Tanzen gegen die Vergesslichkeit

Wolfgang Maier im Gespräch mit Jürgen König · 17.08.2009
Eine Demenz lässt sich immer früher erkennen - doch heilbar ist sie derzeit nicht, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Wolfgang Maier von der Universität Bonn. Wer der Erkrankung vorbeugen möchte, solle geistig und körperlich aktiv bleiben. Besonders Tanzen biete guten Schutz - "eine Bewegungsform, die relativ viele oder fast alle Körperkomponenten mit einbindet", so Maier.
Jürgen König: Unser Studiogast ist Professor Wolfgang Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Bonn und Sprecher des bundesweiten Forschungsverbundes "Kompetenznetz Degenerative Demenzen". Herr Maier, guten Morgen, ich freue mich, dass Sie gekommen sind.

Wolfgang Maier: Guten Morgen!

König: Sagen Sie uns doch zunächst mal, Demenz, was genau ist das, was geschieht da im Gehirn?

Maier: Demenz ist ein Abbau, ein Nachlassen geistiger Fähigkeiten, und zwar vieler geistiger Fähigkeiten – des Gedächtnisses, aber auch des Urteilsvermögens, der Wahrnehmung, des Planens oder der Handlungsfähigkeit. Das ist das eine. Und das andere ist, dieses Fortschreiten des Abbaus ist so ausgeprägt, dass damit die Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen, zunehmend eingeschränkt wird und Hilfsbedürftigkeit entsteht. Am Ende der Erkrankung kann sich der Betroffene in der Regel selbst nicht mehr versorgen, er ist auf fremde Hilfe rund um die Uhr angewiesen.

König: Wie kommt das zustande, was passiert da im Gehirn, dass es zu dieser Entwicklung kommt?

Maier: Es ist ja vorhin schon angedeutet worden, es gibt verschiedene Wege, die zu dieser Erkrankung führen. Das Ergebnis dieser verschiedenen Wege ist jeweils, dass sich im Gehirn immer mehr Nervenzellen abbauen, zunächst mit ihrer Funktion, dann auch in ihrer Zahl. Und somit ist das, was im Gehirn tagtäglich passiert, nämlich Informationsübertragung, nicht mehr möglich, und damit werden alle Lebensbereiche erfasst bei der Demenz. Es beginnt die Einschränkung in der Regel im Gedächtnis, schreitet dann aber auf alle geistigen Leistungsbereiche fort. Und im Wesentlichen die mangelnde Fähigkeit zu handeln und den Alltag zu gestalten, ist dann das Hauptproblem, das die Demenzen aufwerfen. Also es ist weniger das Gedächtnisproblem, das die große Sorge für die Gesellschaft darstellt, sondern das Problem des Verlusts der Selbstständigkeit im Handeln und der Lebensführung.

König: Darf ich Sie bitten, fünf Zentimeter sich weiter zurückzusetzen, sonst haben wir immer diese Nebengeräusche im Mikrofon. Wenn Sie ein bisschen zurückgehen, das reicht vollkommen aus. – Das heißt, die Altersvergesslichkeit, um die sich ja viele Sorgen machen, die auch viele Menschen bei sich bemerken, auch wenn sie noch gar nicht das sind, was man so alt nennt, die ist nicht unbedingt ein Anzeichen dafür, dass eine Demenzerkrankung im Anflug ist?

Maier: Es kann ein Anzeichen für eine Demenzerkrankung sein, ein Frühzeichen, es muss nicht auf eine Demenzerkrankung hinweisen. Die Unterscheidung ist am Anfang, wenn die ersten Gedächtnisprobleme auftreten, schwer. Man kann möglicherweise nicht mit hinlänglicher Sicherheit zwischen diesen beiden Möglichkeiten als Vergesslichkeit ohne Erkrankung und schwere Demenzerkrankung in der Zukunft unterscheiden. Es gibt aber heute sehr viele technische Hilfsmittel, mit denen man frühzeitig eine Diagnose stellen kann, und zwar eine Diagnose, die dann auch eine Aussage über die zu erwartende zukünftige Entwicklung gibt.

König: Das klingt ja relativ optimistisch. Das heißt, ich habe, wenn ich derlei Anzeichen bei mir bemerke, die Möglichkeit, zu einem Spezialisten zu gehen und das untersuchen zu lassen?

Maier: Ja. Das Problem der Demenzversorgung ist die Behandlung der Demenz, da sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, obwohl sie auch nicht gleich null sind. Die diagnostischen Möglichkeiten in diesem Feld schreiten sehr, sehr schnell voran. Und man ist in dem Dilemma einer frühzeitigen Behandlung, einer relativ sicheren Prognosestellung und hat trotzdem keine Möglichkeiten, den Prozess aufzuhalten.

Man kann ihn beeinflussen, verzögern zum Beispiel, Verbesserungen vorübergehender Art herbeizuführen, aber man kann den Prozess nicht stoppen oder gar umkehren. Und das ist das eigentlich therapeutische Ziel, das wir als Ärzte haben, aber hierfür gibt es noch keine praktisch einsetzbaren Mittel, wenngleich es immense Forschungsaktivitäten gibt, hier die Situation grundsätzlich zu wenden und die schlimmen Prognosen, die Sie am Anfang genannt haben, nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

König: Darauf kommen wir gleich noch, die Frage, hilft es etwas, zum Beispiel Kreuzworträtsel zu raten oder Gedichte auswendig zu lernen, also möglichen Formen des Gedächtnistrainings zu praktizieren?

Maier: Grundsätzlich ist zu sagen, jede Form von Aktivität, nicht nur im Alter, sondern auch im mittleren Lebensalter, reduziert das Risiko für die Erkrankung. Und dabei muss man sagen, je umfassender diese Aktivität ist, umso besser ist der Schutz. Ein Kreuzworträtsel ist eine relativ begrenzte kognitive Leistung.

