Tango-Imperien und Billard-Unternehmer

Wenn aus Nischensport ein Beruf wird

In Nischen lässt sich beruflich etwas bewegen - wie zum Beispiel mit einer Tango-Tanzschule.
In Nischen lässt sich beruflich etwas bewegen - wie zum Beispiel mit einer Tango-Tanzschule. © picture alliance / dpa
Von Michael Frantzen · 07.08.2016
Thomas Müller, Novak Djokovic, Lindsey Vonn: Drei Superstars, die ihren Lieblingssport zum Beruf gemacht haben. Fußball, Tennis, Ski: Das sind Breitensportarten. Doch auch mit Nischen kann man Geld verdienen: Tango, Bouldern, Billard.
"Ein guter Billard-Spieler ist nicht gut, weil er jeden Stoß reinmachen kann. Über fünf Banden. Oder mit irgendwelchen wilden Bogenstößen. Sondern weil er in der Lage ist, sich immer wieder leichte oder machbare Stöße hinzulegen. Das ist die eigentliche Kunst."
Beim Pool-Billard. Patrick Baumann lacht. Dem Berliner muss man das nicht zwei Mal sagen. Schließlich spielt er seit über zwanzig Jahren Billard. Ziemlich erfolgreich, auch wenn es für eine Profi-Karriere nicht ganz gereicht hat. Der durchtrainierte Enddreißiger zuckt an diesem schwülen Sommertag die Schultern. Erfolgreich ist Patrick auch so: Als Billard-Unternehmer.
"Wir sind ja so‘n bisschen Billard-Nerds. Wir haben jeden Tisch nicht nur nummeriert, sondern ihnen auch noch einen Namen gegeben. Und zwar sind das alles Spitznamen von Billard-Spielern. Hier Tisch 1: The Magician, der ist der zweite Spitzname von Bata."
Dem philippinischen Ausnahmespieler Afran Reyes. Patrick zeigt in seinem Billard-Salon in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs Richtung Ausgang. Dort drüben – neben der Theke: Das Foto da: Links – das ist er selbst. Und rechts, ein paar Köpfe kleiner: Der Mann, der auf den Philippinen fast so bekannt ist wie Manny Pacquiao, der Box-Superstar. Vor ein paar Jahren haben sich Patrick und Bata bei einem Turnier kennengelernt. Eher zufällig. Patrick strahlt: Ein toller Typ, dieser Bata. Technisch einer der besten, immer gut drauf, bescheiden und freundlich. Ihm zu Ehren hat Patrick seinen Salon benannt: "Bata Bar and Billards".

Klein-Unternehmer am Billard-Tisch

Seit gut zwei Jahren gibt es das Bata jetzt schon. Film-Scouts auf der Suche nach einem geeigneten Ort für einen verruchten Nachtclub hätten ihre helle Freude an der 500 Quadratmeter großen ehemaligen Fabriketage: Alles ist in schwarz gehalten: Die Wände, die Sofas, die Barhocker. Dazu gedimmtes Licht. Grelle Farben – das mögen Pool-Billard-Spieler nicht, erklärt Patrick. Er hat sich an die Bar gesetzt. Durch das gekippte Fenster fällt der Blick auf den Hinterhof, der so aussieht, wie Hinterhöfe in Berlin häufiger aussehen: Ziemlich trostlos. Das weiß auch der 38-Jährige. Aber es wird schon - macht sich der Mann Mut, der in jüngeren Jahren Wirtschaftskommunikation studierte und bei einer PR-Agentur arbeitete, ehe er sein Hobby zum Beruf machte. In ein paar Jahren soll gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ein neues Viertel entstehen. Neue Hochhäuser, neue Hotels, neue Cafés. Damit dürften auch mehr Leute kommen. Mit dem nötigen Kleingeld. Davon wird auch das Bata profitieren, hofft Patrick. Bis dahin setzt er weiter darauf, dass Interessierte auch so ihren Weg finden in seinen Salon. Über seine Website oder per Mundpropaganda, wie Erick.
"Ich studiere Mathematik. Da will man den Kopf freibekommen. Billard ist einfach ne tolle Präzisions-Sportart und erfordert eben viel Training."
Viel trainiert hat auch Patrick. Doch seit er den Billard-Salon betreibt, reicht die Zeit nicht mehr; muss er sich um das kümmern, worum sich ein Klein-Unternehmer halt kümmern muss: Die Buchhaltung machen, die Website aktualisieren, neue Queues und Kugeln bestellen.

