Theater

Eine Frau zum beliebigen Konsum

Von Alexander Kohlmann · 05.04.2014
Die Inszenierung nach einem Text von Sören Voima erinnert an ein Filmset. Juliane Fisch spielt die titelgebende Göre nicht als eine Hure, sondern als kalt kalkulierende Managerin ihrer selbst. Am Ende wird einer Frau applaudiert, die nur noch aus Zelluloid und Pixeln besteht.
Wir hätten es wissen können. Alles an Milan Peschels Inszenierung der Geschichte vom "Mädchen Rosemarie" erinnert an ein Filmset. Während im Vordergrund das Foyer des Hotels "Frankfurter Hof" originalgetreu nachgebaut ist, mit großer Freitreppe, Nierentisch, Piano und Drehtür, liegt das Set von Rosemaries Wohnung außerhalb der Sichtweite der Zuschauer auf der Hinterbühne. Wir sehen es nur als Film, wenn sie es dort den Mächtigen sexuell besorgt. Eine durch und durch korrupte Bande ist das. Der Präsident übt beim Blowjob eine seiner Sonntagsreden im Nachkriegsdeutschland. Demokratie, Freiheit, neue Zeit - all das ist den westdeutschen Wirtschaftseliten natürlich völlig egal. Im ebenfalls nicht einsehbaren Blue-Room über dem Hotel-Foyer treffen sie sich. Wie eine Szene aus David Lynchs "Blue Velvet" sehen die Bilder aus, die der Kameramann überträgt. Wenn das vorgebliche Isoliermatten-Kartell dort oben hinter blauen Vorhängen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik plant.
Und Rosemarie? Juliane Fisch spielt die Göre als eine junge Frau, die um jeden Preis an dieser korrupten Version des Wirtschaftswunders teilhaben will. Keine ausgebeutete Hure ist sie, sondern eine eiskalt kalkulierende Managerin ihrer selbst. Die ihren Marktwert beständig neu taxiert. Erst liegt die Stunde mit ihr bei 500 DM, dann sind es schon 600 DM. Die Wirtschaftsbosse liegen ihr nackt zu Füssen. Ficken, stoßen, blasen, Geld zählen - die Geschichte dreht sich um sich selbst, wie die Drehbühne. Die Rückseite des Hotelfoyers offenbart eine Cinemascope-Leinwand, auf der wir Rosemaries Treiben jetzt durchweg als Film verfolgen dürfen.
Immer wieder neu instrumentalisiert
Klischeebeladen und undifferenziert, eine Denunzierung der Nachkriegsgesellschaft, die scheinbar so plump daherkommt wie in einem Propagandafilm der UFA aus den 50er-Jahren? Auch eine Art ostdeutsche Abrechnung mit westdeutscher Geschichte, in jedem Fall unterkomplex? Dass zu diesem Treiben und den Filmbildern beharrlich die Musik aus David Lynchs doppelbödigen Meisterwerk "Mulholland Drive" aus den Boxen dröhnt, hätte uns stutzig machen können.
Der große Bruch kommt nach der Pause. Als Milan Peschel, der aufgrund einer Erkrankung im Ensemble die Rolle des Portiers selbst spielt, seine Schauspielerin des Mädchen Rosemarie plötzlich anfaucht, "so haben wir das nicht geprobt, Nadja". Nadja Tiller, nicht Juliane Fisch. Und das ganze Treiben auf der Bühne zerfällt - in ein Filmset. Das Filmset eben jenes tendenziösen Films von Rolf Thiele, dem schon damals zurecht eine klischeehafte und einseitige Darstellung westdeutscher Verhältnisse vorgeworfen wurde. Über fünfzig Jahre später sind wir da schon weiter. Um erfolgreich zu sein und sich zu verkaufen, musste der Film provozieren, erklärt Peschel, der jetzt Regisseur Thiele spielt, bevor die Ebenen vollends verschwimmen. Juliane Fisch wieder zu Schauspielerin Nadja Tiller als Rosemarie Nitribitt wird, ihre Bilder auf den Leinwänden erstrahlen und irgendwo auch eine Theater-Crew der Gegenwart mit der Kamera Rosemarie zu Leibe rückt.
Die will jetzt Präsidentin werden, "ich wäre nicht die erste Hure, die einen Bundespräsidenten heiratet", ruft sie noch, bevor sie vor allen Augen erwürgt wird. Mit Blick in die Kamera, ihr Mörder ist der Kameramann, sind wir alle, die Rosemaries Schicksal seit Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Medien lustvoll verfolgen. Peschel zeigt das Mädchen Rosemarie als schillernden Medienmythos, der immer wieder neu instrumentalisiert wird. Dessen Rezipienten das wahre Schicksal der Nitribitt inzwischen völlig egal ist. Zum Schluss gucken alle auf die Leinwand, auf der die Fisch auch nach ihrem Bühnentod für immer glänzt. Und applaudieren einer Frau, die nur noch aus Zelluloid und Pixeln besteht. Und inzwischen beliebig konsumiert werden kann. Zum Beispiel an diesem Abend, den man am liebsten gleich noch einmal sehen würde.
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