die Alliierten.
Aber heute ist das eine ganz andere Herausforderung. Politische Bildung adressiert sich eigentlich an die gesamte Bevölkerung. Und in dem Zusammenhang sind es gerade junge Leute mit Migrationshintergrund oder Menschen, die in dieses Land einwandern, die ihren Platz suchen und dafür sehr gut politische Bildung gebrauchen können. Deshalb ist das in unserer Arbeit ein großer Schwerpunkt. Wir versuchen uns beispielsweise auch mit der Flüchtlingsthematik sehr stark auseinanderzusetzen. Im nächsten Jahr gibt’s noch eine ganze Reihe von Projekten, die wir vorhaben.
Wir haben ein großes Schwerpunktthema im nächsten Jahr, was sich mit der Frage der Ungleichheiten in der Demokratie beschäftigt. Demokratie hat immer Ungleichheiten zu verzeichnen, weil Marktwirtschaft Ungleichheit bedeutet. Aber wie viel Ungleichheit verträgt eigentlich eine Demokratie, das ist ja die entscheidende Frage. Und der versuchen wir mit verschiedenen Formaten politischer Bildung zu entsprechen und dabei auch die Frage zu stellen: Wo können wir Lücken schließen? Wo können wir Gräben überwinden? Wo können wir diejenigen, die abgehängt sind, auch mit politischer Bildung in die Lage versetzen, ihre Interessen besser zu artikulieren und sich als Teil der Gesellschaft zu positionieren?
Deutschlandradio Kultur: Also hat der OECD-Generalsekretär Gurría Recht, wenn er im vergangenen Jahr gesagt hat, der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zentrum der politischen Debatte geführt werden?
Thomas Krüger: Absolut. Das ist unser Ansatzpunkt. Wir haben übrigens gerade auch durch diese öffentliche Äußerung gesagt, das ist ein Thema für uns. Dem müssen wir uns stellen.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist es nicht die Aufgabe der Parteien, über diese Armutsschere zu diskutieren, über Steuererhöhung oder über Steuererlasse für Geringverdienende?
Thomas Krüger: Es ist manchmal so, dass sich Themen der politischen Bildung durchaus auch als Aufgaben für die verschiedenen Parteien definieren lassen. Die Themen sind nicht nur Themen der politischen Bildung, sondern es sind Herausforderungen der Gesellschaft insgesamt.
Sie haben vollkommen Recht. Die Armutsfrage, die Frage von Ungleichheiten stellt Fragen an die Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch an die Kulturpolitik auf den Ebenen, in denen Politik gemacht wird – auf der Bundes-, Landes- wie auf der Kommunalebene.
Deutschlandradio Kultur: Herr Krüger, zum Schluss dieses Gesprächs habe ich noch eine persönliche Frage an Sie. Die Kanzlerin kommt aus einem ostdeutschen Pfarrershaushalt. Der Bundespräsident ist gelernter evangelischer Pastor und ehemaliger DDR-Bürger und Sie, seit bald 15 Jahren Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, haben ebenfalls Theologie im Osten studiert. – Also drei Personen mit einem theologischen Hintergrund an nicht unbedeutenden Stellen, drei Personen mit einer DDR-Biographie. – Ist das alles Zufall?
Thomas Krüger: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass nach dem Fall der Mauer und des wiedervereinten Deutschlands dieses Land einfach vielfältiger geworden ist. Gucken Sie sich mal an, wie die Mehrheitsverhältnisse ausgesehen haben in der alten Bundesrepublik. Das war eine Majorität, die eher katholischer Provenienz war. Das Land jetzt ist protestantischer geworden. Es ist bunter. Es ist vielfältiger. Und da kommen natürlich Erfahrungen einfach aus anderen Kontexten dazu.
Und unsere Erfahrung in der DDR, sich also zu behaupten in einer Diktatur, war eben die, wenn man so will, die Freiheit in der Unfreiheit zu leben. Und das ist besonders erfolgreich gelungen eigentlich im Kontext kirchlichen Engagements. Es ist besonders gut gelungen unter dem Dach der Kirchen, übrigens auch der katholischen Kirche. Deshalb kann man diesen Zufall, wenn man so will, von der Seite aus verstehen, dass gerade die Kompetenzen, die man unter dem Dach der Kirche hat erlernen können, eine gute Investition oder etwas salopper gesagt eine Art Trainingslager waren für die Demokratie, die wir eigentlich alle wollten.
Dann kommt eben der Bundespräsident und die Kanzlerin und der Präsident der Bundeszentrale zufällig und über kürzer oder länger dann auch in verantwortliche Positionen, weil diese Erfahrung von Diktatur ein schwerer Rucksack ist, den wir alle zu tragen haben. Aber es ist einer, von dem unsere ganze Gesellschaft sehr viel lernen kann, weil wir die großen Unterschiede in unserem Leben mitbekommen haben, weil wir die großen Transformationsprozesse nach dem Fall der Mauer in unserer Verwandtschaft, Bekanntschaft, Freundschaften erlebt haben, was es eben heißt, sich in eine freie offene Gesellschaft vorzutasten, da seinen Platz zu suchen, sich durchzusetzen
Und dass am Ende dieses Prozesses dann eben tatsächlich auch in der repräsentativen Ebene Leute in Verantwortung kommen, finde ich eigentlich ein tolles gelungenes Bespiel von deutscher Einheit. Da mögen die einen oder anderen knurren und murren, aber das Land wird nicht schlecht regiert. Und die Erfahrung von Diktatur ist eine, die wir in unserem Gedächtnis behalten sollten, die wir aber bei dem Management der Gegenwart auch vor Augen haben sollten, eben die Nöte und Sorgen der Leute berücksichtigen, einbauen in die politischen Entscheidungsprozesse.
Und meine Message für die politische Bildung ist eben auch ganz stark dadurch getrieben: Guckt doch, was wollen die Leute, was brauchen die Leute? Und hole sie rein in den Prozess und lade sie ein, den Prozess mitzugestalten.
Ich habe mir eigentlich abgewöhnt in meiner Arbeit zu sagen, wo es lang geht, sondern ich möchte das gerne als Teamplay organisieren. Und Teamplay heißt immer, die Interessen und auch die Kompetenzen der jeweils anderen Seite mit einzubeziehen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Krüger, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Thomas Krüger: Gerne.
Mehr zum Thema