Tatort Finanzmarkt

28.07.2011
2008 wurde mit dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers eine Lawine losgetreten, die heute unter dem Begriff "Finanzkrise" firmiert. Ein Begriff, den Wolfgang Hetzer für gezielte Verharmlosung hält. In seinem Buch skizziert er, wie eine mögliche Strafverfolgung der Banker aussehen könnte.
Diesmal war es kein Freitag wie 1929, es war ein Schwarzer Montag. Am 15. September 2008 krachte mit Lehman Brothers die erste der Top-Banken zusammen. Eine Lawine folgte. Was danach ans Licht kam und im Januar 2011 durch den "Financial Crisis Report" des US-Senats en détail bestätigt wurde, ist die bis dato größte Kapitalvernichtung der Geschichte. Seitdem muten die internationalen Finanzmärkte an wie eine Spielwiese für "global vagabundierende 'Soziopathen'".

Banker aus feinsten Instituten haben jahrelang Schrottpapiere als Goldesel verkauft. Sie haben damit nicht nur perverse Mengen Geld verdient. Sie haben Millionen Menschen ruiniert, obdachlos gemacht, in den Tod getrieben. Und zur Belohnung dürfen sie auch noch ganze Staatshaushalte plündern. Ihre Firmen sind schließlich "too big to fail", die gehören gerettet. Mit pervers viel Geld von Leuten, die "small enough to fail" sind, aber brav Steuern zahlen.

Dass sich just die "Fachleute", die den Karren in den Dreck gefahren haben, Boni dafür genehmigen durften, ihn wieder herauszuziehen, nennt Wolfgang Hetzer "die lukrativste und längste Geiselnahme der Kriminalgeschichte".

Hetzer ist EU-Korruptionsexperte, er weiß, wovon er spricht. Er war in Gerhard Schröders Kanzleramt zuständig für die Aufsicht über den Bundesnachrichtendienst (speziell in Sachen Organisierte Kriminalität und Geldwäsche) und arbeitet seit 2002 im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung OLAF. Er weiß auch genau, wovon er schweigen muss - aus dienstrechtlichen, vielleicht auch aus Selbstschutz-Gründen. Aber was er schreibt, ist Klartext - nüchtern, fundiert, nie knochentrocken, sondern gespickt mit süffisanten Giftpfeilen und kluger Ironie.

Den Begriff "Finanzkrise" hält er für gezielte Verharmlosung, denn aus der "hat sich eine wirtschaftliche und aus dieser eine soziale Krise entwickelt." Und deren Folgen sind so unabsehbar wie nachhaltig, wer will, kann sie bis zu bürgerkriegsartigen Szenarien durchspielen.

Dass die trennscharfe "Unterscheidbarkeit von Politik, Wirtschaft, Staatsbürokratie und organisierten kriminellen Strukturen" eine Illusion für ganz blaue Augen ist, wissen Fans von Ross Thomas, John le Carré et al. längst. Aber die, wenn man so will, True-Crime-Version dazu, Hetzers Analysen, wie und wo sie verzahnt sind, welche - womöglich unaufhebbaren - Mentalitätsverschiebungen hier und heute schon daraus resultieren, haben noch mal ein anderes Spannungskaliber.

Die größte Sprengkraft steckt jedoch in einem scheinbar banalen Wort: Seit 2008 ist "der Markt" an sich als Tatort sichtbar geworden. Tatort? Wie heißt denn die Tat? Diebstahl? Betrug? Korruption? Organisierte Kriminalität? Was genau definiert die Akteure als Täter? Mit anderen Worten: Wo bleibt eigentlich das Strafrecht? Um diese Fragen geht es dem gelernten Juristen Hetzer, und sein Buch kreist um die Gründe für die beunruhigende Erkenntnis: An dieser Stelle existiert Strafrecht praktisch nicht; wo es existiert, greift es nicht; wo es greift, sind Sanktionen etwa so beeindruckend wie ein Tropfen Zitronensäure im Ozean.

Vor dem Gesetz bleiben Banker und Banditen bis auf weiteres gleich: ungeschoren und alimentiert von uns allen. Noch geht – und kommt – die Politik nicht dagegen an. Aber die Lage ist nicht hoffnungslos, es gibt realistische Chancen. Einige benennt Hetzer im letzten Kapitel.

Besprochen von Pieke Biermann

Wolfgang Hetzer: Finanzmafia - Wieso Banker und Banditen ohne Strafe davonkommen
Mit einem Vorwort von Martin Schulz
Westend Verlag, Frankfurt/Main 2011
336 Seiten, gebunden, 19,95 EUR
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