14-Stunden-Tage

"Das hat sich alles so ergeben. Schritt für Schritt. Und auf einmal war ich Vollzeit-Billard-Unternehmer. Da steckt kein Masterplan dahinter. Ich hab Billard eigentlich immer nur als Spaß, als Hobby betrachtet. Und hätte vor fünfzehn Jahren nicht gedacht, dass das mal mein Hauptgeschäft sein wird. Ich hab vor zehn Jahren ne Trainer-Ausbildung gemacht. Und dann angefangen, Trainings zu geben. Das war das erste Mal, dass ich mit Billard Geld verdient habe – außer zwanzig Euro in nem Turnier zu gewinnen."
Geld verdient Patrick nicht nur mit seinem Billardsalon, sondern auch mit seinem Blog und dem Online-Shop. Mehrgleisig fahren – das sei ihm immer schon wichtig gewesen. Deshalb reist er auch weiter alle paar Monate als digitaler Nomadekreuz und quer über den Globus. Zuletzt war er in Thailand, um für ein Unternehmen die Website zu gestalten. 12-14-Stunden-Tage sind die Regel. Arbeiten, kurz essen und trinken, schlafen: Immer die gleiche Routine. Monoton zwar, aber lukrativ. Mit der Zeit hat Patrick ziemlich viel Geld auf die hohe Kante legen können. Das meiste davon hat er in den Salon gesteckt. Wie viel genau: Das will er nicht verraten. Nur so viel: Billig war es nicht. Allein die Billard-Tische. Er steht auf und geht zu einem. Der hier – meint er ehrfurchtsvoll – sei so etwas wie der Rolls-Royce unter den Billard-Tischen. Kostenpunkt: 7000 Euro. Fünf davon haben er und sein Geschäftspartner gekauft, die restlichen sieben sind weniger edel verarbeitet, aber selbst solch ein Standard-Modell kostet immer noch seine 3000 Euro.
"Wir haben viel, viel Geld und Zeit reingesteckt. Wenn man ne Kapitalanlage sucht, dann gibt’s wahrscheinlich vielversprechendere Sachen. Mit weniger Risiko. Aber: Hier steckt eben auch viel Herz und Leidenschaft drin."

Profi zu werden war keine Option

Mit Leidenschaft war Patrick immer schon bei der Sache. Besonders beim Billard. Seine Augen leuchten. Das erste Mal: Na klar könne er sich daran noch erinnern. Wie er in einer Eck-Kneipe in Schöneberg diesen Tisch erspähte, auf dem bunte Kugeln in irgendwelchen Löchern verschwanden. Faszinierend. Zwölf war er damals. Zwei Jahre später wurde er Mitglied der "Roten Teufel".
"In Berlin waren die Vereine früher oft in so Kneipen. Das war so ne Kneipe in Schöneberg, Monumentenstraße. Mit zwei Billard-Tischen. Eigentlich einem Umfeld, wo man als 14-Jähriger nicht so richtig hingehört. Aber: Das waren nette, herzliche Leute, da wurde zwar auch getrunken, aber war ganz nett. Ich hatte am Sonntag auch mal Turniere in anderen Vereinen, im Hinterzimmer, wo also vorne noch gesoffen wurde vom Vorabend. Und wir haben da…(lacht) mit 14 im Hinterzimmer…(lacht) unsere Turniere gespielt. Im verrauchten Hinterzimmer. (lacht) Das war nicht wirklich Sport. Hat sich aber mittlerweile verändert."
Eine Spieler am Billardtisch
Millionenschwer am Billard-Tisch? Kaum ein Spieler kann das von sich behauten, auch die Profis nicht.© imago/blickwinkel
Billard über alles: Als Teenager verbrachte Patrick irgendwann fast mehr Zeit im Verein als zu Hause; reiste an den Wochenenden von Turnier zu Turnier. Er war gut, ziemlich gut sogar, fanden seine Trainer. Im Verein hieß es, er habe das Zeug zum Profi. Doch Patrick wollte nicht.
"Ne, das war für mich nie ne Option, Profi zu werden. Ich weiß nicht, woran das lag. Ich war da einfach nicht fokussiert genug. Mir hat das Spaß gemacht, ich hab auch Ehrgeiz gehabt besser zu werden. Aber nicht genug, um Weltklasse zu werden. Das hab ich mir, glaube ich, auch nicht zugetraut. Heute…heute…wenn ich damals so drauf gewesen wäre wie heute und wüsste, was es braucht: Ich würde den Versuch gerne noch mal wagen."
Sinniert der Self-Made-Mann, ehe er sich einen Ruck gibt. Wer weiß schon, wie es ihm ergangen wäre als Profi. Selbst wenn er Erfolg gehabt hätte. Denn eines ist klar: Reich wäre er als Billard-Spieler nicht geworden.

