Theater als "heiliges Ritual"

Moderation: Susanne Burkhardt · 21.10.2013
Seine Schauspieler habe er immer geliebt, sagte Dimiter Gotscheff in seinem letzten Interview - wenige Tage vor seinem Tod am Wochenende. In seiner Arbeit als Theaterregisseur habe er immer nur Räume schaffen wollen, in denen sich ihre Persönlichkeiten entfalten konnten.
Hier können Sie die 25-minütige ungesendete Langfassung des Interviews hören.

Ulrike Timm: Dimiter Gotscheff, einer der eindrücklichsten Theaterregisseure unserer Zeit, ist gestorben, nach kurzer, schwerer Krankheit. Er wurde 70 Jahre alt. Unsere Kollegin Susanne Burkhardt traf ihn wenige Tage vor seinem Tod. Gesprächsanlass war ein gerade erschienenes Buch: "Dunkel, das uns blendet", und es beschreibt die Arbeit des Regisseurs. Niemand wusste, dass es das letzte journalistische Gespräch mit dem Theatermann sein würde, sozusagen sein Radiovermächtnis. Susanne Burkhardt fragte Dimiter Gotscheff zu Beginn nach seinem berühmten, nach seinem geradezu legendären Schweigen, mit dem vieles in seiner Theaterarbeit beginnt – oder begann, wie man heute sagen muss.

Dimiter Gotscheff: Ich rede selten über mich, ich schweige lieber gern, und meine Arbeit ist so, dass ich, wenn ich was rede oder wenn ich etwas zu sagen habe oder sagen möchte oder schreien möchte – das tue ich im Raum, im Theaterraum, während der Probe. Da kann ich mich mitteilen. Es ist ein Ritual, diese Begegnung mit Raum, Schauspieler, Text, das ist etwas, was eine … Klingt sicher blöd, aber es ist ein heiliges Ritual.

Susanne Burkhardt: Wenn man das Arbeitsbuch liest, da gibt es viele Schauspieler, die die Arbeit mit Ihnen beschreiben und gerade in der Arbeit "Zement" in München, die ja in diesem Jahr stattgefunden hat, da gibt es einen Schauspieler, er sagt, er hatte wahnsinnige Angst am Anfang, weil er dachte, da kommt dann der Gotscheff und dann sagt der erst mal nichts. Und mich erinnerte das so an Jürgen Gosch, der ja auch die Schauspieler manchmal sehr auf ihr Innerstes zurückgeführt hat, indem er einfach erst mal nichts gemacht hat und die hat einfach kommen lassen. Und das ist ja für Schauspieler, die gewohnt sind, dass jemand sagt, mache, das, mache das, auch etwas, was Angst auslösen kann. Und in diesem Text hieß es dann, ja, also – und dann merkt man, dass die, die er kennt, dass er die so liebt, und dann will man auch geliebt werden.

Haben Sie das oft erlebt, so das Buhlen, dieser unbedingte Wunsch, geliebt zu werden?

"Das Schweigen ist ja auch Angst"
Gotscheff: Ja, ich bin auch so eine feige Sau, weil das Schweigen ist ja auch Angst, und ich bin sehr glücklich, dass in jeder Begegnung Schauspieler sich melden bei mir mit der Bitte: Weiter! Woher das kommt – ich nehme an, dass wir konkret in der Arbeit auf unsere Grenzen stoßen. Und das ist ein schmerzhafter Prozess, aber auch ein sehr kreativer Prozess, wo man sich in der Truppe frei formulieren kann, äußern kann. Und dass er nach der Arbeit oder während der Arbeit lechzt nach weiterer Arbeit, ist bei mir genauso. Ich lechze auch nach Neubegegnung, Neuentdeckung.

