"Tanzt nicht für das Publikum"

Von Wiebke Hüster · 19.05.2009
Eine Gruppe russischer Tänzer unter Leitung des Impressarios Serge Diaghilew revolutionierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ballett. Von der Paris-Premiere im Jahr 1909 bis 1929, dem Todesjahr Diaghilews, begeisterten die Ballets Russes das westliche Publikum mit zeitgenössischer Musik, exotischen Sujets, brillanten Tänzer und neuen Choreographien, ausgestattet von den jungen Künstlern der Moderne - so wurde der Tanz für einige Jahre zur Leitkunst der Avantgarde. Jede Premiere sorgte für neue Begeisterung - und manchmal für neue Skandale.
"In meinen Augen ist ein Ballett ein vollendetes Werk und nicht eine Nummernabfolge, und jeder Teil eines Balletts ist mit den anderen verbunden. Das ist nicht irgendeine Theorie, so empfinde ich es, so nähere ich mich einem neuen Werk."

Michel Fokine, Startänzer des Balletts am St. Petersburger Zarenhof. Er machte die Choreographie für Nikolai Tscherepnins "Le Pavillon d'Armide", mit dem Serge Diaghilew am 19. Mai 1909 im Pariser Théatre du Châtelet die erste "saison russe" eröffnet, die erste Spielzeit seines neu gegründeten Russischen Balletts. Selbstbewusst erklärt der Choreograph Fokine, worin der künstlerische Durchbruch der Ballets Russes besteht:

"Früher war es essentiell, dass alle Männervariationen double tours en l'air enthielten, zweifache, in der Luft gedrehte Sprünge, und dass sie mit einer Préparation und einer Pirouette endeten. Aber der wichtigste Unterschied zwischen dem alten und dem neuen klassischen Tanz besteht im Ausdruck. Früher betonte ein Tänzer in allen seinen Bewegungen, dass er allein zum Vergnügen des Publikums tanzte, er stellte sich zur Schau, als wollte er sagen: Seht her, wie gut ich bin. Das war die Substanz jeder Variation im alten Ballett."

Im Eröffnungsstück "Le Pavillon d'Armide" geht es um eine Begegnung zwischen den Welten. Der Vicomte de Beaugency übernachtet, als ein Sturm heraufzieht, unterwegs in einem mysteriösen Schloss. In der Nacht entsteigt einem Wandteppich die schöne Armide. Morgens glaubt der Graf, nur geträumt zu haben, aber in seinen Händen hält er ihren Schal. Diaghilews Wahl dieses Balletts ist mehr als geschickt. Zwar sind der Choreograph, der Komponist und der Ausstatter Alexander Benois Russen, aber das Libretto basiert auf einer Erzählung des französischen Schriftstellers und Balletomanen Théophile Gautier.

Zwei Jahre später, 1911, schafft Fokine mit "Les Sylphides" zu Musik von Chopin das erste abstrakte Ballett der Tanzgeschichte. Seine Sylphiden sind Luftgeister in einem Tanzpoem, Musen, die einem jungen Träumer erscheinen. Doch nicht nur für das Publikum, auch für die Tänzer ist der Stoff ungewöhnlich:

"Bei jeder Probe musste ich den Tänzern aufs Neue sagen: Tanzt nicht für das Publikum, stellt euch nicht so zur Schau, bewundert euch nicht selbst. Im Gegenteil, ihr müsst die ätherischen Wesen um euch herum wahrnehmen, die Sylphiden!"

Diaghilews Begabung bestand in dem großen Gespür dafür, die richtigen Künstler über dem richtigen Stoff zusammenzubringen - die glanzvollsten Namen der Avantgarde. Picasso, Léon Bakst und Claude Debussy, unter den Tänzern Anna Pavlova, Vaclav Nijinsky und George Balanchine. Er holte Igor Strawinsky nach Paris, der drei Ballette für ihn schrieb: "Le sacre du printemps", das "Frühlingsopfer", das 1913 bei der Premiere einen Riesenskandal verursachte, "Der Feuervogel" und "Petruschka". Dem Westen gefiel es, mit den exotischen Traditionen der russischen Künste konfrontiert zu werden, mit einer anderen, wilden Welt.

Und wer war der Mann hinter den Ballets Russes, ihr mächtiges, kreatives und finanzielles Zentrum, der charismatische Liebhaber berühmter Tänzer? Léonide Massine, seine letzte Entdeckung, beschreibt die erste Begegnung in Diaghilews Hotelsuite.

"Einen Moment später erschien Diaghilew in einem Morgenrock. Auf den ersten Blick wirkte er groß und imposant, aber als ich aufstand, bemerkte ich, dass er nur von durchschnittlicher Größe war, dass er jedoch einen ungewöhnlich großen Kopf und außerordentlich breite Schultern besaß. Das Nächste, was mir auffiel, war eine Strähne silberweißen Haars, die wie eine Feder in seine Stirn hing. Wie er mich so durch sein Monokel musterte, erschien er mir wie ein Wesen aus einer anderen Welt."