Topverdiener im Billard stand bei 300.000 Dollar

"Selbst die Profis sind weit von anderen Sportarten entfernt, was das Geld angeht. Es gab mal ne Liste, vor fünf Jahren, wo ganz viele Sportarten immer den Topverdiener aufgelistet hatten. Der Topverdiener im Billard stand bei 300.000 Dollar im Jahr."
"Billard-Profis gibt’s in Deutschland nur wenige. Kann man drei, glaub ich, aufzählen. Da bin ich einer davon."
Erklärt Ralf Eckhardt.
"Ich war mal Weltmeister. 2004. Jetzt bin ich auch vor knapp einem Jahr nach Berlin gezogen und hab hier das Bata als Trainingsstätte für mich entdeckt."
Seit den 90-ern gibt er Training, lange Zeit in Mannheim, seiner Heimatstadt, seit neustem in Berlin.
"Ich hab gesehen, dass sich die Szene in Berlin gut entwickelt. Dann: Berlin natürlich: Hat nen bisschen mehr Potential auch für mich was Trainingskunden angeht. Leute, die Training bei mir nehmen. Leute können jetzt auch leichter aus dem Ausland zu mir kommen. Um Trainingsstunden zu nehmen. Weil Berlin natürlich ne gute Anbindung hat."
Eckhardts internationale Kunden kommen aus Tschechien, Dänemark, der Schweiz. Die meisten buchen ihn für zwei, drei Tage, manche auch gleich für eine Woche.
"Viele Fachleute bezeichnen Pool-Billard zum Beispiel als schlafender Riese."
Der Ex-Weltmeister schaut zu Patrick. Sie haben schon häufiger darüber diskutiert; welches Potential im Pool-Billard steckt; wie man es hinbekommen könnte, den schlafenden Riesen zu wecken. Der Jüngere von den beiden sieht das Ganze eine Spur nüchterner. Klar gebe es einen Markt fürs Billard, betont Patrick. Doch gerade als Billard-Unternehmer dürfe er sich auch nichts vormachen: Ein Massensport wie Fußball werde das Spiel mit den bunten Kugeln nie.
"Wenn das wirklich so ne Nische ist, sollte man im Kopf behalten: Das ist ne Nische. Das hat Chancen und Risiken. Die Chance ist, dass es in den Nischen nicht so viele Mitspieler gibt. Das heißt, man kann relativ schnell ne wichtige Position in der Nische erarbeiten. Man sollte eben aber auch nicht vergessen, dass es ne Nische ist. Das heißt: Das Potential nicht überschätzen. Auch: Die eigene Begeisterung: Das ist immer das Risiko, wenn man das Hobby zum Beruf macht…die eigene Begeisterung nicht bei anderen Leuten voraussetzt."
"Ich zeig dir mal Hier hast du zum Beispiel nen recht steilen Sektor. Unsere Sektor-Terrasse. Und da siehst du hier zwei gelbe Griffe. Da steht Start drauf. Dann kletterst du nach oben. So! Hah! Und wenn du dann das Top-Schild erreicht hast, dann nimmste die zweite Hand dazu. Und darfst abspringen."
So einfach ist das. Zumindest für jemanden wie Lutz Schneider. Der Mann mit den Oberarmen eines Dachdeckers lacht. Reine Übungssache. Es ist Mittwoch-Mittag, kurz nach zwölf. Draußen, auf der Rummelsburger Bucht im Osten Berlins, schippern die Lastkähne und Tretboote gemächlich die Spree entlang. Drinnen, im "Ost-Bloc", holt Lutz tief Luft, ehe er einem auf die Sprünge hilft - in Sachen Bouldern, der neuen Trend-Sportart.
"Boulder heißt ja nichts anderes als der Fels-Block. Also es ist kein richtiger Gipfel, sondern ein Block. Der heißt Boulder auf Englisch. Deswegen sagt man: Man blockt."
Blocken tut der End-Vierziger schon lange. Das erste Mal gebouldert hat Lutz vor über 25 Jahren, in seiner alten Heimat, in Sachsen. Es waren andere Zeiten. Bouldern galt damals als etwas für Weicheier, die nicht genügend Mumm hatten fürs richtige Klettern; als neumodischer Kram aus den Vereinigten Staaten, der bestimmt das bleiben würde, was er war: Eine Nischen-Sportart.

