Tendenziell gibt es "keine Wahl" mehr bei den Wahlen

Herfried Münkler im Gespräch mit Ute Welty · 31.12.2012
Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler läuft die parlamentarische Demokratie Gefahr, ihre Gestaltungsmacht einzubüßen. Die Politik werde von der Wirtschaft getrieben "wie ein Rudel Rehe durch ein paar Wölfe" und sei im zurückliegenden Jahr zu keinem Zeitpunkt "proaktiv" gewesen.
Ute Welty: Was war das für ein Jahr, diese 2012! Da sind Bundespräsidenten zurückgetreten und Umweltminister gefeuert worden, die Kanzlerin wusste manchmal nicht mehr so genau, auf welchem Gipfel sie sich eigentlich befindet und die Parlamentarier entschieden wieder mal im Eiltempo über immer wieder neue Milliarden, die irgendwo in Europa einem Staat in der Krise aus derselben helfen sollten. Ob’s funktioniert hat, ist bislang nicht überliefert. Es gäbe also gute Gründe dafür, dieses System und diese Staatsform infrage zu stellen, allein, es macht kaum jemand! Einer, der es tut, das ist Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Morgen!

Herfried Münkler: Guten Morgen!

Welty: Bislang haben die Politiker uns ja glauben gemacht, es liegt vor allem an den Umständen, dass dieses oder jenes wie zum Beispiel auch die Griechenland-Rettung nicht funktioniert. Sie sagen jetzt, wir haben womöglich ein systemisches Problem, wir stoßen an die Grenzen der parlamentarischen Demokratie. Das klingt sehr fatalistisch!

Münkler: Ja, ich weiß nicht, ob das jetzt nur fatalistisch klingt, sondern das ist zunächst einmal eine Problembeschreibung. Also, parlamentarische Demokratie heißt ja zunächst einmal Alternativenbildung, und zwar Alternativenbildung in der Weise, dass das Volk bei Wahlen über zumindest zwei Möglichkeiten entscheiden kann, und das nicht nur in peripheren, sondern in zentralen Fragen der Politik. Wir haben nun genau in diesem Jahr und vor allen Dingen in der Frage des Euros, aber auch eigentlich in anderen zentralen wirtschafts- und währungspolitischen Fragen sehen müssen, dass es diese Alternativen nicht gibt oder dass die Opposition dazu nicht in der Lage ist, sie zu bilden, und dass es also, wenn ich mal so sagen darf, tendenziell keine Wahl gibt bei den Wahlen. Das heißt jetzt nicht, dass ich irgendetwas Böses über die Demokratie sagen will oder ihr einen schlechten Ruf anhängen möchte, sondern das heißt zunächst einmal, dass ich Probleme konstatiere, in die diese politische Ordnung, wie sie sich in Europa seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, gibt, und dass die nicht mehr all das lösen kann offenbar, was ihr auf die Agenda gesetzt wird.

Welty: Erfunden wurde die parlamentarische Demokratie – Sie haben es gerade schon gesagt – vor 300 Jahren, das ist in der Geschichte der Menschheit nicht viel mehr als ein Wimpernschlag. Müssen wir vielleicht einfach nur mehr üben?

Münkler: Na ja, gut, ich meine, ich will nicht ausschließen, dass es Mechanismen und Möglichkeiten der Effektivierung gibt. Es wird ja immer wieder experimentiert, inwieweit nicht möglicherweise plebiszitäre Elemente in Einzelfragen, in Grundsatzfragen wichtig sind als eine Komplementierung eines Verfahrens, in dem eine gewählte politische Klasse oder Elite in der Lage ist, die Dinge so aufzubereiten, dass sie dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden und dass das dann darüber entscheiden kann. Also, und zu sagen, das ist aber ein Sprung in das Jahr zurück, mit Stuttgart 21 hat man ja auch die Probleme gesehen, die es in dieser Richtung gibt, und auch eine gewählte andere Regierung hat dann Entscheidungen, die einmal getroffen waren, nicht rückgängig machen können. Also, da kann man vielleicht das eine oder andere experimentell oder durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen in den Griff bekommen, aber das große Problem bleibt, dass globale Probleme offenbar auf der nationalen Ebene nicht mehr bewältigbar sind. Und das umgekehrt zu sagen, na ja, dann heben wir die Demokratie eben auf eine höhere Ebene, sei es nach Europa, sei es möglicherweise gar in den Weltzusammenhang, den Einfluss des Einzelnen so verdünnen, dass er im Prinzip keine Bedeutung mehr hat.

