Thierse: "Demokratie ist eine große Einladung an Beteiligung"

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 03.12.2008
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) wünscht sich von Muslimen in Deutschland mehr politisches Engagement. Der heutige Besuch von Imamen und Seelsorgern im Bundestag soll dieses befördern. Er diene auch der Integration, denn diese Imame seien "Multiplikatoren von erheblicher Wirkung", sagte Thierse.
Birgit Kolkmann: Der Islam ist nach dem Christentum inzwischen die zweitgrößte Religion in Deutschland. Doch Muslime sind im öffentlichen und politischen Leben der Bundesrepublik immer noch unterrepräsentiert. Es fehlt am Dialog, es fehlt an den Kenntnissen über das politische System und die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und es auch mitzugestalten. Dies zu ändern, hat sich die "Muslimische Akademie" auf die Fahnen geschrieben, eine Fortbildungseinrichtung für Muslime, getragen von Muslimen und gefördert von verschiedenen Institutionen der politischen Bildung und der Integrationsbehörden. 2004 wurde diese Muslimische Akademie in Berlin gegründet. Es war eine Idee der früheren Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John.

Heute nun wird Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) 20 Imame sowie Seelsorgerinnen und Seelsorger im Bundestag empfangen. Schönen guten Morgen, Herr Thierse.

Wolfgang Thierse: Guten Morgen!

Kolkmann: Was werden Sie mit den Imamen und den Seelsorgern machen?

Thierse: Zunächst einmal, wie es sich gehört, werden wir durch das Haus gehen, auch oben auf die Kuppel und dann vor allem in den Andachtsraum. Wir haben ja im Reichstagsgebäude einen Andachtsraum, der interreligiös, interkonfessionell ist, also der für alle Religionen gleichermaßen zugänglich ist. Das dürfte einmalig für die Parlamente der Welt sein. Anschließend gibt es dann ein, denke ich, langes und hoffentlich auch interessantes Gespräch über das Parlament, über das politische System, über Mitwirkungsmöglichkeiten in unserer Demokratie.

Kolkmann: Es ist ja eine Weiterbildungsveranstaltung. Die dauert insgesamt ein Jahr und die Teilnehmer sollen besser vertraut gemacht werden mit den Strukturen des öffentlichen Lebens. Hapert es daran Ihrer Auffassung nach?

Thierse: Wir sehen jedenfalls, dass das Engagement muslimischer Bürger in diesem Lande durchaus hinter dem zurückliegt, was die so genannten Einheimischen oder Bürger anderer ausländischer Herkunft betrifft. Es könnten mehr muslimische Bürger sich politisch engagieren und ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass viele sich nicht genügend auskennen, dass sie nicht genügend motiviert werden, auch durch die Imame, die ja durchaus Einfluss haben auf das muslimische Alltagsleben. Insofern ist diese Weiterbildung hoch sinnvoll, denn Demokratie heißt ja sich beteiligen, sich in die eigenen Angelegenheiten einmischen und sie nicht anderen überlassen.

Kolkmann: Sind für Sie die Seelsorger und Geistlichen nun ganz wichtige Multiplikatoren, denn von ihnen kann man ja doch erwarten, dass sie sich interessieren und dass sie sich auch engagieren?

Thierse: Ja, aber wir sehen doch - da darf man sich auch nichts vormachen -, dass die Imame, die Seelsorgerinnen und Seelsorger ja zu einem größeren Teil eben selber aus dem Ausland kommen, unterschiedlich lange hier in Deutschland leben, sich unterschiedlich intensiv auf das Alltagsleben, das politische Leben in diesem Lande einlassen. Deswegen ist diese Weiterbildung, denke ich, ganz sinnvoll. Sie soll Kenntnisse vermitteln, sie soll motivieren, sie soll die Wege eröffnen, wie sich muslimische Bürger dieses Landes tatsächlich beteiligen, welche Möglichkeiten es gibt.