Startprobleme und viel Papierkram

"Aus meiner Sicht ist es natürlich kein Nischen-Sport mehr. Es gibt Weltmeisterschaften, es soll olympisch werden. Wir haben hier unheimlich viele Menschen jeden Tag. 200, 300 Leute teilweise."
Vor fünf Jahren hat Lutz zusammen mit einem Geschäftspartner die Riesen-Lagerhalle am Rande des alten Rummelsburger Gefängnisses gemietet. Er breitet die Arme aus: Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine Halle mit genügend Platz, in halbwegs gutem Zustand, zentral gelegen; idyllisch noch dazu. So richtig kann Lutz sein Glück immer noch nicht fassen. Er ist nach draußen gegangen - an seinen Lieblings-Platz: Der alten Trauerweide direkt an der Spree. Hier sitzt er manchmal, wenn er genug hat vom Büro, dem ganzen Papierkram; dem Stress. Doch der studierte Geologe will nicht klagen. Schließlich brummt der Laden. Vorherzusehen war das nicht – im Gegenteil. Die Anfangszeit war mühsam. Eine Boulder-Halle als Geschäftsmodell – damit konnten die Banken nichts anfangen. Sparkasse, Volksbank, diverse andere Banken – keiner wollte ihm einen Kredit geben – trotz eines Business-Plans und der Tatsache, dass Lutz in Leipzig schon erfolgreich eine Boulder-Halle betrieben hatte.
"Als die gehört haben, wir wollen eine Kletterhalle bauen. Und dann aber noch gesagt haben: Es ist kein richtiges Klettern, sondern Klettern in Absprunghöhe – dann haben die schon die Augen verdreht. Schon allein bei unseren Gesprächen mit den Banken: Da ist man auf sehr viel Unverständnis gestoßen. Auch Neugier. Aber viel Unverständnis. Das ist das typische: Dass Gründer, die mit was völlig Neuem kommen, generell kein Geld gegeben wird, in meiner Erfahrung."
Lutz und sein Geschäftspartner ließen trotzdem nicht locker. Kurzerhand steckten sie ihre gesamten Ersparnisse in die Halle. Volles Risiko. Es hat sich gelohnt: Heute ist der "Ost-Bloc" fast schon so etwas wie ein kleines mittelständisches Unternehmen – mit vierzig Angestellten und einem Ableger in Schöneberg.
"Es war auch Bauchgefühl. Und es hätte auch schief gehen können. Es ist auf jeden Fall mehr Konkurrenz. Aber zum Glück ist es in Berlin so, dass alle Boulderer sich gut verstehen. Wir hatten auch gerade einen sogenannten Schrauber-Wettkampf. Und wir haben eine neue Farbe eingeführt. Eine sogenannte Joker-Farbe. Die ist interessanterweise unübersehbar pink. Dazu haben wir alle anderen Hallen auch eingeladen. Und die haben das dankenswerterweise auch angenommen."
Sieben Boulder-Hallen gibt es inzwischen allein in Berlin; vor fünf Jahren - als Lutz anfing - waren es nur zwei. Schöneberg, Spandau, Lichtenberg: Überall in der Hauptstadt haben Hallen aufgemacht. Max Flettmann findet das gut – das breite Angebot. Auch wenn es aus Gewohnheit meistens doch wieder im Ost-Bloc landet.

