Theologin Karen Armstrong

"Unsere Aufklärung war fehlerhaft"

Die renommierte britische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong
Die renommierte britische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong © GERRY PENNY / AFP
Moderation: Philipp Gessler · 07.12.2014
Angesichts der Gräueltaten, die die IS-Miliz und Fundamentalisten in Israel und Palästina begehen, könnte man meinen, die Welt wäre besser ohne Religion. Karen Armstrong, britische Religionswissenschaftlerin und ehemalige Nonne, sieht das anders.
Philipp Gessler: Frau Armstrong, wenn Sie die schrecklichen Bilder des IS in Syrien sehen, dessen Brutalität und Zynismus – können Sie Menschen verstehen, die sagen: Die Welt wäre ein besserer Ort ohne Religion?
Karen Armstrong: Nun, es wäre auch ein schlimmerer Ort ohne Religion, da Religion nicht nur für Gewalt verantwortlich ist. Über die Jahrhunderte war die einzige nicht-gewalttätige Stimme sehr oft die religiöse Stimme: die Stimme der Propheten und Weisen, die uns viele Wege angeboten hat, wie wir der Gewalt unserer menschlichen Natur und Kultur entgegen treten können – ebenso wie der Gewalt und Ungerechtigkeit des Staates. Die Propheten Israels haben wiederholt protestiert gegen die Ungerechtigkeit des Staates, der die Armen verfolgt und unterdrückt hat. Die Rabbiner des Talmud haben die ganze Heilige Schrift neu interpretiert, um die Gewalt aus ihr zu verbannen. Ihre Exegese überzeugte die Juden, sich von politischer Aggression fern zu halten – für fast ein Jahrtausend. Buddhistische und Hindu-Weise entwickelten Yoga vor allem, um das Ego und die kämpferische Aggression zu beruhigen, die tief in unserer Psyche vergraben ist.
Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen.
Mutmaßliche Kämpfer des IS nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak. Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht.© picture alliance / dpa - Albaraka News
Ständig haben die großen Weltreligionen ihre Version der Goldenen Regel entwickelt: "Was du nicht willst, was man dir tu / das füg auch keinem anderen zu." Und diese Regel wurde ersonnen nicht in ruhigen, friedlichen und frommen Gesellschaften, sondern in solchen, die, wie unsere, in der Krise sind, in denen Gewalt ein nie da gewesenes Ausmaß erreicht hat. Die Goldene Regel bedeutet, dass man alle so behandelt, wie man selber behandelt werden möchte, dass man den Fremden, den Ausländer, ja sogar den Feind liebt, dass es keine Grenzen der Sorge für das Wohlbefinden der Anderen gibt. Nun, wir hören keine solche Stimme in unserer Welt, die von Nationalstaaten dominiert wird. Die säkulare Welt hat keine ähnliche weltweite Perspektive eines globalen Mitgefühls entwickelt, die die Menschen in einer disziplinierten Art und Weise lehrt, alle Menschen zu respektieren und zu ehren. Schon die Chinesen haben in der so genannten Ära der kriegsführenden Staaten, vor dem Kaiserreich, gesagt: Solange wir nicht lernen, andere nicht so zu behandeln, wie wir selbst nicht behandelt werden wollen, werden Menschen einander vernichten – dies war nie so möglich wie heutzutage.
"Der Koran hat keine Zeit für religiöse Exklusivität"
Gessler: Nichtsdestotrotz gibt es derzeit eine Debatte in Deutschland, dass die Gewalt und die Intoleranz ein essentieller Teil der Religion des Islam sein könnte.
Armstrong: Wenn Sie die islamische Geschichte studieren, sehen Sie, dass dies nicht wahr ist. Der Koran hat keine Zeit für religiöse Exklusivität. Die ganze Idee einer verpflichtenden religiösen Tradition war in dieser Zeit völlig unbekannt – und der Koran ist entsetzt über den Anspruch der Juden und Christen, die einzige wahre Religion zu haben. Der Koran insistiert mit Nachdruck darauf, dass Muslime an alle großen Propheten der Vergangenheit glauben sollten. Du kannst kein Muslim sein, solange du nicht die Prophetie von Jesus, Mohammed, Moses und Abraham – und arabische Propheten, die überhaupt nicht zur abrahamitischen Tradition gehören - akzeptierst . Wie es ein muslimischer Gelehrter einmal sagte: Wenn Mohammed etwas über die amerikanischen oder australischen Ureinwohner gewusst hätte – oder etwas über die Buddhisten und Hindus, dann hätte er diese religiösen Richtungen auch geehrt.
Der Koran sagt klar, dass Gott Propheten zu jeder einzelnen Gemeinschaft in ihrer eigenen Sprache schickt und dass jede wohl geführte Religion von Gott kommt. Bis zum 18. Jahrhundert war die dominante Form des Islam der Sufismus, also die mystische Form des Islam. Das heißt nicht, dass jeder ein Mystiker war – nur sehr wenige Menschen sind wirklich zu wahrer Mystik fähig. Aber die Priorität und Praxis der Sufis, ihre Auffassungen waren dominierend. Und die Sufis hatten ein außergewöhnliches Wohlwollen für andere Glaubensrichtungen.
Es ist recht üblich für einen Sufi-Dichter auszurufen, dass er weder ein Jude, ein Christ oder ein Muslim sei – er sei vielmehr ebenso in einer Moschee, einer Synagoge oder einer Kirche zuhause. Denn sobald man einen Zipfel des Göttlichen erhascht, würden all diese von Menschen gemachten Unterschiede in sich zusammen fallen. Allerdings hat sich im 18. Jahrhundert eine neue Form des Islam in Saudi-Arabien entwickelt, der Wahabismus. Dieser sagt, dass allein der wahabitische Islam orthodox und korrekt ist. Sufismus, Schiismus, mittelalterliche Philosophie – all dies war unerlaubt.