Und wahrscheinlich lieben die auch, dass ich ziemlich frei also umgehe mit dem Schauspieler. Für mich ist der Schauspieler wichtiger als ich. Ich versuche, nur Räume zu schaffen, wo die Persönlichkeit sich entfalten kann, ihm so eine Piste freizuschaufeln. Und da fühlt man sich wohl, wenn man einfach die Piste runterrasselt oder umfällt oder … Viele sagen, dass ich die Schauspieler liebe, und das ist auch so, ja. Ich liebe sie, aber ich beneide sie auch, weil ich halt nur unten sitzen muss und tun, als ob ich alles weiß. Mache ich aber nicht. Und deswegen halt gehe ich aber auch mal auf die Bretter – nicht, dass ich es besser kann, sondern den Text, der mich beschäftigt, auf meinem eigenen Körper zu verspüren. Da ist Ergebnis gar nicht so wichtig. Wichtig ist die Suche oder, ja, diese offene Wunde, die bei jedem da ist. Die kannst du noch größer machen, ja.

Burkhardt: Der Regisseur und Schauspieler Dimiter Gotscheff hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Gerade ist bei "Theater der Zeit" ja ein Arbeitsbuch erschienen über ihn, der Titel: "Dunkel, das uns blendet" – natürlich ein Heiner-Müller-Zitat. Sie sagen, Sie lieben die Schauspieler, und ich vermute jetzt mal, dass die Schauspieler vielleicht Sie deshalb lieben, weil dieses Schweigen, was Sie in den Raum stellen, auch meistens zu Beginn einer jeden Produktion, eigentlich das Theater zu so einer Art Gegenentwurf werden lässt zu dem, was heute die Gesellschaft ausmacht, also das Schweigen, das Warten, das Keine-Antworten-parat-Haben als Gegenentwurf zu einer immer schnelllebigeren Zeit, die immer schneller Antworten parat hat und auch, wo diese Ruhe und diese Zeit, um an diese Wunden überhaupt zu kommen, gar nicht mehr stattfindet. Ist es vielleicht so was?

"Bevor das Wort kommt, ist was anderes da"
Gotscheff: Das ist perfekt, so, wie Sie es jetzt beschrieben haben. Besser kann man es gar nicht … Also ich kann es nicht besser sagen. Finde ich sehr schön, was Sie sagen. Ja, offensichtlich ist der Raum, einer der wenigen Räume, wo man seinen eigenen Tod spüren kann, wo man auch sein Glücksgefühl äußern kann, wo die Zeit spürbar ist. Und wir versuchen, manchmal auch schlau, Kompromisse zu machen, auch, damit wir auch unser Leben sozusagen verlängern. Dass wir die Zeit, die wir im Deutschen Staatstheater haben, dass wir die möglichst gut benutzen.

Ja, dieser Brief von Müller und das Finale, "dann wird man das Schweigen des Theaters hören, was der Grund seiner Sprache ist" – also diese letzte Passage von diesem Brief lese ich oft, muss ich zugeben, dass ich es selten verstehe, aber immerhin ab und zu verstehe ich es. Und das Schweigen ist, ja, der Anfang der Kreativität. Bevor das Wort kommt, ist was anderes da – die Notwendigkeit, dann etwas zu sagen oder laut zu sagen, ist eine Geburt. Man bricht das Schweigen, wo man im Schweigen viel, viel gesammelt hat auch.

Neulich in Griechenland, da habe ich mit griechischen Schauspielern "Die Perser" inszeniert, und als wir nach Epidauros für die Schlussproben gekommen sind, habe ich zusammen mit diesen Steinen geschwiegen. Und ich glaube, dass es deswegen gute Arbeit geworden ist, das Schweigen der Steine mitzunehmen.

Burkhardt: Und es gibt ein Foto, wie Sie auf den Steinen von Epidauros sitzen, das bei Ihnen zu Hause hängt, das jedenfalls schreibt der Schauspieler Sebastian Blomberg in dem Arbeitsbuch, und er sagt in seinem Text: "Ich glaube, wenn er, Dimiter Gotscheff, einen Wunsch frei hätte, dann wäre er das, einer dieser Steine im Amphitheater von Epidauros. Er sehnt sich zu den Ursprüngen." Stimmt das, wäre das Ihr Wunsch, wenn Sie einen frei hätten?