Vom Bergsteigen zum Bouldern

"Ich mach grad Päuschen. Man muss immer so zwischendurch mal fünf Minuten Pause machen. Sonst ist man nach einer halben Stunde fertig."
Der blonde Anfang 30-Jährige steht auf. Kurzes Stretching, dann springt er auf die blaue Matte, die vor Verletzungen schützen soll, und läuft zum grauen Block an der Wand. Die roten Griffe da, ruft er: Das ist sein nächster Parcour. Rot – das bedeutet beim Bouldern: "Sehr schwer". Viel anspruchsvoller geht es kaum: Darüber gibt es nur noch zwei Farben: Grau für "extrem schwer". Und schwarz für "super schwer". An den grauen Griffen will er sich später probieren. Wenn sein Arbeitskollege da ist, mit dem er sich verabredet hat.
"Ich arbeite an der Uni. Und meine halbe Arbeitsgruppe bouldert eigentlich. Ärgerlich auch ein bisschen. Weil dadurch sind die Hallen sehr voll."
Max klettert los. Nach ungefähr zwei Minuten hat er die circa fünf Meter hohe Felsspitze erreicht – ehe er sich vorsichtig fallen lässt. Das alles wirkt koordiniert; routiniert auch. Kein Wunder: Schließlich bouldert Max schon über fünf Jahre. Davor ist er geklettert. Doch irgendwann hatte er genug vom Bergsteigen.
Sportler erproben ihr Können an einer Kletterwand.
Egal ob an Wänden, in Hallen oder in freier Natur - Klettern und Bouldern sind schwer angesagt.© Jessica Sturmberg
"Das Bouldern ist einfach nen bisschen flexibler. Man ist relativ schnell fertig damit. Und kann einfach flexibel mal hingehen und wieder nach Hause gehen. Und hat den Sport durch."
Vom klassischen Bergsteigen kommt eigentlich auch Lutz. Schon als Jugendlicher fuhr er mit seinen Eltern zum Klettern in die Sächsischen Schweiz – noch zu DDR-Zeiten. Anfangs, erzählt er, sei er Feuer und Flamme gewesen. War ja auch ein Erlebnis: Draußen in der Natur bizarre Felsformationen hochzuklettern; oben auf dem Gipfel zu stehen; der Adrenalin-Kick. Doch je älter Lutz wurde, desto mehr verlor er die Lust am Bergsteigen. Da war zum einen der enorme Aufwand; dass er sich schon Wochen vorher mit anderen Bergsteigern verabreden musste. Am meisten aber störte ihn die klare Hackordnung.

