Tagebuch von Anne Frank

Die Deutschen waren erschüttert - aber ohne Schuldgefühle

29:51 Minuten
Großaufnahme eines handschriftlich gefüllten Notizbuches, in das Fotos eingeklebt wurden.
Ein Faksimile des Tagebuchs der Anne Frank: Das Werk gibt es in verschiedenen Versionen und Übersetzungen. © picture-alliance/ dpa / epa / Ade Johnson
Von Renate Maurer · 10.06.2022
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Mitte der Fünfziger begann die Erfolgsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank. Eine populäre Theaterumsetzung sorgte dafür, dass sich die Deutschen mit dem Buch beschäftigten. Doch von echter Vergangenheitsbewältigung konnte noch keine Rede sein.
Am 4. August 1944 werden die beiden untergetauchten Familien Frank und van Pels in Amsterdam verhaftet. Die Sekretärin Miep Gies rettet durch Zufall Annes rot-weiß-kariertes Tagebuch, sowie Schulhefte und hunderte Seiten Durchschlagpapier.
Als einziger Überlebender der Familie macht es sich Annes Vater Otto Frank später zur Lebensaufgabe, ihr Werk zu veröffentlichen und zu verbreiten. Das Problem ist, dass es zwei Versionen gibt. Anne selbst hatte im Mai 1944 damit begonnen, ihr Tagebuch zu einem Roman mit dem Titel "Das Hinterhaus" umzuarbeiten.

Die zweite Version des Tagebuchs

Otto Frank erstellte das Typoskript auf der Basis von Annes zweiter Version, in die er Teile aus ihrer ersten Fassung einfügte. Einen Verlag zu finden, war allerdings schwer.
Im Juni 1947 wurde das Tagebuch "Het Achterhuis" endlich gedruckt und in dem kleinen Amsterdamer Verlag Contact publiziert, es verkaufte sich gut.

Tipp: Noch bis zum 26.Juni 2022 ist in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Ausstellung "Kinder im KZ Bergen-Belsen" zu sehen.

1950 erschien das Buch schließlich auch bei einem kleinen Verlag in Heidelberg unter dem Titel "Das Tagebuch der Anne Frank", fand aber nur wenige Leser. Die Übersetzerin, Anneliese Schütz, war eine alte Bekannte der Franks und hatte Theresienstadt überlebt.
Im Frühjahr 1955 brachte der Fischer Verlag dann das Tagebuch als preisgünstiges Taschenbuch heraus. Auf der Titelseite: eine Schwarz-weiß-Aufnahme von Franks Firma an der Prinzengracht, darüber ein signalroter Streifen, mit dem Slogan: "Ich glaube an das Gute im Menschen."
Es verkaufte sich prächtig.

Das erfolgreichste Theaterstück in Deutschland

Auch ein Theaterstück zum Thema fand viel Zuspruch: "Das war in der Spielzeit 1956/57 das erfolgreichste Stück in ganz Deutschland, und das blieb auch die kommenden Jahre so", sagt der Historiker Stephan Scholz.
Das Anne-Frank-Bild der deutschen Leser blieb bis in die 1980er-Jahre von der stilistisch gezähmten und politisch entschärften Schütz-Übersetzung des Tagebuchs geprägt – und von der amerikanisierten Bühnenfassung.
Was die Vergangenheitsbewältigung anging, schaffte es erst die amerikanische TV-Serie "Holocaust" 1979, die Deutschen tiefgehend zu erschüttern.
"Das waren regelrechte Schockbilder", so Scholz: "Bilder, die Szenen, die im Tagebuch ausgespart bleiben, zwangsläufig. Das hat nochmal eine sehr viel stärkere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung ausgelöst und ein sehr viel intensiveres Nachfragen ermöglicht: Wie konnte das passieren? Und wie ist es genau passiert?"
1986 erschien in den Niederlanden und 1988 in Deutschland das "vollständige" Tagebuch in neuer Übersetzung von Mirjam Pressler, die Anne wieder ihre schwungvolle Sprache zurückgab. Es ist um ein Drittel umfangreicher.
Das komplette Manuskript der Sendung zum Nachlesen finden Sie hier.

Die Sendung ist eine Wiederholung vom 30.9.2016 anlässlich des Anne-Frank-Tags 2022.

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