Die Demokratie ist eine ganz große Einladung an Beteiligung und sie ist eben mehr als ein Regelwerk und ein Institutionengefüge, sondern sie lebt, altdeutsch gesagt, von Tugenden wie Solidaritätsbereitschaft, Gemeinwohlorientierung und so weiter.

Kolkmann: Sie sprechen also ganz klar das Engagement der Zivilgesellschaft an. Das ist eine Form des politischen Engagements, das Sie, als Sie eben sagten, viele Muslime seien nicht politisch engagiert, wahrscheinlich meinten, denn wenn man schaut, dass islamistisch orientierte, eher extremistisch orientierte sich natürlich politisch betätigen, wenn auch nicht so wie wir uns das vorstellen.

Thierse: Ja, eben. Das politische Engagement in der Demokratie ist und bleibt gemeint und nicht politisches Engagement gegen die Demokratie. Dass nicht wenige Terroristen Islamisten sind, also sich auf eine verquere Weise auf ihren Glauben beziehen, das ist ja eine Tatsache. Das gehört ja mit auch dazu, weshalb auch in Deutschland und in der Welt es so großes Misstrauen gibt gegenüber dem Islam, so dass islamische Bürger ja auch selber ein Interesse daran haben müssen zu beweisen, dass Islam und Demokratie sehr gut zueinander passen können.

Kolkmann: Nun könnte man sich vorstellen, wenn Sie heute Besuch von den 20 Imamen und Seelsorgerinnen und Seelsorgern bekommen, dass Sie sich ohnehin einig sein werden in dem, was Sie wollen, nämlich Stärkung eines zivilgesellschaftlichen Engagements. Aber wie wird das dann nun in die muslimische Gesellschaft, in Teile der muslimischen Gesellschaft hineingetragen, die Sie eigentlich meinen? Wie soll da Integration gefördert werden?

Thierse: Zunächst einmal sind ja - Sie haben es selber gesagt - Imame, Seelsorgerinnen Multiplikatoren. Sie haben Einfluss. Was sie predigen, was sie in den Gesprächen ihren Gläubigen sagen, das, denke ich, hat Wirkung und ist insofern, wenn sie denn es auch absichtsvoll so tun, von integrativer Wirkung. Das kann mehr Wirkung haben, als wenn man von außen große öffentliche und gut gemeinte Redensarten pflegt, die ja nicht falsch sind, aber die viel weniger wirksam sind, weil sie von den islamischen Bürgern weniger gehört werden, weil möglicherweise ein Teil der islamischen Bürger dieses Landes gar nicht oder nicht ausreichend Deutsch spricht, weil sie nicht deutsches Radio und deutsches Fernsehen sehen, sondern fremde, zum Beispiel türkische Fernsehsender. Da sind genau diese Multiplikatoren von erheblicher Wirkung.

Kolkmann: Nun ist dies ja eine Fortbildungsveranstaltung für die Muslime. Wie steht es denn um Ihre persönliche Kenntnis des Islam und des islamischen Lebens in Deutschland, Herr Thierse?

Thierse: Ich denke, dass ich ein bisschen den Koran kenne. Natürlich kann ich mich nicht vergleichen mit solchen, die selber islamischen Glaubens sind. Ich versuche schon, auch im Gespräch mit islamischen Bürgern zu sein. Ich bin neulich extra zur Eröffnung der Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde in Pankow-Heinersdorf gegangen, um dort auch zu zeigen, dass wir sie willkommen heißen - gerade bei einer Moschee, die auf so viele Vorurteile und Widerstand bei den Nachbarn gestoßen ist, auf so viele Ängste. Und da sieht man, dass nichts anderes hilft als hingehen, neugierig sein, fragen, sich erklären lassen. Das gilt für mich wie für andere auch.

Kolkmann: Vielen Dank. Wolfgang Thierse, der Bundestagsvizepräsident von der SPD. Heute empfängt er im Bundestag 20 Imame und Seelsorgerinnen und Seelsorger.