Tangoschule im unscheinbaren Hinterhaus

"Da gab’s einen Vor-Steiger. Wir waren die Nach-Steiger. Da gab’s auch ne gewisse Hierarchie. Also so richtig klassisches Bergsteigen. Zum anderen ist es halt so, dass ich beim Bouldern in Bodennähe Bewegungen ausprobieren kann, die ich mir dann oft im gefährlichen Sturz-Gelände nicht aneignen kann, weil ich einfach zu viel Angst habe."
Ernsthaft etwas passiert ist Lutz beim Bouldern all die Jahre nicht. Ein paar Kratzer, die eine oder andere Schramme: Mehr war nicht. Wenn es irgendwie geht, versucht er immer noch drei Mal die Woche zu bouldern. Der Sport-Fanatiker hebt die muskulösen Hände. Zwar ist er immer noch fit, aber langsam geht er auf die 50 zu, das heißt Schnelligkeit und Koordinationsvermögen lassen nach. Seine Frau – meint er lachend – sei inzwischen schneller als er. Am Wochenende wollen sie wieder zum Bouldern rausfahren – zusammen mit den drei Töchtern - rüber nach Tschechien: In die Böhmische Schweiz – das tschechische Pendant zur Sächsischen Schweiz.
"In der Sächsischen Schweiz ist das Bouldern ja verboten. Da darf ich den Fels nur beklettern, wenn ich als Ziel den Gipfel habe. Generell gibt es ja nen großes Regelwerk in der Sächsischen Schweiz. Unsere tschechischen Freunde auf der anderen Seite sehen das wesentlich entspannter und lockerer. Da wird regelmäßig zu Boulder-Wettkämpfen eingeladen. Im Sandstein. Ich glaub, das entspricht eher dem Zeitgeist."
"Tango ist ja im Grunde wie gehen. Ist ja gemeinsames Gehen zu Musik. Mit anderen Menschen auf der Tanzfläche. Das ist eigentlich Tango-Tanzen."
Gut fünf Kilometer sind es von der Boulder-Halle bis zum "Nou Tango Berlin" in Mitte – eigentlich immer nur die Spree flussabwärts, dann ist man da. Hier, im Hinterhof einer alten Fabrik unweit des Bertold-Brecht-Hauses, ist der Tango zu Hause.
Montag-Abend, kurz nach sieben. Die Fabriketage im zweiten Stock ist gut gefüllt. Dreißig, fünfunddreißig Leute sind an diesem lauen Sommertag bekommen, etwas mehr Frauen als Männer, die meisten zwischen dreißig und vierzig. Deutsche, Franzosen, ein gebürtiger Iraker: Das übliche internationale Mitte-Publikum. Durch die meterhohen Fenster fallen die letzten Sonnenstrahlen, doch dafür haben die wenigsten hier einen Blick. Gebannt starren sie auf Thomas Rieser, ihren Lehrer. Die nächsten anderthalb Stunden hört alles auf sein Kommando. Der schlaksige Typ hat aus seinem Hobby einen Beruf gemacht. Als Veranstalter von Tango-Events wie dem "Internationalen Tangofestival Berlin" und als Betreiber und Lehrer von "Nou Tango".
Tango als "schöne Begegnung von zwei Personen"
"Insofern auch kein Hochleistungs-Sportler. Es gibt einige Tango-Tänzer, international, die man jetzt schon so fürs Tanzen…könnte man die schon Hochleistungs-Sportler nennen. Also die sind dann in der Regel jedes Wochenende irgendwo in der Welt unterwegs – unterrichten Workshops, tanzen Shows."
Für Thomas wäre das nichts – gleich aus mehreren Gründen. Er hat Familie, seine älteste Tochter, Arielle, ist 7, die jüngste, Josefina, gerade zwei geworden. Ständig auf Achse zu sein – das kommt für den Mann, der nebenbei noch an der Charité über den Tango als Nachsorge-Methode für Krebspatienten promoviert, nicht in Frage. Hinzu kommt: Bei den Tango-Shows geben immer noch die Traditionalisten den Ton an. Traditionell, das heißt: Eng tanzen, mit möglichst komplizierten Schrittfolgen und dramatischer Geste. Thomas schüttelt den Kopf. Sein Ding ist das nicht. Der "Neo-Tango" umso mehr, die modernere Form des argentinischen Tanzes. Beim Neo-Tango tanzen die Paare offener, geht alles eine Spur entspannter zu. Slow-motion statt Hochleistungs-Tanz: Anfangs hatte Thomas Sorge, seine Partnerinnen könnten sich dabei langweilen.

Unternehmens-Slogan: Weniger ist mehr

"Das stimmt aber nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall: Dass die Frauen total glücklich sind, wenn sie Partner haben, die ruhig und entspannt sind. Und einfach nur gehen. Und schöne, kleine Bewegungen machen. Und man nicht das Gefühl hat, ständig so auch getestet zu werden. Dass man so: Hoh! Kann sie das jetzt auch? Oh! Kann sie das? Oder: Hm. Das versteht sie noch nicht. Kann sie noch nicht. Das hat für mich nicht so viel im Tango zu suchen. Weil Tango soll eben diese schöne Begegnung von zwei Personen auf der Tanzfläche sein. Die sich oft auch nicht kennen. Und man trifft sich dann. Und dafür ist weniger definitiv mehr."
Weniger ist mehr: So ließe sich auch ganz gut die Unternehmens-Philosophie von "Nou Tango" zusammenfassen. Die Wände des großen Tanzsaals sind unverputzt, die Sessel und Sofas stammen aus Second-Hand-Läden, die Fotos und Gemälde sind entweder selbst geschossen, wie das großformatige Foto vom "Tango-Flashmop" im Victoria-Park in Kreuzberg. Oder sie kommen aus Familienbesitz: Wie das Öl-Portrait von Thomas’ Großmutter. Schwülstiger Tango-Barock, der so tut, als sei Berlin Buenos Aires: Thomas schüttelt den Kopf. Bloß nicht. Er nippt an seinem Espresso. Der erste Kurs ist gerade vorbei, in ein paar Minuten beginnt die "Practica" – der offene Tanz. Der Tango-Unternehmer schaut nach rechts, zur Eingangstür. Da kommen schon die nächsten Kursteilnehmer. Das Geschäft läuft gut. Überraschend gut. Denn: Einen Plan hatte Thomas nicht, damals, vor über fünfzehn Jahren, als alles begann - ganz zu schweigen von einem Business-Plan.
"Ich bin da wirklich reingerutscht. Typische Berliner Biographie, würd ich das nennen. Ich hab studiert. Und hab dann parallel mit nem Freund nen Raum saniert. Auch für Tango. Und das Tango hat sich gut entwickelt. Hat mir auch Spaß gemacht. Ich hab vorher allerdings auch schon ne Ausbildung gemacht als Bewegungslehrer. Also hatte da ne Vorbildung. Und hab wirklich sehr viel Gefallen gefunden am Unterricht; am Tango-Unterricht. Und dann hat sich das so peu á peu weiter entwickelt. Das war nicht geplant. Das war nicht so, dass ich mich hingesetzt habe und gesagt hab: Jetzt mache ich Tango zu meinem Beruf und Lebensinhalt."

