Theologe zu Öko-Enzyklika des Papstes

"Der Text benennt zentrale Probleme"

Papst Franziskus während einer Sondermesse für armenische Katholiken in der Basilika des Petersdomes
Papst Franziskus bei einer Messe im Petersdom © picture alliance / dpa / EPA / GIORGIO ONORATI
Rainer Kampling im Gespräch mit Philipp Gessler · 21.06.2015
Die Erde ist nur durch Konsumverzicht zu retten. Das ist die Botschaft der aktuellen Enzyklika von Papst Franziskus. Für den Berliner katholischen Theologen Rainer Kampling ist der Text "genial". Doch der Papst hätte teilweise mehr differenzieren sollen, kritisiert er.
Philipp Gessler: Papst Franziskus hat in dieser Woche die ganze Welt in seiner Enzyklika zum Konsumverzicht aufgefordert, um die Erde zu retten. Der grüne Papst wird er jetzt genannt. Aber welchen theologischen Hintergrund hat sein Lehrschreiben, mit dem er so viel Aufmerksamkeit geerntet hat? Darüber habe ich mit dem katholischen Theologie-Professor Rainer Kampling von der Freien Universität Berlin gesprochen, ein kritischer Beobachter des Papstes seit dem Tag seiner Wahl vor rund zweieinhalb Jahren. Meine erste Frage an Professor Kampling war, wie er den doch ziemlich pessimistischen Grundton der Enzyklika aufgenommen habe.
Rainer Kampling: Beim Lesen kann man sich unschwer des Eindrucks erwehren, dass hier die Sorge des Heiligen Vaters sehr stark zum Ausdruck kommt. Ich erinnere nur an Sätze, dass er selbst einen kriegerischen Konflikt für möglich hält, dann diesen Abschnitt über die Wasserversorgung. Also, das sind ja wirklich alles real existierende Probleme. Und wenn in dem nicht aufblitzte die christliche oder auch die biblische Hoffnung, dann wäre es ein hoffnungsloser Text. Also, er traut den Menschen auf der einen Seite zu, dass sie den Planeten zerstören, auf der anderen Seite erwartet er, dass die Menschen ihn retten. Also, es ist wirklich ein Text, von dem ich meine, dass er wirklich zentrale Probleme benennt. Aber es ist ein sehr dunkler Text, vielleicht besser das als Pessimismus.
Gessler: Spricht eigentlich das Leaken, also das vorzeitige Enthüllen oder An-die-Öffentlichkeit-Bringen dieses Textes dafür, dass er besonders umstritten war im Vatikan? Wollte man ihm schaden, dem Papst, indem man ihm den großen Auftritt versaut, indem man das vorher an die Öffentlichkeit bringt?
Kampling: Also, ich denke, dass der Papst indirekt auch dazu etwas geschrieben hat. Wir reden ja von einem früher mal sehr angesehenen italienischen Magazin, das jetzt so dahindümpelt. Es geht um Wirtschaftsinteressen. Wann wurde das letzte Mal über "L'Espresso" gesprochen, jetzt auf einmal in aller Munde. Ich würde nicht sagen, man wollte dem Papst schaden, sondern man wollte die Auflage erhöhen. Und genau darüber spricht der Papst. In dem Augenblich, wo Wachstum das einzige Kriterium menschlichen Handelns ist, ist die Ethik und Moral vorbei. Und dass es nun aus diesem Umfeld kommt, dass man weiß, dass der Journalist, der das nun geleakt hat, wie wir dieses neue Wort nennen, zu den konservativsten Kreisen gehört, zeigt einfach nur, dass Verkommenheit auch da vorkommt.
Gessler: Jetzt sagt ja der Text, die Enzyklika, etwas vereinfacht gesagt: Euer Konsum im Norden ist dafür verantwortlich, dass die Welt vor die Hunde geht, ist dafür verantwortlich, dass vor allem die Armen im Süden leiden. Das ist ganz schön viel Verantwortung für jeden einzelnen Menschen im Norden, oder?
Kampling: Da, würde ich sagen, hätte ich ein Wort des Trostes gebraucht oder auch mich gefreut zu finden. Denn wir haben doch eine bemerkenswerte Situation: Es geht hier nicht um das Schuldigwerden aufgrund aktiven Handelns, sondern aufgrund von Partizipation. Und die ökologische Ausbeutung und die wirtschaftliche Ausbeutung, die ja, wie Franziskus sagt, ganz eng zusammenhängt, ermöglicht aber sozusagen auch den Armen im Norden ein gewisses Lebenslevel. Und die Frage, wer sind zum Beispiel die Armen des Nordens, die es ja auch gibt – zumindest gemessen an den Lebensstandards –, sind die auch mitverantwortlich?