König: Oder Sudoku oder was es da alles gibt?

Maier: Also, aktiv am Leben teilnehmen, Zeitung lesen, Radio hören, Theater besuchen, ins Kino gehen, viel soziale Aktivität, reden mit anderen Menschen, Interesse zeigen, Interesse betätigen, das sind im Wesentlichen die Möglichkeiten, die man auf einer geistigen Ebene hat. Auf körperliche Ebene ebenso. Wer aktiv körperlich ist, wird auch einen besseren Schutz haben. Und da gibt es zum Beispiel Untersuchungen, dass Tanzen einen besonders guten Schutz gibt, also eine Bewegungsform, die relativ viele oder fast alle Körperkomponenten mit einbindet und eine umfassende Bewegung darstellt, und nicht wahrscheinlich sind Bewegungsformen, die begrenzter sind, also Fahrradfahren zum Beispiel, von einem geringeren Schutz. Aber das hat noch niemand belegt, das ist nur eine Hypothese.

König: Wobei das Tanzen ja dann auch wieder die soziale Komponente noch mit bedient?

Maier: Ja, genau.

König: Sie haben gesagt, die Behandlungsmöglichkeiten seien im Moment noch eher gering, welche gibt es? Was kann man jetzt schon tun?

Maier: Das hängt etwas von der Form der Demenz ab, insofern beschränke ich mich jetzt einfach auf die Alzheimer-Erkrankung. Da gibt es medikamentöse Möglichkeiten und da gibt es auch, nicht zu vergessen, psychosoziale Möglichkeiten.

Die medikamentösen Möglichkeiten gibt es etwa vier, fünf Medikamente. Cholinesterase-Hemmer ist die größte Gruppe, die zu einer Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung kommen kann, wenn die Erkrankung einmal richtig diagnostiziert worden ist. Die anderen Formen der Behandlungen bestehen darin, wie man mit einem demenzkranken Menschen umgeht, in welcher Umgebung er lebt, wie er in seinen Aktivitäten und Fähigkeiten gefördert und beflügelt wird und zugleich nicht überfordert wird. Das ist ein sich zunehmend entwickelndes Wissen darüber, wie ein Umgang mit Demenzkranken optimiert werden kann, sodass daraus eine möglichst günstige Entwicklung, eine relativ hohe Lebensqualität für den Betroffenen erhalten werden kann und der Erkrankungsfortschritt verzögert wird.

König: Sie haben gesagt, die Entwicklung ist in jedem Fall nach jetzigem Stand unumkehrbar, also wenn dieser Prozess erst mal eingeleitet ist, kann man daran im Moment nichts tun. Welche Forschung gibt es zu diesem Bereich? Können Sie uns einen Einblick geben in das, was da erforscht wird und auf welchem Stand sich die Forschung jetzt befindet?

Maier: Die Forschungen sind sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Unterform der Demenz wir betrachten. Die häufigste Form der Alzheimer-Erkrankung ist da relativ gut verstanden, bezüglich des Vorgangs im Gehirn, der zu einem kontinuierlichen Abbau von Nervenzellen führt.

Der Prozess beginnt – und das ist eine ganz wichtige Erkenntnis der letzten Jahrzehnte – schon lange, lange bevor das erste Anzeichen einer Demenz vorliegt. Das beginnt schon im mittleren oder im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. 20, 30, zehn Jahre vor dem ersten Symptom. Da beginnen sich Eiweißkörper im Gehirn aneinander zu lagern und so die Signalübertragung, den Informationsfluss im Gehirn zu unterbrechen und damit allmählich Gedächtnisstörungen hervorzurufen. Das Gehirn ist sehr leistungsfähig, kann viel kompensieren, Schäden relativ unsichtbar erscheinen lassen über lange Zeit. Erst wenn viele dieser Hilfsstrukturen zusammengebrochen sind, dann kommen die ersten Gedächtnisstörungen.

Und dieser Prozess geht voran, dieses Zusammenlagern von Eiweißkörpern, die sogenannten, Amyloid heißen diese Komponenten. Die fügen sich zusammen, die verklumpen zu sogenannten Schollen, Plaques im Gehirn, die dann dazu führen, dass das Gehirn aus wesentlich wenigen Nervenzellen besteht, viel Plaques besteht, das erscheint löchrig, und viele der Hirnfunktionen, die wir zum Alltag brauchen, sind nicht mehr leistbar.

Diesen Prozess kennt man, man kennt die einzelnen Elemente, die diesen Prozess steuern. Und an diesen Elementen, die diesen Prozess steuern können, da kann man versuchen, Medikamente hinzuzielen, die dann den weiteren Prozess, den weiteren Krankheitsprozess unterbrechen. Aber was bislang entwickelt worden ist – und es sind zahlreiche Substanzen entwickelt worden, die prinzipiell diese Leistung erbringen können, die ich gerade genannt habe, aber die dann eben deshalb, weil sie zu giftig waren für das Gehirn, zu viele Nebenwirkungen entwickelten, weil sie auch andere Prozesse im Gehirn, die wie fürs gesunde Leben brauchen, ebenso unterbrechen und damit sozusagen Folgelasten hervorrufen würden, die wir nicht tolerieren können. Deshalb ist noch keine dieser Entwicklungen so erfolgreich gewesen, dass sie heute bei Kranken einsetzbar wäre.

König: Vielen Dank. Demenz. Zum Auftakt unseres Themenschwerpunkts ein Gespräch mit Professor Wolfgang Maier. Er ist Psychiater und Psychotherapeut, Sprecher des Forschungsverbundes "Kompetenznetzwerke Degenerative Demenzen".