Tango-Unternehmer mit eigenen Trainern

Thomas springt auf. Drei Mal die Woche gibt er noch Unterricht, mehr ist nicht mehr drin. Schließlich ist er jetzt Unternehmer, Tango-Unternehmer. Mit neun festen Trainern und diversen Tango-DJs, die bei ihm auflegen. Ganz schön viel Verantwortung, zumal die Konkurrenz in der Berliner-Tango-Szene größer geworden ist. Andererseits:
"Ich find Konkurrenz macht auch wieder keinen Sinn – im Tango. Finde ich. Weil: Es geht alles um die Szene. Man nimmt sich ja nix weg. Es geht ja darum, neue Schüler zu gewinnen. Ich möchte ja nicht die Schüler einer anderen Schule zu mir holen. Sondern an dem Ort, wo ich bin, neue Schüler gewinnen. Neue Leute für den Tango zu begeistern."
"Ist meine Art zu chillen, nach dem Job.
"Also für mich: Tango ist wie eine Unterhaltung. Oder Sprache halt. Zwischen zwei Partnern, aber ohne Wörter. Und diese Emotion ist ganz stark."
"Die Musik. Und die fließenden Bewegungen."
Tango ist in. Diese Erfahrung hat auch Leandro Furlan gemacht, einer der Lehrer hier. Der Argentinier ist in der internationalen Tango-Szene kein Unbekannter:
"Kulturell – es gibt eine große Unterschied. Hier ich brauche mehr zu erklären. Technisch. Und viel mehr im Prinzip mit Worte, was ich will."
"Das sind die beiden Räume, die zeige ich ihnen noch: Können se rein gucken. (Musik) Hier: Nennen wir Spiegel-Raum."

Flüchtlinge kamen in der Tangoschule unter

Mit dem Spiegel-Raum hat es eine besondere Bewandtnis. Noch im Januar übernachteten hier Flüchtlinge. Eine spontane Aktion – erinnert sich Thomas. Jemand von der Flüchtlings-Initiative "Moabit hilft" hatte ihn angesprochen und gefragt, ob bei ihm in der Tango-Schule vorübergehend Flüchtlinge Unterschlupf finden könnten.
"Dann hab ich am nächsten Tag auf Facebook geschrieben: Leute! Hier! Wir werden ab heute Abend geflüchtete Menschen bei uns unterbringen. Wer macht mit? Und das hat innerhalb kürzester Zeit unglaublich die Runde gemacht. Nicht nur in Berlin. Ganz Deutschland und auch in der Welt. Daraus ist dann diese Initiative entstanden, die wir immer noch machen. "Tango Berlin hilft" heißt das. Mittlerweile ist das ein Verein."
Es ist spät geworden. Gut zwanzig Tango-Schüler sind immer noch da. Die Kurse vorhin waren sozusagen die Pflicht. Jetzt beginnt die Kür: Die Tango-Lounge. Es dürfte eine lange Nacht werden – für Thomas, den Tango-Unternehmer mit dem sozialen Gewissen. Und für die anderen Tango-Begeisterten.
"Tango ist immer nachts. Gerade auch Berlin ist berühmt-berüchtigt dafür, dass wir die Nächte durchtanzen."
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