Tanzen gegen das Elend

Von Leonie March · 08.05.2012
Katlehong ist eines der bevölkerungsreichsten und berüchtigtsten Townships bei Johannesburg. Wer dort aufwächst, hat kaum Chancen, dem Elend zu entkommen. Offiziell ist dort jeder Zweite unter 25 arbeitslos, die Schulen sind schlecht ausgestattet.
Kriminalität, Aids und Drogen bestimmen den Alltag. Von dort kommt Via Katlehong, eine Tanz-Kompanie, die es sich zum Ziel gemacht hat, Jugendliche von der Straße zu holen. Heute ist die Gruppe international bekannt.

Das kleine Klassenzimmer vibriert vor Energie. Rund ein Dutzend junge Männer und vier junge Frauen machen sich warm fürs Tanztraining. Rhythmisch stampfen sie mit ihren Turnschuhen auf den Boden, klatschen in die Hände, schlagen sich auf die Schenkel. Die Stimmung ist konzentriert, keiner tanzt aus der Reihe.

Die Schritte werden schneller, die Abfolgen komplizierter. Einigen jungen Tänzern stehen die ersten Schweißperlen auf der Stirn. "Woza!" - "Na los, kommt schon!" – ruft ihr Trainer, der in der ersten Reihe pfeifend den Takt angibt. Steven Faleni ist ein drahtiger 31-jähriger, professioneller Tänzer und einer der Leiter des Ensembles "Via Katlehong".

Durch harte Arbeit hat es die Truppe aus dem gleichnamigen Township bei Johannesburg auf internationale Bühnen geschafft. Wenn sie nicht auf Tournee sind, bilden sie zuhause talentierte Jugendliche aus.

"Die meisten dieser jungen Tänzer, die wir in unser Trainingsprogramm aufgenommen haben, träumen von einer internationalen Tanzkarriere. Aber das ist nicht unser Hauptziel. In erster Linie geht es darum, die Kids von der Straße zu holen, zu vermeiden, dass sie kriminell werden. Das Tanzen hilft ihnen das, was sie erleben, zu verarbeiten und Abstand zu ihren Problemen zu bekommen.

Manche kommen aus zerrütteten Familien. Einige haben nicht genug zu essen, viele haben Schwierigkeiten in der Schule. Der Tanz ist aber mehr als nur eine Möglichkeit, sich körperlich abzureagieren. Wir vermitteln auch Werte wie Disziplin und gegenseitigen Respekt. Das ist der Kern der Nachwuchsförderung von ‚Via Katlehong’."

Nach dem gemeinsamen Aufwärmen geht Steven Faleni mit kleineren Gruppen die Choreografie durch. Die anderen setzen sich auf den Boden und schauen zu. Viel Platz ist in dem kleinen Raum nicht.

Es ist kein Tanzstudio mit Spiegeln und Parkett, sondern ein leer geräumtes Klassenzimmer einer Vorschule. Von den Wänden bröckelt der Putz, einige Fensterscheiben sind zerbrochen. Aber Steven Faleni und die anderen Tänzer von "Via Katlehong" sind froh, dass sie für ihr ehrenamtliches Engagement überhaupt einen Raum gefunden haben.

Es gibt mehr interessierte Jugendliche, als sie aufnehmen können. Denn Kulturangebote wie dieses sind rar. Das Tanztraining an mehreren Nachmittagen in der Woche sei ein echter Lichtblick im sonst eher tristen Township-Alltag, betont die 21-Jährige Lebohang Mokoena.

""Wenn ich tanze, dann vergesse ich alles um mich herum. Alles, was mir sonst auf die Nerven geht, oder mich ärgert. Beim Tanzen kann ich all das rauslassen und ausdrücken, wie es mir im Moment geht. Für mich ist das eine große Hilfe. Denn gerade für uns junge Leute ist das Leben im Township wirklich hart. Die Regierung scheint das nicht zu interessieren.

Viele Mädchen in meinem Alter werden früh schwanger und beenden nie die Schule. Dabei ist es sowieso schon schwierig, hier einigermaßen über die Runden zu kommen. Selbst diejenigen mit einem Schulabschluss oder einem Diplom haben kaum eine Perspektive. Viele hängen einfach nur rum und haben nichts zu tun."

Von diesem Alltag, dem täglichen Überlebenskampf, erzählt auch der Tanzstil, den die Jugendlichen hier erlernen, der "Pantsula". Entstanden in den Sechziger- und Siebzigerjahren in den Townships rund um die südafrikanische Wirtschaftsmetropole Johannesburg. Damals lieferten sich junge Männer auf den Straßen Tanz-Wettkämpfe, erzählt Vusi Mdoyi, einer der Köpfe von "Via Katlehong".

"Die Pantsulas hatten einen bestimmten Lebensstil. Sie waren berühmt für ihr schnelles Denken. Viele verdienten mit Glücksspiel auf der Straße ihr Geld, immer auf der Flucht vor der Polizei. Sie waren berüchtigt dafür, in der letzten Sekunde auf die voll besetzten Züge in die Stadt aufzuspringen.

Extrem schnelle Bewegungen und ein wacher Geist waren ihre Markenzeichen. Einige nutzten diese Fähigkeiten für kriminelle Machenschaften, doch längst nicht alle. Es ging einfach darum, unter den widrigen Umständen im Township zu überleben."

An diese Tradition knüpft "Via Katlehong" an. Flink bewegen sich die Füße der Jugendlichen über den abgenutzten Linoleumboden. Natürlich ist es auch heute nicht leicht, es hier in den Townships zu etwas zu bringen, meint Vusi Mdoyi. Schulen wie diese sind schlecht ausgestattet: die Klassen zu groß, um jedem Schüler Aufmerksamkeit zu schenken, die Quote von Schulabbrechern hoch. Dazu bestimmen Kriminalität, Aids und Drogen den Alltag der Jugendlichen. Es sei also wichtiger denn je, seinen Kopf zu benutzen, betont der 31-Jährige.

"Wenn es die Leute geschafft haben, die Apartheid zu überleben und uns trotz allem groß zu ziehen, dann sollte uns heute auch etwas gelingen. Schließlich leben wir jetzt in einer Demokratie und haben daher mehr Chancen als die Generation unserer Eltern. Dabei kommt es vor allem auf die Einstellung an.

Man darf nicht darauf warten, dass die Regierung einem einen Job auf dem Silbertablett präsentiert. Man muss sein Leben selbst in die Hand nehmen. Es gibt Stipendien für Studenten und Fördergelder für Existenzgründer. Es gibt also durchaus Möglichkeiten für junge Leute. Man muss sie nur finden und nutzen."

Diese Chancen betonen Vusi Mdoyi und die anderen Mitglieder von "Via Katlehong" immer wieder in Gesprächen mit den Jugendlichen am Rande des Trainings. Sie haben ein offenes Ohr für ihre Probleme, bestärken sie darin, ihren Weg auch jenseits einer Tanzkarriere zu finden, geben praktische Ratschläge und die Orientierung, die jungen Leuten hier ansonsten fehlt.

Er habe ihnen viel zu verdanken, betont der 22-Jährige Mtuduzi Zwale. Die professionellen Tänzer sind seine Vorbilder. Sie seien in den gleichen, ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen wie wir, erklärt er, hätten es aber trotzdem zu etwas gebracht.

"Sie haben gezeigt, dass Disziplin das Allerwichtigste ist. Außerdem habe ich gelernt, wie man sich anderen gegenüber richtig verhält. Das ist wichtig, wenn man in seinem Leben auch mal rauskommen und mit ganz unterschiedlichen Leuten zu tun haben möchte. Ich bin selbstbewusster geworden, scheue mich nicht mehr davor Verantwortung zu übernehmen und gebe jetzt auch besser auf mich Acht. Ich habe hier wirklich viel gelernt."

Kurz vor der Dämmerung geht das Tanztraining zu Ende. Verschwitzt aber mit glücklichen Gesichtern verabschieden sich die Jugendlichen. Alle wohnen in Katlehong, einem der größten Townships Südafrikas. Die genaue Einwohnerzahl kennt niemand, sie liegt irgendwo zwischen einer halben und einer Million Menschen.

Die Arbeitslosigkeit liegt weit über dem Landesdurchschnitt von derzeit 24 Prozent. Besonders hart trifft es die Jugend. Offiziell hat jeder zweite unter 24 Jahren keinen Job, die Wirklichkeit dürfte in Vierteln wie Katlehong noch trüber aussehen. Die Regierung hat zwar mittlerweile Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit angekündigt, noch aber zeigen sie keine spürbare Wirkung.

Diejenigen, die Arbeit haben, kehren wie jeden Abend in vollbesetzten Minibus-Taxis und aus allen Nähten platzenden Zügen aus den wohlhabenden Vororten und dem Zentrum Johannesburgs zurück. Die Straßen sind voller Menschen, als sich Mtuduzi Zwale auf den Nachhauseweg macht.

Katlehong hat keinen guten Ruf, erzählt er, während er die belebte Hauptstraße überquert. Anfang der Neunzigerjahre lieferten sich hier verfeindete Anhänger der heutigen Regierungspartei ANC und der Inkhata Freedom Party erbitterte Kämpfe. Viele junge Männer kamen damals ums Leben.

"Katlehong gilt noch immer als eines der härtesten Townships in Südafrika. Viele meinen, dass hier gefährliche Kriminelle wohnen. Das ist kein Ruf, den man so schnell loswird. Dabei finde ich es hier gar nicht so schlecht.

Natürlich ist es nicht besonders schick hier, und wir haben nicht all diese tollen Einrichtungen, wie in der Stadt. Aber dafür kommt Vieles noch von Herzen. Die Leute sind im Allgemeinen freundlich und die Nachbarn da, wenn man sie braucht. Es gibt eine ganze Reihe berühmter Persönlichkeiten, die hier groß geworden sind."

Der 22-Jährige biegt in eine typische Seitenstraße Katlehongs ein. Kleine, gleichförmige Häuser drängen sich dicht an dicht aneinander, mit einem Zaun oder einer niedrigen Mauer von Nachbarn und Straße abgegrenzt. Manche haben Vorgärten angelegt, doch in den meisten wächst nur ein wenig Unkraut aus der sandigen rötlichen Erde.

Auf der Straße spielen auch jetzt am frühen Abend noch viele Kinder. Überhaupt sind wesentlich mehr junge als ältere Menschen zu sehen. Vor einem kleinen Laden steht eine Gruppe Männer, Bierflaschen in der Hand. Ein typisches Bild. Mtuduzi grüßt kurz und öffnet das Tor nebenan.

Jeder Winkel des kleinen Grundstücks ist bebaut. Ein schmaler Weg führt neben dem kleinen Haupthaus an einer Reihe winziger Räume entlang, gemauert mit Blechdach. Die Türen stehen offen. In einem sitzt eine junge Frau auf dem Boden und stillt ihr Baby, in einem anderen liest die Großmutter bei schummrigem Licht in der Bibel.

Privatsphäre hat hier niemand, die Großfamilie lebt auf engstem Raum. Früher ist es mir schwer gefallen, mich angesichts all dieser Ablenkungen auf eine Sache zu konzentrieren, erzählt Mtuduzi.

"Ich habe die Schule abgebrochen. Heute aber rate ich meinen jüngeren Geschwistern, nicht den gleichen Fehler zu machen. Es ist wichtig, einen Abschluss zu haben. Mir bleibt jetzt nur noch mein Talent. Darauf konzentriere ich mich. Denn ich weiß, dass man alles geben muss, um Erfolg zu haben.

Ich mache alles Mögliche: Ich tanze in verschiedenen Gruppen und ich trete bei kleineren Veranstaltungen als Sänger auf. Durch diese Jobs kann ich mich über Wasser halten und abends etwas zu Essen auf den Tisch bringen."

Während Mtuduzi von sich erzählt, ist sein Vater hinzugekommen. Er nickt anerkennend, offensichtlich positiv überrascht von seinem Sohn. Ich wusste gar nicht, dass Du so vernünftig bist, meint er und klopft ihm auf die Schulter.

Im täglichen Überlebenskampf kommen derartige Gespräche zwischen Vater und Sohn meistens zu kurz. Die Jugendlichen orientieren sich daher an anderen: Wenn sie Glück haben nicht an Kriminellen, die mit schnellem Geld locken, sondern an positiven Vorbildern wie den Tänzern von "Via Katlehong". Trotz ihres Erfolgs wohnen sie alle weiterhin mit ihren Familien im Township.

Nur ein paar Straßen weiter sitzen Steven Faleni und Vusi Mdoyi mit dem dritten Leiter der Tanz-Kompanie in dessen Wohnzimmer. Alles hier habe ich dem Tanzen zu verdanken, meint Buru Mohlabane stolz. Ein riesiger Fernseher beherrscht den großzügigen Raum mit der Couchgarnitur.

Daneben steht ein Foto seiner sechsjährigen Tochter, sie geht auf eine gute Schule in Johannesburg. Die Küche ist modern ausgestattet, das Bad brandneu, zwei Schlafzimmer sind bereits fertig, an einem wird noch gebaut. Als Tänzer haben die drei kein geregeltes Einkommen, reich sind sie nicht, aber der Unterschied zu den beengten und ärmlichen Lebensverhältnissen der meisten Township-Bewohner ist unübersehbar.

"Die Leute hier nehmen an unserem Leben Teil. Sie fragen uns nach unseren Reisen und danach, was wir im Ausland so erleben. Für viele sind wir Vorbilder und wir nehmen diese Verantwortung gern wahr. Wir versuchen den Jugendlichen zu zeigen, dass ein gesünderer und besserer Lebensstil möglich ist.

Durch den Tanz wecken wir ihr Interesse. Sie beginnen dann Fragen über das Leben, die Kunst und die Tanzbranche zu stellen und entwickeln eigene Perspektiven. So ändert sich auch ihr Leben langsam. Schritt für Schritt, Tag für Tag."

Viele meinen, der Erfolg sei uns einfach zugeflogen, fügt Vusi Mdoyi hinzu. Die Arbeit dahinter würden die meisten nicht sehen. Ohne eine entsprechende Ausbildung oder eigene Vorbilder haben es die drei Freunde geschafft, aus der Township-Tanz-Gruppe eine international renommierte Kompanie zu machen, von der sie heute ihre Familien ernähren können.

"Wir haben Glück gehabt. Denn es gibt nicht viele Gruppen, denen der Durchbruch allein mit ihrem Talent gelingt. Mit einer entsprechenden Ausbildung stehen die Chancen wesentlich besser. Wir haben mit der Zeit dazugelernt, zum Beispiel wie man Förderanträge einreicht, oder wie man eine Choreografie gestaltet.

Aber wenn wir die Möglichkeiten gehabt hätten, die den Jugendlichen heute offen stehen, wäre das alles viel leichter gewesen. Daher betonen wir in Gesprächen mit ihnen immer, wie wichtig Bildung ist. Denn Talent allein reicht einfach nicht aus."

Die drei Freunde stecken ihre Köpfe über einem Laptop zusammen: Bislang bilden sie den Nachwuchs für "Via Katlehong" in ihrer Freizeit aus, die Jugendarbeit ist ein ehrenamtliches Engagement, dass den dreien am Herzen liegt.

Doch sie würden es gern weiterentwickeln, am Liebsten in Zusammenarbeit mit der Regierung, die nun endlich erstes Interesse signalisiert hat. Ihr Traum ist eine formale Ausbildung für Tänzer, ein reiches Kulturangebot für Jugendliche, eine langfristige Perspektive für die die vielen Talente aus den Townships, von denen heute noch die meisten auf der Strecke bleiben.