Beim Lesen musste ich ein wenig an die Predigten des Propheten Amos denken, der also auch das ganze Land anprangert. Und man fragt sich, meint er wirklich alle? Und ist das wirklich so, dass wir nicht auch ein großes soziales Gefälle innerhalb der sogenannten Gesellschaft des Nordens haben? Und da wäre ich dankbar gewesen, etwas zu finden, das auch noch mal vielleicht zu differenzieren. Gewiss ist es so, dass dieser alte Satz – "eure Armut macht uns reich" – stimmt. Aber wen macht er reich? Und ich glaube, nicht die Armen in unserer Region.
Gessler: Also ganz konkret gesagt: Leute, die zum Beispiel über einen Billigkleiderdiscounter hier im Norden der Welt einkaufen müssen, weil sie so wenig Geld haben, sind die dann wirklich dafür verantwortlich, dass diese Kleidungsstücke, die sie kaufen, unter erbärmlichen Verhältnissen im Süden hergestellt werden? Haben sie eigentlich eine andere Wahl?
Kampling: Das ist eine Frage, eine andere Wahl haben sie, davon muss ich einfach ausgehen. Denn das gibt es schon. Ich meine nur, das Netzwerk der Sünde, wenn man das so nennen will, besteht ja eben darin, dass diese Menschen dann eben auch etwas kaufen, das an sich wertlos ist, weil sie meinen, sie müssten sich an Konsum beteiligen. Und damit sind wir wieder bei der Grundaussage der Enzyklika: Konsumismus als Gesetz der Gesellschaft führt dazu, dass alle anderen Werte vergessen werden. Also, der Kauf eines minderwertigen Kleidungsstücks befriedigt ja nicht unbedingt die Notwendigkeit der Bekleidung, sondern zunächst einmal des Kaufens. Und das ist, glaube ich, genau der Punkt.
Aber Ihre Frage ist schon von entscheidender Wichtigkeit: Insofern Menschen machtlos sind, auch am gesellschaftlichen Rand stehen, inwieweit sind sie mitverantwortlich? Und da hilft jetzt auch nicht zu sagen, dass es unseren Armen immer noch besser geht als woanders. Es geht hier um die konkrete Situation der Partizipation an wirtschaftlichen Möglichkeiten. Also, das ist eine wirklich wichtige Frage und ich denke, da müssen wir gerade in der Theologie auch noch sehr lange mal drüber nachdenken: Wie wird man sündig, wenn man partizipiert?
"Der Text ist raffinierter, als man denkt"
Gessler: Nun gibt es ja auch ein paar Feinheiten, die ganz interessant sind, zum Beispiel die Tatsache, dass doch sehr häufig Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zitiert werden. Ist das Absicht, um sich sozusagen gegenüber der Konservativen der Kurie abzusichern, nach dem Motto, ich bin gar nicht so revolutionär, ich kann alles auch belegen durch Zitate von diesen vorherigen Päpsten?
Kampling: Also, da würde ich zu einer katholischen Lesart raten: Es ist gut katholisch, darauf hinzuweisen, dass man nicht sozusagen originell ist. Auch das ist übrigens ein Gestus, das ist ja das Schöne, der Gestus der Bescheidenheit. Also, er verlangt Bescheidenheit als Lebenshaltung, der drückt sich aus, ist ganz klar. Hier wird nicht etwas Neues verkündet. Er hat auch Paul VI. erstaunlich oft zitiert. Ich halte auch Paul VI. für einen weit unterschätzten Papst, der schon in den 60er-Jahren und Anfang ... also gewarnt hat vor den Entwicklungen. Also, da muss man einfach sagen: Was er tut, ist, er stellt sich in eine ... Ich würde noch nicht von Tradition sprechen, aber doch von päpstlicher Gewohnheit. Was er damit abwehrt, ist, glaube ich, eher außerkirchliche Kritik. Die berühmte Frage, ja, was geht das den Papst an.
Und da kann er eben zeigen, dass auch dieses Verständnis, dass sozusagen Religion völlig unpolitisch ist, selber schon wieder eine Haltung des Konsumismus ist. Also, wenn man das, was man jetzt aus den USA hört, ist klar: Religion hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun! Also mit Politik nicht, mit Flüchtlingen nicht, nichts. Also, was ist eigentlich dann das, Religion? Offensichtlich irgendwas, was man zu Hause zelebriert oder am Sonntag. Und dagegen sagt die Enzyklika aber mit aller Deutlichkeit – und das ist übrigens ein interessantes Erbe der europäischen Theologie –, nein, es geht hier um viel mehr! Oder wie Johannes Baptist Metzger so schön gesagt hat: Der Preis des Korns ist nicht unabhängig vom Reich Gottes. Also, man kann das nicht so trennen.
