Tel Aviv erleben - den Veränderungen auf der Spur

Von Lissy Kaufmann · 12.07.2013
In Israel gehören die sogenannten Ulpanim, also die Sprachschulen, zur Kultur des Landes. Israel ist ein Einwanderungsland. Doch zwischen dem gelernten Hebräisch der Ulpan und dem Straßenslang besteht ein großer Unterschied. Guy Sharett erklärt auf Stadttouren durch die Straßen Kultur, Sprache und Geschichte.
Mit einem weißen Täfelchen in der Hand steht Guy Sharett an diesem Abend in der Herzl-Straße im Süden Tel Avivs. Guy ist Stadtführer und Sprachlehrer in einem. Er will den Teilnehmern seiner Stadttour die Kultur und Geschichte des Szene-Viertels Florentin näher bringen. Und mithilfe des weißen Täfelchens auch Hebräisch lehren. Flotten Schrittes führt Guy die Touristen, die Neueinwanderer und Sprachschüler durch die Straßen

Guy: "Wer kann das lesen?"
Frau: " Smolanim ha bayta."
Guy: "Smolanim ha bayta - Linke geht nach Hause! Zunächst sieht es aus wie ein Schriftzug der Rechten. Aber es ist grün. Das ist das Grün der Meretz-Partei und ist Teil ihrer Kampagne. Es heißt: Linke kommt zurück nach Hause! Wir sind das wahre Zuhause für alle Linken. Es gab einen Rechtsruck. Linke kommt zurück nach Hause! Das A am Ende ist althebräisch und zeigt die Richtung an. Im Lateinischen heißt es 'ad romam', 'Ich gehe nach Rom'. Hier haben wir eine Deklination von 'bayt' und das 'a' bedeutet 'nach'."

Der 41-jährige Guy schreibt einzelne Worte auf seine kleine Tafel, damit die Teilnehmer besser folgen können. Viele Schriftzüge in Tel Aviv sind politisch und kritisch, oft sind es Wortspiele, manchmal sind sie zynisch oder haben eine versteckte Botschaft. Man braucht nicht nur Hebräisch-Kenntnisse, um sie zu entschlüsseln, sondern auch Kenntnisse der israelischen Kultur, der Politik und der Geschichte. Guy, der Linguistik studiert hat und zunächst nur als Hebräisch-Lehrer arbeitete, hat das bei seinen Schülern früh erkannt.

"Vor zwei Jahren während der Proteste war der Rothschild-Boulevard voller Banner, und viele diese Banner konnte man eigentlich nur als Israeli verstehen. Und so bin ich auf die Idee gekommen, Touren zu machen und den Hunger nach einer Erklärung dieser Schriftzüge zu stillen. Es ist nicht nur Unterricht, es ist eine Mediation von Stickern, von Straßennahmen oder Graffitis, die jemand geschrieben hat und die ein anderer verändert oder ergänzt hat. Man hat also gleich einen Dialog, oder Trialog oder Multilog von Einheimischen."

Als language geek, also als einen Sprachenverrückten, bezeichnet sich Guy selbst. Er erklärt begeistert die Herkunft von Worten und wie sie sich mit der Zeit verändert haben. Manchmal nennt er Beispiel aus anderen Sprachen. Was im Unterricht oft langweilig klingt, erklärt Guy mitreißend. Graffitis sind in Israel offiziell verboten. Aber sie sind zumindest toleriert, vor allem in Florentin. Guy weist dennoch darauf hin, dass die Werke umstritten sind:

"Das ist die Arbeit von eggplant kid, EPK. Er hat einen Fetisch für Auberginen. Das ist ein schmaler Grat zwischen Vandalismus und Straßenkunst. Wir müssen das selbst entscheiden. Ich mag die Auberginen, aber wenn es mein Haus wäre, könnte es ein Schandfleck sein."

Der 30-jährigen Marian hat Guy mit seiner Tour die Augen geöffnet. Die Amerikanerin ist für einige Wochen in Israel, um Hebräisch zu lernen. Durch die Tour hat sie mehr entdeckt, als die meisten Israelis, die hier täglich durch die Straßen laufen:

Marian: "Ich glaube, viele Menschen laufen durch die Straßen, sehen Graffitis und ignorieren sie. Sie nehmen sich nicht die Zeit, um zu schauen, ob eine Botschaft dahinter steckt. Diese Tour hat mich anders auf die Dinge schauen lassen als zuvor."

Marian hat einige Fotos geknipst. Sollte sie diese irgendwann ins Internet stellen, hätte Guy ein weiteres Ziel erreicht:

Guy: "Ich lebe hier und ich dokumentiere die Gentrifizierung, den Wandel dieses Viertels. Wenn die Menschen Fotos von dieser Tour auf Facebook hochladen, überleben die Straßen im Web. Selbst, wenn die Kräne angerückt sind und einige Orte zerstört haben, bleiben die Bilder."

Nach eineinhalb Stunden ist die Tour zu Ende. Es bleibt das Gefühl, in eine ganz andere Welt abgetaucht zu sein, die man zwar täglich vor Augen hat, aber meist übersieht.

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