Terror in Frankreich

Frustrierte oder Gotteskrieger?

Französische Polizisten patrouillieren am Strand von Cannes an der Côte d'Azur.
Frankreich hat Angst vor dem nächsten Attentat: Die Polizei patrouilliert sogar am Strand von Cannes an der Côte d'Azur. © dpa / picture alliance / EPA / Sebastien Nogier
Von Jürgen König · 13.08.2016
Frankreich ist im Urlaub – und erholt sich ein wenig vom Terror, der das Land so hart traf wie kein anderes in Europa. Zwei prominente Islamwissenschaftler streiten zugleich darüber, ob es wirklich religiöser Fanatismus ist, der die Attentäter antrieb.
Frankreich macht Ferien. Wer am Strand liegt, sieht dort patrouillierende Polizisten, vielleicht auch Soldaten an sich vorbeiziehen, selbst Rettungsschwimmer sind bewaffnet. Frankreich ist in besonderem Maße das Ziel islamistischen Terrors – zuletzt war die Ermordung des Priesters von Saint-Etienne-du-Rouvray der siebte Anschlag innerhalb von 18 Monaten. Warum immer wir? fragen sich viele.
Hilflos wirkt das Land bei der Suche nach Antworten – und das nicht zuletzt auch, weil die beiden prominentesten, meistzitierten französischen Islamwissenschaftler, Gilles Kepel und Olivier Roy, seit Monaten sehr verschiedene Erklärungsmuster bieten. Mit dem Islam hätten die Anschläge im Kern nichts zu tun, sagt der 66-jährige Olivier Roy. Die Täter seien durchweg junge Leute der zweiten Einwanderergeneration gewesen, nicht religiös, sondern geprägt von der französischen Jugendkultur. Die Radikalisierung sei stets sehr schnell erfolgt. Olivier Roy im Schweizer Sender RTS:
"Das heißt, es ist nicht so, dass sich hier ein Teil der muslimischen Gemeinschaft aus religiösen Gründen radikalisiert hat, was dann zu Gewalttaten führt, nein, wir haben es mit Jugendlichen vom Rand der französischen Gesellschaft, vom Rand auch der muslimischen Gemeinschaft zu tun, die einen abrupten Bruch vollziehen, getragen vom Willen, zum Helden zu werden, zu einem negativen Helden natürlich, der die Gesellschaft herausfordert. Das sind also Leute, die aus einer tiefen persönlichen Frustration heraus handeln, das ist ganz klar."
Diese Menschen, so Olivier Roy, würden den Islam lediglich wie eine Bühne benutzen, um ihre Radikalität auszuleben:
"Ce sont des radicaux qui trouvent dans l’islam une manière de mettre en scène leur radicalité."

"Alle Terroristen beziehen sich auf den Islam"

Der 61-jährige Gilles Kepel widerspricht dem. Er sieht den Islam in seiner radikalen Erscheinungsform, dem Salafismus, als zentrale Ursache für die terroristische Bedrohung an; auch Frankreich sei von immer radikaleren Gruppen durchdrungen, sagte er im Sender BFM. Die religiöse Frage würde sich immer stellen:
"Sie gehört dazu, wenn sie auch nur ein Element ist. Nur weil man Muslim ist, begeht man ja keine Verbrechen. Aber: Alle Terroristen beziehen sich auf den Islam, oder besser: auf eine Lesart des Islams. Und es gibt eben Fälle, wie der des Mörders der beiden Polizisten von Magnanville – da berief sich der Täter unmittelbar nach den Morden in einer Videoaufzeichnung direkt auf die Terrorgruppe "Islamischer Staat", er zitiert auch auf arabisch etliche religiöse Texte. Das heißt, es stellt sich schon die Frage: Welche Interpretation des Religiösen ist hier zulässig?"
Und Gilles Kepel erinnert daran, dass Gruppierungen wie der "IS" auf dem Weg zur Errichtung eines neuen "Kalifats" sehr gezielt vorgehen würden:
"Es war von Anfang erklärtes Ziel der Dschihadisten, in den europäischen Ländern, im Besonderen in Frankreich, Bewegungen zur Destabilisierung der Gesellschaften aufzubauen. Durch Menschen, die von überall kommen, durch Anschläge, die die Sicherheitskräfte mit der Zeit ermüden lassen, die die Bevölkerungsgruppen in Frankreich gegeneinander aufhetzen, so dass es zu Rissen und Brüchen kommt, durch die die Gesellschaft schließlich implodiert."

Mit Heldenpathos gegen das Nazitum der Eltern

Olivier Roy findet solche Warnungen übertrieben. Er spricht von "Nihilismus", nennt ihn untypisch für den Islam, spricht von einem "Generationenbruch", von der "Revolte junger Leute gegen das, was ihre Eltern repräsentieren". Und er vergleicht die jetzigen Terrorattacken mit denen früherer Terrorgruppen, etwa der "Roten Brigaden", der "Action directe" oder auch der RAF:
"Das Argument der Baader-Meinhof-Bande war zu sagen, die Generation ihrer Eltern hätte über die Verbrechen der Nazis geschwiegen. Und also kämpften sie mit großem Heldenpathos gegen das Nazitum, gegen Faschisten, gegen Kapitalisten. Bei den jungen, radikalen Islamisten haben wir das gleiche Phänomen. Sie werfen ihren Eltern vor, ihnen nicht den "richtigen Islam" vermittelt zu haben, Sie werfen ihnen vor, ein Leben als Deklassierte akzeptiert zu haben, sich nicht gegen ihr Schicksal als Randständige der Gesellschaft aufgelehnt zu haben. Auch diese Jungen, und das ist wiederum wie in den 60er- und 70er-Jahren, auch sie sagen: "Es gibt keine Unschuldigen! Wer sich nicht auflehnt, ist Teil des Systems und damit schuldig!" Und also kämpfen sie wie früher im Namen einer großen Sache, damals war das 'die Revolution', heute ist es 'der Dschihad'!"
Beide Lesarten der Ereignisse werden derzeit in Frankreich heftig diskutiert. Sie widersprechen sich durchaus nicht immer, einziger nicht auflösbarer Gegensatz bleibt die Frage nach der Religion als Ursache der Gewalt. Sie wird das laizistische Frankreich noch lange beschäftigen – weit über die Ferien hinaus.

Gilles Kepel: Terreur dans l'Hexagone. Genèse du djihad français. Gallimard, 2015, 352 Seiten, 21 Euro.
Das Buch erscheint auf Deutsch am 14. September im Verlag Antje Kunstmann, München.

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