Und das erinnert er jetzt. Und ich finde, wenn er da verweist auf Vorgänger, die ja nicht gering sind, dann ist das eigentlich ein gutes Zeichen zu sagen, nein, es ist ein Anliegen der Kirche! Und eigentlich geht es wirklich auf Johannes XXIII. zurück, denke ich, also damals noch sehr stark die Friedensthematik, jetzt eben auch die ökologische Thematik. Eigentlich ist das eine Fortschreibung.
Gessler: Auffällig ist auch, wie häufig er Bischofskonferenzen aus der ganzen Welt zitiert, aus Neuseeland, aus Australien, aus Deutschland, aus Japan, aus Bolivien. Ist das eigentlich so zu verstehen, dass er damit auch deutlich macht, ich halte mich an das, was ich angekündigt habe, dass ich tatsächlich die Bischofskonferenzen stärke, indem ich zum Beispiel auch sie zitiere mit ihren Erkenntnissen, über dieses Phänomen der Umweltzerstörung?
Kampling: Also, ich denke schon, dass man diese Lesart einbringen kann, dass es tatsächlich ein Hören auf die Bischofskonferenzen ist. Ich denke aber, dass ... Also, wir haben zum Beispiel auch die südafrikanische Bischofskonferenz, seien wir ehrlich, wann lesen wir in Deutschland schon mal was von der südafrikanischen Bischofskonferenz? Also, wir haben in diesem Text den Aufweis, dass es ein globales Problem ist. Also, das ist ... Die Fußnoten belegen wieder mehr als sonst den Text, wenn man sagt, also, es ist hier nicht das Problem eines Argentiniers, der in Rom sitzt, sondern dieser Argentinier in Rom partizipiert eine Überlegung weltweit. Und was man eben sehr deutlich sieht, die Kirche, die katholische Kirche ist Weltkirche und er kann sich darauf berufen.
Und ich finde schon, man müsste – aber dafür hatte ich nicht die Zeit – mal zählen, wie viel wirklich aus den sogenannten nicht klassischen Industrieländern kommen. Und das, glaube ich, ist wichtig. Denn wenn wir zum Beispiel gucken, die erwachenden Industrien oder in afrikanischen oder auch einigen lateinamerikanischen Ländern, die einfach sagen zum Teil, wir machen das jetzt mal so, damit wir Wohlstand bekommen, in der Nicht-Beachtung, oder sehr häufig kommt das Wort Schläfrigkeit vor, ist auch ein schönes Motiv, gegenüber den ökologischen Schwierigkeiten. Und da kann ... Also, das finde ich schön, dass er sagt, ihr könnt euch nicht aus der Verantwortung stehlen, das ist alles besprochen! Das ist kein Problem allein des Westens. Und das, finde ich, ist dann von zentraler Bedeutung.
Gessler: Wie finden Sie eigentlich diesen manchmal poetischen Ton, den der Papst da anschlägt? Ist ja einerseits schön zu lesen, auf der anderen Seite kann man ja leicht darin die Gefahr sehen, dass manche das abtun nach dem Motto, ach, das ist Poesie, nicht wirklich ernst zu nehmen, nicht wirklich politisch ernst gemeint.
Kampling: Also, zunächst einmal denke ich, dass es ja passt zu dem Auftrag von Franziskus. Der "Sonnengesang", der zu Beginn zitiert wird, ist ja unter der Hand zu einem der ökologischen Gesänge geworden und zeigt, dass es sehr wohl eine Kraft der Poesie gibt. Auch da, würde ich allerdings sagen, ist der Text raffinierter, als man denkt. Wer sagt, ein poetischer Text – also, es ist ja nicht Gedichtform, sondern es ist sehr bildhaft ausgedrückt und die Katastrophen und Möglichkeiten kann man vielleicht auch nur bildhaft ausdrücken –, wer das ablehnt, lehnt natürlich ein ganzes Element der Schönheit des Menschen ab. Die Fähigkeit zur Poesie. Und er oder sie müsste schon gut begründen, warum. Und im Text ist wieder die Antwort zu finden: Weil es nicht Produktivkräfte freisetzt!