Die Saudis haben diese sehr intolerante Form des Islam seit den 1970er-Jahren in alle Welt exportiert. Sie haben dazu ihre Petrodollars genutzt – mit dem stillschweigendem Einverständnis der Vereinigten Staaten, die glücklich waren, dass die Saudis den Schiismus bekämpften nach dem Schaden, den die Iranische Revolution den USA angetan hatte. Das hat das Gesicht des Islam verändert. Eine ganze Generation junger Leute ist aufgewachsen mit dieser sehr uncharakteristischen Form des Islam. Das ist eine Tragödie.
Trainierte Soldaten ohne Zeit für Religion
Gessler: Glauben Sie, dass die Analyse von manchen richtig ist, die sagen: Der Islam ist eigentlich eine relativ friedliche Religion, aber er müsste durch eine Art Aufklärung gehen, damit er so werden könnte wie im Augenblick das Christentum?
Armstrong: Wissen Sie, unsere Aufklärung war fehlerhaft. Wir sind sehr stolz auf die Aufklärung. Aber wir sind hier in Deutschland, einem der Kernländer der Aufklärung. Eine ihrer Maxime war die Toleranz. Und wir haben in den 1930er und -40er Jahren gesehen, wie dünn der Firniss dieser Toleranz war. Wir haben erlebt, zum Leidwesen der ganzen Menschheit und aller Europäer, dass eine große Universität neben einem Konzentrationslager existieren konnte.
Außerdem hat die Aufklärung selbst ihre Schwachstellen . Die großen Philosophen der Aufklärung predigten die Toleranz. Einer der großen Apostel der Toleranz war der britische Philosoph John Locke. Locke aber sagte, der liberale Staat könne weder Muslime noch Katholiken tolerieren. Er war zwar ein Pionier der Menschenrechte, was die großartigste Idee ist, aber Locke hat diese Rechte eingeschränkt auf Leben, Freiheit und Besitz. Diese Rechte wurden nicht ausgeweitet auf Menschen in den sich entwickelnden Territorien.
Locke war sehr verwickelt in die Kolonisation von Nordamerika. Er sagte: Die Könige oder Häuptlinge der Indianer hätten kein Recht auf ihr Land – es könne ihnen nach Belieben weggenommen werden. Locke hat auch gesagt: Ein Sklavenhalter hat absolute und unzweifelhafte Macht über einen Sklaven, was auch das Recht beinhaltet, ihn jederzeit zu töten. Demnach: Wenn wir über unsere Aufklärung reden, müssen wir uns daran erinnern, dass alle unsere menschlichen Tätigkeiten und Hoffnungen mangelhaft sind.
Diese Art von Haltungen, die wir angenommen haben – und dazu zähle ich auch Großbritannien mit seinem Empire als einen wesentlichen Mitspieler -, haben wir auf unsere Kolonien übertragen. Wenn wir Briten die Völker in unserem Empire so behandelt hätten, wie wir gewünscht hätten, behandelt zu werden, wenn wir also die Goldene Regel befolgt hätten, hätten wir heute nicht so viele politische Probleme.
Gessler: Wenn es wahr ist, dass der Islam derzeit so stark mit Gewalt infiziert ist – und die meisten Opfer dieser Gewalt sind ja selbst Muslime -, ist dies auch ein Problem der islamischen Theologie, dass islamische Theologen nicht fähig sind, mit ihren Gedanken die islamischen Terroristen zu erreichen oder gar zu überzeugen?
Armstrong: Dazu zwei oder drei Punkte: Zum einen wurden die islamischen Gelehrten, die Geistlichen in islamischen Ländern von aggressiven Säkularisten kaltgestellt. So, wie es die Schahs im Iran versucht haben, Gamal Abdel Nasser in Ägypten oder Atatürk. Der ließ alle Medresse, also islamischen Hochschulen, schließen und trieb die Sufi-Orden in den Untergrund, als er die Türkei säkularisierte. Das war eine sehr unweise Politik, denn sie entzog den Muslimen beim Erlernen des Islam durch Menschen, die die heiligen Schriften wirklich kannten, die Hilfe. Vor der Neuzeit las niemand den Koran für sich einfach so. Er wurde immer gelesen in einem großen Kontext von gelehrten muslimischen Kommentaren, die Tendenzen zum Extremismus wegschnitten oder einhegten.
Hier treffen wir wieder auf die Wahabiten. Es ist ein wenig wie bei Martin Luther: Jeder Mann und jede Frau sollte fähig sein, seine oder ihre Bibel zu lesen – also ihren Koran, ihre heiligen Schriften, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Wenn unausgebildete Menschen in den Koran eintauchen oder nur ein Buch aufpicken, das "Islam für Dummies" heißt, bekommt man wilde Interpretationen.
Zum Zweiten: Denken Sie nicht, dass alle Mitglieder des IS ganz überzeugte Dschihadisten sind. Eine signifikante Gruppe darin – wobei es schwer ist, zur Zeit zu sagen, wie groß diese Gruppe ist – sind wahrscheinlich Säkularisten von Saddams Baath-Partei und Mitglieder seiner Armee, die unkluger Weise von den Amerikanern nach dem Irak-Krieg aufgelöst wurde. Es sind Menschen, die unzufrieden sind mit dem status quo und die glücklich sind, irgendeiner Koalition beizutreten, um diesen zu beenden. Die Präsenz dieser trainierten Soldaten, die keine Zeit für Religion haben und klare Säkularisten sind, erklärt wahrscheinlich, warum der IS auf dem Schlachtfeld gegen professionell ausgebildete Truppen so erfolgreich ist.
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