Tanz im August

Gekrümmt über die Bühne humpeln

Die kanadische Choreographin Marie Chouinard
Die kanadische Choreographin Marie Chouinard © dpa / picture alliance / Roman Vondrous
Von Elisabeth Nehring · 27.08.2015
Die kanadische Choreographin Marie Chouinard irritiert beim "Tanz im August"-Festival in Berlin mit einer Vorstellung, die an Menschen mit Behinderung erinnert. Das und mehr in der Halbzeitbilanz von Elisabeth Nehring.
"Ich bin super irritiert von der Darstellung physischer Beeinträchtigung in Marie Chouinards jüngster Arbeit, die wir bei Tanz im August sehen konnten. Selbst wenn (wie einer der Tänzer mir erklärte) die Bewegungsmuster aus einer abstrakten körperlichen Erkundung entstanden sind, muss man sich ab einem bestimmten Punkt klarmachen, dass das, was daraus auf der Bühne entsteht, aussieht, als würdest du Menschen mit Behinderung nachmachen – ohne dass irgendein produktives Ergebnis dabei herauskommt."
Dem Facebookpost dieses "Tanz-im-August"-Zuschauers folgen mindestens 50 Kommentare. Sie alle kritisieren eine Vorstellung von Marie Chouinard, die beim diesjährigen Festival zwei Mal gezeigt wurde.
Tatsächlich lässt die kanadische Choreographin in ihrer Produktion mit dem kryptischen Titel "soft virtuosity, still humid, on the edge" ihre perfekt trainierten Tänzer in den ersten zwanzig Minuten über die Bühne humpeln, jeweils ein Bein hinterher schleifen oder mit schief-gebogenen Rücken und spastischen Zuckungen auftreten. Schwer zu glauben, dass dabei keine Assoziationen an Behinderungen entstehen sollen. Und das ist – in seiner konsequenten Naivität – tatsächlich schwer zu ertragen.
Dennoch: Gerade weil Kritiker und Verteidiger dieser Produktion so viel darüber gestritten, sich so daran abgearbeitet haben – nicht nur im Internet, sondern in Gesprächsrunden noch Tage nach der Vorstellung –, hat sich diese Einladung zum Festival gelohnt.
Schönheitsideale werden hinterfragt
Nicht, weil Tanz im August damit einen Skandal produziert hätte, sondern weil ganz wesentliche Fragen des zeitgenössischen Tanzes verhandelt werden. Virve Sutinen, die künstlerische Leiterin, steigt gern in die Diskussion ein.
"Ich glaube, darin stecken fundamentale Themen: Eines davon ist die Hinterfragung unserer Schönheitsideale – was erleben wir als normativ, was als abweichend? Ich glaube, das ist im Tanz nicht immer so einfach zu trennen, denn nicht nur die Körper von Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch klassische Tänzerkörper weichen von der gängigen Schönheitsnorm ganz erheblich ab. Gleichzeitig sind Zuschauer offensichtlich irritiert, wenn Tänzer anders aussehen als dünn und anorektisch. Bei Lucinda Childs gab es Kritik, die Tänzerinnen sähen mit ihren athletischen Körpern eher aus wie Amazonen und seien vielleicht etwas zu wohlproportioniert. Von allen Seiten gibt es bestimmte Erwartungshaltungen, wie Körper wann auszusehen haben."
Ein ganz anderes Körperbild präsentierte das Tao Dance Theatre aus China: Hier kreisen sechs identisch in Schwarz oder Weiß gekleidete Tänzer ihre Oberkörper, Schultern und Köpfe – lange, ohne den Platz zu verlassen. Nicht wie ein Kollektiv, wie ein einziger Organismus wirkt dieses tänzerische Zusammenspiel, das aus ständig wiederholten und variierten Bewegungssequenzen mit Kreisen und Schwüngen besteht. Meditation und Rausch, Ektase und Kargheit, drastische Disziplin, aber auch enge Gemeinsamkeit des Gleichklangs. Als zeitgenössisch-chinesische Variante des choreographischen Minimalismus überzeugte das TAO Dance Theatre durch seinen hohen Grad an Mehrdeutigkeit.
"Wie sehr muss man seine eigene Individualität aufgeben, um diese Art von Uniformität zu erzeugen und Teil einer Gruppe zu werden, die sich bewegt, als wäre sie ein Körper. Würde man das als politisches Statement betrachten, wäre das hochproblematisch. Aber man kann es vielleicht auch als seltsame Art des Volkstanzes interpretieren, als Ausdruck eines Wunsches nach engem Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die sich rasend schnell verändert."
Untergangs-Plattitüden von Marcos Morau
Doch Mehrdeutigkeit, das große Charakteristikum des zeitgenössischen Tanzes, kann nicht jeder. Die Kölner Choreographin Stephanie Thiersch stellte in ihrer Uraufführung "Bronze by Gold" nicht nur die mit Abstand am schlechtesten gekleideten Tänzer und Musiker auf die Bühne, sondern zimmert auf der Suche nach "rasender Bewegung" und "Rausch" auch noch eine derartig unkoordinierte Choreographie für Tänzer und Musiker zusammen, dass man Mühe hatte, die siebzig Minuten der Vorstellung durchzuhalten.
Die bislang größte Enttäuschung bot allerdings der spanische Choreograph Marcos Morau mit seiner Companie La Veronal – auch, weil er die Neuentdeckung der letzten "Tanz im August"-Ausgabe war, was die Erwartungen entsprechend hoch setzte. Ein Stück über das Böse als Abwesenheit des Guten – so konnte man lesen – sollte es werden. Über gewaltsame Religion als Ende jedes moralischen Systems. Hochaktuell könnte man meinen.
Doch dem jungen Choreographen Marcos Morau fiel nichts anderes ein als eine Untergangs-Plattitüde in Szene und Bild an die nächste zu reihen. Auf einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Bühne warfen sich auftretende Mönche weihevolle Blicke zu, wurde ein Kind von Flammen verschlungen, ein Mann auf einem Gynäkologenstuhl operiert, trafen sich Imam, Priester und Rabbi zu einem gemeinsamen Schlaf – und als wäre das noch nicht schlimm genug, dräute über dem Ganzen abwechselnd Klassik-Top-Ten-Musik von Verdi bis Wagner, nur übertroffen von gregorianischen Synthie-Pop.
Auch die Bewegungsphantasie Moraus, die im letzten Jahr noch für Faszination gesorgt hatte, konnte seine unfassbare szenische und musikalische Einfallslosigkeit zwischen Kitsch und Banalität nicht kompensieren.
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