Also, das ist wirklich, dieser Text ist schon auch sowohl formal wie sprachlich, soweit ich das in der deutschen Übersetzung sehen konnte, ja, ich würde fast das Wort raffiniert gebrauchen. Weil, die, die ihn kritisieren werden, stehen zwangsläufig unter dem Verdacht, dass sie für den Konsumismus sind, dass sie nur Nutzendenken kennen, dass sie das, was den Menschen schön und zum Menschen macht, nicht wertschätzen. Wer sich diesem Verdacht aussetzen will wie Leute, die hoffen, dass sie US-amerikanische Präsidenten werden, bitte. Aber das ist ... Also, vom Text der Enzyklika her ist sozusagen schon das Argument erledigt. Ich finde es genial!
Gedanken des "Erzketzers" Pasolini in der Enzyklika
Gessler: Welche Wirkung wird dieser Text haben? Stärkere Wirkung als viele andere Enzykliken?
Kampling: Zunächst einmal ist die unmittelbare Wirkung einer Enzyklika eh schwierig einzuschätzen. Ob die Beobachter recht haben, die sagen, dieser Text ist nun vor der nächsten großen Klimakonferenz ganz bewusst veröffentlicht worden, das kann ich nicht entscheiden. Aber damit nimmt er teil. Es ist die Frage, wie sich zum Beispiel christlich verstehende Politikerinnen und Politiker zu der Aussage der Flüchtlingspolitik äußern, da hat er seit seiner Lampedusa-Rede kein einziges Wort zurückgenommen, das finden wir auch wieder. Also, es ist auch in dem Sinne eine aktuelle, womit zu befürchten ist, dass sie totgelobt wird.
Was zu hoffen ist, ist, dass es kein apokalyptischer Text ist, den man in zwei Generationen lesen wird und rätseln wird, warum keiner auf ihn gehört hat. Also, es ist der Versuch, explizit als Oberhaupt der noch immer größten religiösen Gemeinschaft der Welt sich einzubringen in einen Diskurs, aber auch mit aller Bescheidenheit zu unterscheiden zwischen dem, was er christlich sagen kann - also in der biblischen Tradition stehend - und dem, von dem er meint, dass es nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht mehr angezweifelt werden sollte.
Ob man die christliche Begründung teilt, das ist eine andere Frage. Aber in die Debatte einzubringen, dass man gewisse Dinge nicht mehr bezweifeln kann wie Erderwärmung und dergleichen, Artenvielfalt und Artensterben, das ist, denke ich schon, ein wichtiges Moment. Ich denke ... Die Frage ist, ob man ihn hören will. Wir wissen ja, wie das dann geht. Also, man wird sagen, man findet den Text gut, und damit fertig.
Gessler: Brauchen wir denn, wie Franziskus sagt, am Ende eine Spiritualität der globalen Solidarität? Oder ist das nur einfach wunderbar formuliert?
Kampling: Ja, das ist die Frage, ob man Stabreime mag. Also, es gibt etwas sehr Erstaunliches. Es gibt, glaube ich, etwas im Menschen, das nicht verschüttet ist, nämlich die Beziehung zu der Welt, in der er lebt. Also, ich mache das sehr gerne deutlich daran, dass Galilei hin, Galileo her die Leute immer noch sagen, sie bewundern den Sonnenaufgang und nicht, dass die Erde sich um die Sonne gedreht hat. Das heißt, es geht um die Behaustseinsmöglichkeiten in dieser Welt.
Dass religiöse Menschen es vielleicht leichter finden, eine Spiritualität zu entwickeln, und zwar unabhängig von dem Glauben, das mag sein. Was aber jedem vielleicht doch möglich ist, ohne dass man so große Worte wählt, ist, sich zu fragen, ob er auf die Freude dieser Welt als Welt verzichten will. Die Beispiele, Blumen zum Beispiel, kommen ja vor, also, bei Franziskus nun kein Wunder. Also, das, denke ich, ist ein Punkt. Nämlich wirklich diese Freude. Und das andere ist zweifelsohne eine Spiritualität, aus der auch Verantwortung erwächst. Und das müsste man sehen, wie man dieses in Begründungen überträgt. Ob man so große Worte wählt, schön wäre es, wenn die Leute einfach wirklich alles täten, um das zu bewahren. Und es gibt sicherlich auch eine politische Spiritualität.
Aber was ich immer noch – das muss ich doch mal sagen – faszinierend finde, ist, dass ein anderer Mensch in Rom in den 60er-, 70er-Jahren schon etwas Ähnliches geschrieben hat über die Gefahren des Konsumismus, Pier Paolo Pasolini. Und ich bin wirklich erstaunt – also Pasolini, also der Erzketzer schlechthin –, dass jetzt viele seiner Gedanken da sind wieder. Der Konsumismus als Leitreligion der Industriegesellschaft zerstört die Welt. Und das, finde ich, wird in dieser Enzyklika sehr deutlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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