Gotscheff: Ja, ja.

Burkhardt: Sie haben gerade schon den Brief von Heiner Müller erwähnt, den er Ihnen geschrieben hat auf die Aufführung hin "Philoktet" 1982 in Sofia. In diesem Brief … Sie haben das Zitat jetzt nur teilweise wiedergegeben, ich würde es noch mal ganz wiederholen – Sie korrigieren mich, wenn ich es falsch sage: "Erst, wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist". Sie haben schon über diesen Brief gesprochen und über das Schweigen.

Wir müssen natürlich über Heiner Müller reden und Heiner Müller steht am Beginn Ihrer Theaterarbeit, einer Inszenierung in Nordhausen, dann die eben erwähnte "Philoktet"-Aufführung in Sofia, und danach auch "Quartett" in Köln. Heiner Müller durchzieht Ihre ganze Karriere und auch, glaube ich, Ihr ganzes Leben.

Gotscheff: Ja.

Burkhardt: Das ist Ihr Hausheiliger, wie manche sagen. Wäre Ihre Karriere, Ihr Leben ohne Heiner Müller überhaupt denkbar?

"Heiner Müller hat mir eine "Nabelschnur" zugeworfen"
Gotscheff: Nein, puh, also ich möchte nicht ein Leben haben ohne Heiner Müller. Er hat eine Nabelschnur geworfen, ich hänge an ihr. Was der Müller allgemein mir eröffnet hat, eine Rezeption der Antike – das ist eine einmalige Leistung in der Weltliteratur und Welttheater. Und ich verstehe nicht, dass er so schnell verdrängt wird. Wie der Müller gedichtet hat, wie er seine Entwürfe in der Sprache formuliert hat, ist einzigartig. Das ist ein Glück, dass man so einem Mann begegnet oder dass er noch da ist, einfach seine Texte, die sind da.

Burkhardt: Es gibt, Dimiter Gotscheff, ganz, ganz viele Begriffe, die auf Sie angewendet werden, ich nenne mal ein paar, die kennen Sie natürlich alle: wandelnde, authentische Inkarnation Heiner Müllers, Indianer, Grottenolm, Einsiedler, Golem, Schildkröte, Rowdy, Balkanese, empfindsamer Barbar, ruhender Stein voll krimineller Energie. Welches dieser Begriffe beschreibt Sie am besten oder trifft so auf Sie zu?

Gotscheff: Oh, ja, da fällt mir auf, dass all diese Begriffe nur so, ja, halt nur finster sind. Ich habe nichts gegen Kröte, aber ich lache auch gerne, als Kröte auch. Ich bin ein, wenigstens zu meinen Schauspielern, liebevoller Mensch. Ich glaube, ich habe auch etwas von den Festen, der bösartigen, aber auch sehr lustvollen Dionysosfeste, wo gefeiert wird bis zum Umfallen und wieder aufstehen und wieder feiern. Also da vermisse ich so einen Aspekt: dass das Spiel auch nicht nur eine finstere Angelegenheit ist, sondern eine lustvolle. Ich finde, dass der Müller da eine ganz tolle Formulierung gemacht hat: "Theater hat mit Kopf nichts zu tun, Theater kommt aus den Fersen." Also erst muss die Lust, der Körper entstehen, zum Ausdruck kommen, dann kommen die Worte auch, also beziehungsweise die entwickeln sich mit diesem Rhythmus der Fersen.

Timm: Der Theatermensch Dimiter Gotscheff, am Wochenende ist er mit 70 Jahren sehr plötzlich gestorben, meine Kollegin Susanne Burkhardt führte dieses Gespräch vor wenigen Tagen in Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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