Tanz zur Selbstsuche des Tänzers

Rezensiert von Barbara Wahlster · 22.08.2006
Der Tänzer Koman erzählt dem Reiseschriftsteller Christopher von der hohen Kunst des Kathakali-Tanzes. Der wiederum verliebt sich in Komans verheiratete Nichte. Anita Nair, selbst in Indien geboren, erzählt in ihrer Liebesgeschichte von der Berührung unterschiedlicher Welten jenseits vorgezeichneter Wege.
Zum ersten Mal in seinem Leben ist der Tänzer Koman bereit, über sich und seine Kunst zu sprechen. Er hat sich von dem britischen Reiseschriftsteller Christopher Stewart dazu überreden lassen. Nun will er ihm die neun "Gesichter des Herzens", das Gefühlsrepertoire des uralten südindischen Kathakalitheaters näher bringen: Liebe, Verachtung, Kummer, Wut, Mut, Angst, Ekel, Staunen und Seelenfrieden.

Doch unterläuft der alte Mann die zielgerichtete Neugier des Gastes von Anfang an, holt aus, beginnt mit der wundersamen Errettung Sethus vor dem Ertrinken, seiner rasanten Neuerfindung als Seth, Christ und Bibelkenner, seinen Reisen in seltsame Territorien, zu Schweinefleisch essenden Brahmanen und nach Arabipatnam. In dieser gegen Fremde vollkommen abgeschotteten arabischen Enklave trifft er Saadiya, seine große Liebe. Das muslimische Mädchen wird verstoßen und bringt sich nach der Geburt ihres Sohnes Koman um.

Damit sind Schauplatz und Vorgeschichte skizziert, so wie es die Regeln des Kathakali erfordern. Auch wenn sich beim Erzählen das "Wirkliche und das Unwirkliche balgen", die einzelnen Episoden beleuchten, wie und warum der Tanz zur Selbstsuche des Tänzers wurde. Er erlaubte dem unbehausten Jungen "jeder zu sein". Er ist die "Geliebte", wie der Romantitel im Original heißt.

Zwölf Jahre rigoroses Training erfordert die Darstellung von Göttern und Dämonen der Hindu-Mythologien, von Emotionen und ihrer Beherrschung, Leugnung oder Unterdrückung. Und wie ein musikalisches Thema eröffnet jeweils eine kurze Betrachtung die Dimension und die vielen Aspekte eines Gefühls und seine Entsprechungen in der Natur. Bis auf eines lassen sich alle vortäuschen. Nur die Angst kann sich nicht verstecken.

Während der Künstler vor Christophers Kassettenrekorder einzelne Gestalten und Verwicklungen des Kathakali charakterisiert, baut sich ein weiterer Konflikt auf. Komans Nichte und Ersatzkind Radha fühlte sich vom ersten Moment an zu dem Schriftsteller hingezogen. Shyam, ihr Mann und Besitzer eines Ressorts überspielte als tüchtiger Geschäftsmann seine abgrundtiefe Antipathie gegenüber diesem "vollkommen Fremden".

Und auch Koman ist irritiert, empfindet große Zärtlichkeit und glaubt den Gast zu kennen, vermutet aber gleichzeitig, dass er etwas verbirgt. Alle drei werden jeweils ihre Sicht auf die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Chris und Radha erzählen und dabei ihre Gefühle und Überlegungen ganz ungefiltert artikulieren.

Dabei zeigt sich Koman als kluger, genauer Beobachter mit viel Erfahrung, der seine eigenen Bedürfnisse erst spät im Leben eingestehen, sich erst wohlfühlen kann in seiner Haut, nachdem er lange Zeit sein Ich abgelegt hatte und auf der Bühne immer jemand anderes war. Radha gibt ihrem Leben keine eigene Richtung, hält sich an ihrem Unglück fest, mit dem falschen Mann verheiratet zu sein, fühlt sich überlegen, gebildeter, ästhetisch versierter als Shyam, an dessen Selbstachtung sie ständig kratzt.

Er, der Aufsteiger, ist besitzergreifend, hilflos kontrollierend, effizient, ehrgeizig, eine "Mischung aus Aberglauben und rationalem Denken". Die abgöttisch verehrte Tochter der reichsten Familie im Umkreis hat er nur "als verdorbene Ware" nach einer Affäre heiraten können ohne je ihre Liebe oder Achtung zu gewinnen. Auf ihr Entgleiten antwortet er panisch, auch mit Gewalt.

Anita Nair hat einen Künstlerroman geschrieben und gleichzeitig das Panorama einer Familie entworfen. Sie erzählt von der Berührung unterschiedlicher Welten jenseits vorgezeichneter Wege, spricht von Grenzen der Begegnung, auch von Unvereinbarkeiten zwischen Kulturen und Liebenden, wobei ihr die Liebesgeschichte zwischen Radha und Chris allerdings ziemlich klischeehaft gerät.

Doch mit dem begnadeten Erzähler Koman hat die Schriftstellerin eine wunderbare Figur des weisen Außenseiters auf der Suche nach sich selbst geschaffen und dem Kathakali ein Denkmal errichtet; einer Kunst, die die Kenntnis der jeweils zugrunde liegenden Legenden und Götterkonstellationen erfordert und viel Zeit, die sich heute kaum mehr jemand nimmt. So werden die Tänzer oft nur noch als Werbeträger benutzt, als folkloristische Zutat des südindischen Tourismus-Geschäfts.

Während die Mehrzahl der in deutscher Übersetzung erscheinenden indischen Romane im Norden des Subkontinents spielen, siedelt Anita Nair ihre Geschichte in Kerala an, einem Bundesstaat an der Südwestküste, in dem sie aufgewachsen ist. Mittlerweile lebt die Schriftstellerin zwar in Bangalore, doch hat sie eine Kathakali-Schule in Kerala besucht, sich mitten hinein begeben in das Leben und Lernen der Tänzer und in die weit verzweigten Götterkonstellationen mit ihren vielen Erzählebenen.

Anita Nair: Kathakali
Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube
Hoffmann und Campe, Hamburg 2006
512 Seiten, 22,00 Euro