Welty: Aber ist dieser Vorgang wirklich unumkehrbar, dass nicht die Politik das Geschehen bestimmt, sondern der Markt?

Münkler: Na ja, es ist ja nicht nur der Markt. Der Markt, das wäre mir jetzt als Begriff zu einfach. Den Markt hat es ja auch in früheren Gesellschaften gegeben, aber da war die Politik in der Lage, sagen wir mal, die Rahmenbedingungen des Agierens am Markt zu bestimmen. Sei es durch Gesetze, sei es durch Zollregelungen, sei es durch Begünstigungen, also das, was noch in den Zeiten des Keynesianismus Globalsteuerung und derlei mehr hieß. Das Problem ist, dass in den Zeiten der Globalisierung die Politik eben diesen Einfluss nicht mehr hat, sondern dass sie, na, von der Wirtschaft vor sich hergetrieben wird wie ein Rudel Rehe durch ein paar Wölfe. Und dass sie zwar sozusagen gelegentlich starke Sprüche macht, wie sie das ändern will, aber sie in dieser Frage nichts hinbekommen hat. Das Unbehagen an der Politik, wenn ich das mal so sagen darf, im zurückliegenden Jahr besteht ja auch darin, dass wir gesehen haben: Politik reagiert nur auf Probleme, die ihr vorgegeben werden. Und sie ist zu keinem Zeitpunkt eigentlich proaktiv gewesen.

Welty: Sie haben eben davon gesprochen, dass man Alternativen aufzeigen sollte. Welche Alternative zeigen Sie auf zur parlamentarischen Demokratie?

Münkler: Nun, das ist natürlich wunderbar zu sagen, okay, es muss was anders sein! Na ja, zunächst einmal …

Welty: Aber es ist eine logische Frage, oder?

Münkler: Natürlich, ja. Zunächst einmal ist die genaue Beschreibung der Probleme die Voraussetzung dafür, dass man sich über Alternativen Gedanken macht. Ich habe ein bisschen was gesagt über das Problem, sehr viel stärkere direktere Elemente hereinzunehmen, um den Einfluss der Bevölkerung, oder sagen wir mal die Wirkungsweise der Demokratie, aufrechtzuerhalten. Aber was ich zunächst einmal konstatiere, ist das Abwandern von Entscheidungen aus dem genuin demokratisch kontrollierten Politikprozess in eine Reihe von Expertenrunden, Expertenberatungen. Und damit verbunden ein ungeheures Wachstum der Macht der Exekutive, also der Bürokratie, die permanent Entscheidungen trifft, die eigentlich immer nur noch im Nachhinein von den Parlamenten legitimiert wird. Also, das Problem ist zunächst einmal, zu beschreiben, was der Fall ist, und das genau zu beschreiben und sich zu vergewissern, dass das nicht die Folge einer Übergangssituation ist oder eines zeitlich begrenzten Problemkreises, den man aber wieder in den Griff bekommt, sondern vielleicht in den nächsten Jahren noch eine Zeit lang dies zu beobachten. Und wenn sich dabei herausstellt, was sozusagen im Kern meiner Beobachtung steht, nämlich dass es dem Staat nicht mehr gelingt, die Temporalität des Geschehens auf die Erfordernisse der parlamentarischen Demokratie, ja, zu transformieren, dann allerdings haben wir ein Problem. Und dann müssen wir uns überlegen, ob wir die Demokratie modernisieren oder aber uns abfinden müssen mit einer Entwicklung zu einer Expertenherrschaft.

Welty: Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin. Ich danke fürs Interview in dieser "Ortszeit"!

Münkler: Bitte schön!

Welty: Und über die Alternativen sprechen wir dann 2013 noch mal!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema