Tagebau in Indien

In der Kohlehölle von Jharkhand

Kinderarbeit auf den Kohlefeldern von Jharia, Indien.
Kinderarbeit auf den Kohlefeldern von Jharia. © Deutschlandradio / Sandra Petersmann
Von Sandra Petersmann · 08.12.2015
Um den stetig wachsenden Energiehunger zu stillen, setzt das Schwellenland Indien ganz auf Kohle. Nirgendwo ist die Ausbeutung des fossilen Brennstoffs sichtbarer als im ostindischen Bundesstaat Jharkhand. Der Alltag ist brutal.
Shivani schlurft mit rußverschmierten Flipflops in den noch dunklen Morgen hinaus. Es ist erst kurz nach fünf Uhr, das Mädchen macht sich wie jeden Morgen mit leerem Magen auf den Weg zur Arbeit. Sie trägt einen großen, leeren Bastkorb vor sich her.
Am Dorfrand brennt es. Shivanis Plastiksandalen waren mal pink, doch der dichte Kohlestaub, der hier alles verschlingt und weiße Ziegen schwarz färbt, hat auch das leuchtende Pink ihrer Flipflops aufgefressen.
"Es geht nicht anders. Ich arbeite in der Kohlemine, seit ich zehn Jahre alt bin", erzählt Shivani. Das 14-jährige Mädchen wandert durch beißende Rauchschwaden. Um sie herum schwelen Brände, die den Klimawandel befeuern und ihr zuhause bedrohen. Sie springt über einen kleinen Fluss, dessen Wasser schmierig grau ist. Shivani hat in der Schule vom Klimawandel gehört.
"Wir haben über die Erwärmung der Erde gesprochen. Und wie die Kohle dazu beiträgt und dass die Kohle auch die Luft verschmutzt."
Die 14-jährige Shivani auf dem Weg in den Tagebau.
Die 14-jährige Shivani auf dem Weg in den Tagebau.© Sandra Petersmann / ARD Neu Delhi
Von oben sieht es so aus, als sei ein Vulkan ausgebrochen. Shivani klettert in ihren Plastiksandalen die steilen Abhänge der Bergbauhalde herunter. Sie läuft mit ihrem noch leeren Bastkorb durch eine offene Kohlemine, vorbei an riesigen Bergbaumaschinen, deren Schaufeln sich gierig in den Tagebau fressen. Ihr kommt ein Strom von Männern, Frauen und Kindern mit rußverschmierten Gesichtern entgegen, die Bastkörbe mit schweren Kohlebrocken auf ihren Köpfen balancieren.
Apokalyptischer Alltag
Manchmal schießen Flammen aus glühenden Bodenspalten. Lastwagen, die Kohle und Gesteinsbrocken aus dem Tagebau hochfahren, donnern im Minutentakt gefährlich nah an den Kohleträgern vorbei. Dichter, dunkler Rauch vernebelt die Sicht. Die Luft zum Atmen ist beißend sauer. Sie schmeckt nach Metall und riecht nach Schwefel.
Für Shivani ist diese Apokalypse Alltag. Sie lebt mit ihrer Familie in der Region Jharia im armen, aber rohstoffreichen ostindischen Bundesstaat Jharkhand. Hier schlummern die viertgrößten Kohlereserven der Welt im Boden. Hier dreht sich alles um das schwarze Gold, das Indiens Energiehunger stillen und das Wachstum anheizen soll. Hier produziert die Indian School of Mines den Nachwuchs für die indische Kohleproduktion. Professor Pramod Pathak lehrt Wirtschaftsmanagement an der renommierten Bergbau-Universität.
"Kohle ist das Rückgrat unserer Energiesicherheit. Wir hängen zu 50 bis 60 Prozent von Kohle ab. Die Kohle geht uns hier in Jharia frühestens in zwei Generationen aus. Was danach kommt, weiß ich nicht. Heute wechseln viele meiner Studenten in die Kohleindustrie."
Der Bergbau in Jharia begann Ende des 19. Jahrhunderts unter den britischen Kolonialherren. Die Kohleförderung hat seit der Entdeckung ständig zugenommen – mit gravierenden Folgen: Heute lodern in Jharia rund 70 Kohlebrände, von denen die meisten schon seit 100 Jahren brennen. Die Brandherde sind Kohleflöze, die unter der Erde liegen. Die Kohlefeuer stoßen jeden Tag tonnenweise klimaschädliches Kohlendioxid aus. Sie fressen sich durch Bodenspalten und verwandeln Steine in Lava.
"Wir haben große Angst davor, dass der Boden auch unter uns einbricht wie anderswo. Aber wo sollen wir hingehen, wir leben doch hier alle von der Kohle", klagt eine Anwohnerin.
Kohle kann sich selbst entzünden, doch die meisten Brände sind durch den Bergbau entstanden: durch den Abbau kommt Kohle in Kontakt mit Sauerstoff. Das setzt chemische Reaktionen frei, die bei Hitzestau unter der Erde Flözbrände auslösen können.
Vom Physiker zum Umweltaktivisten
Ashok Agarwal hat fast sein ganzes Leben in Jharia verbracht. Der Großvater ist ein studierter Physiker. Er kämpft für das Überleben seiner Heimat. Agarwal wirft der Kohleindustrie vor, löschbare Flözbrände bewusst nicht zu löschen – um sich teure und zeitaufwendige Enteignungs- und Umweltprüfungsverfahren zu sparen.
"Die benutzen das Feuer, um sich das Land zu sichern. Wenn sich das Feuer an das nächste Dorf heran frisst, muss das Dorf geräumt werden. Und wenn das Dorf weg ist, können sie auch dort ungehindert Kohle fördern. Dann werden sie auch einige der Feuer löschen, aber nicht jetzt. Wir reden hier über 700.000 Familien, die hier irgendwann umgesiedelt werden müssen."
Der Bergbau in Jharia läuft trotz der rund 70 Flözfeuer auf Hochtouren. Die Kohle hier ist besonders hochwertig, sie taugt zur Stahlproduktion. Um sie und andere Rohstoffe zu fördern, müssen Wälder, Felder und Menschen weichen.
Das sei nötig und im nationalen Interesse, sagt Deepak Prakash, der Vizepräsident der Regier-ungspartei BJP im ostindischen Bundesstaat Jharkhand.
"Die Kohle in Jharia ist für uns hier in Jharkhand und für das ganze Land unverzichtbar. Wir leiden unter Energiemangel. Das bremst unser Wachstum. Wir brauchen diese Kohle für die Entwicklung unseres Landes. Kohle ist für Indien der wichtigste Energieträger. Wir haben hier in Jharkhand die größten Reserven im ganzen Land."
Indiens staatliche Kohleproduktion öffnet sich unter dem wirtschaftsfreundlichen Premierminister Narendra Modi für die großen, privaten Rohstoffunternehmen. Am untersten Ende der Förderkette leben sogenannte illegale Kohlesammler wie Shivani.
Shivani hilft ihrem Vater im Tagebau.
Shivani hilft ihrem Vater im Tagebau.© Sandra Petersmann / ARD Neu Delhi
Nach einer knappen halben Stunde Fußmarsch durch den Tagebau hat das Mädchen seinen Vater Lal Oram entdeckt, der mit einer Spitzhacke Kohlebrocken aus der Wand eines schmalen Grabens schlägt. Er wuchtet die Brocken in Shivanis Bastkorb und füllt ihn bis zum Rand. Dann hievt er den Korb auf den Kopf seiner 14-jährigen Tochter. Lal Oram war mal Kleinbauer, doch sein kleines Stück Land gibt es nicht mehr. Heute erntet er Kohle.
"Die Kohle sichert unser Überleben. Sie ernährt unsere Kinder. Die Luft hier macht krank, aber es gibt hier keine andere Arbeit für Menschen wie uns."
Shivani und dutzende andere Kohleschlepper setzen sich in Bewegung. Jetzt geht es in Plastiksandalen und mit rund 20 Kilogramm Kohle auf dem Kopf die steilen Hänge des Tagebaus hoch. Die nationale Bergbaugesellschaft lässt die Menschen für ein paar Stunden am frühen Morgen gewähren. Der Feind ist die organisierte Kohlemafia, die im großen Stil illegal abbaut.
Von der Mine in die Schule
Shivani wuchtet auf nüchternen Magen drei bis vier Bastkörbe aus der Mine. Dann hetzt sie nach Hause, um sich vor der Schule zu waschen.
"Ich habe mich daran gewöhnt, ohne Essen zu arbeiten. Es ist wichtig für die Familie, dass jemand meinem Vater hilft, er schafft das nicht alleine. Mein großer Bruder hat es nicht mehr ausgehalten und ist abgehauen, aber wenn wir Kinder unseren Eltern nicht helfen, wer soll ihnen dann helfen?"
Shivani geht nach harter Arbeit zur Schule.
Shivani geht nach harter Arbeit zur Schule.© Sandra Petersmann / ARD Neu Delhi
Sie schlingt schnell noch ein paar Löffel Reis und Linsen herunter, dann macht sie sich auf den Weg zur Schule. Zurück bleibt ihre Mutter Sumitra Devi. Die Kohle hat die hagere Frau krank gemacht. Ihr Herz schlägt unregelmäßig, das Atmen fällt ihr schwer, sie hustet oft. Sie nimmt Tabletten gegen Tuberkulose.
"Ich fühle mich schuldig, dass meine Tochter diese schwere Arbeit machen muss. Wenn ich gesund wäre, würde ich das Kind nicht arbeiten lassen. Shivani tut mir wirklich leid. Mein Mann und ich werden älter. Ich mache mir Sorgen, dass ihr Leben hier stehenbleibt."
Das winzige, flache Ziegelhaus der Familie ist 24 Stunden am Tag eingehüllt in Kohlestaub und Rauchschwaden. Wie alle Dorfbewohner verbrennt Sumitra Devi die Rohkohle vor der Eingangstür, um sie in raucharme Kokskohle zu verwandeln, mit der man kochen und heizen kann. Nach dem Abkühlen klopft sie die Kokskohle mit einem Hammer in kleine Brocken und füllt sie in Säcke ab. Sobald ihr Mann aus dem Tagebau zurück ist, lädt er die Säcke auf sein Fahrrad und fährt in die Stadt, um die Kokskohle an Restaurants, Garküchen und Privathaushalte zu verkaufen.
Shivanis Eltern produzieren Kokskohle.
Shivanis Eltern produzieren Kokskohle.© Sandra Petersmann / ARD Neu Delhi
Sumitra ist wie ihr Mann nie zur Schule gegangen. Vom Klimawandel hat sie durch lokale Umweltaktivsten erfahren. Sie zuckt mit den Schultern.
"Wir brauchen alle Strom, um gut zu leben, und Kohle gibt uns Strom. Wenn wir aufhören, Kohle zu fördern, dann machen die großen Bergbauunternehmen trotzdem weiter. Wir sind dann arbeitslos. Ohne Strom können wir bestimmt auch das Klima nicht schützen."
An guten Tagen verdient die Familie 250 Rupien. Das sind umgerechnet drei Euro und 50 Cent. Davon leben Vater, Mutter, Shivani und ihre beiden jüngeren Geschwister, die vielleicht auch bald mit anpacken müssen.
Entwicklung auf Kosten der Armen
Die Gewinner des indischen Kohlebooms sitzen woanders, sagt Ashok Agarwal. Der Physiker im Ruhestand ist im hohen Alter zum Aktivisten mutiert, um seine Heimat Jharia vor dem Untergang zu bewahren.
"Premierminister Modi will das Land auf Kosten dieser armen Schlucker entwickeln, die hier Kohle abbauen. In Neu-Delhi leben die Reichen heute nicht nur mit Klimaanlagen, sondern auch mit Luftfiltern. Sie pusten ihre verpestete, entwickelte, heiße Stadtluft zu den Menschen hier in Jharia. Die leben sowieso schon in der Hölle, aber du packst ihnen deinen entwickelten Stadtdreck noch obendrauf. Weil du das nötige Geld hast."
Der einstige Physiker und jetzige Umweltaktivist Ashok Agarwal.
Der einstige Physiker und jetzige Umweltaktivist Ashok Agarwal.© Sandra Petersmann / ARD Neu Delhi
Ashok Agarwal stellt sich die beiden Kernfragen des Klimawandels. Was ist Entwicklung? Wer definiert ihre Grenzen?
"Ihr im Westen lebt ein hochentwickeltes Leben, weil ihr den Rest der Welt ausgebeutet habt. Das dürfen wir nicht nachmachen. Aber wir müssen alle entsagen, um den Frieden zu wahren. Unser Lebensstil ist für den Klimawandel verantwortlich. Unser Leben muss wieder spartanischer werden, sonst können wir das Klima nicht schützen. Aber auch im Westen will niemand auf sein Auto verzichten, obwohl das Auto der größte Schädling ist."
Doch Indien will wachsen, will Stahlwerke und Aluminiumhütten und moderne Städte bauen, und die Kohle aus der Region Jharia im Bundesstaat Jharkand gilt als Schlüssel zum Wachstum. Jahrkand heißt übersetzt "dicht bewaldet", doch der Dschungel schrumpft.
Professor Pramod Pathak von der Bergbauuniversität "Indian School of Mines" setzt wie Indiens Regierung vor allem auf technischen Fortschritt.
"Wir versprechen, dass wir die Umwelt so gut wir können schützen, aber wir können unsere Entwicklungsinteressen nicht opfern. Wir suchen nach sicheren Technologien zur Kohleförderung. Es wird der Tag kommen, an dem unsere technische Entwicklung die Umwelt schützen wird. Hier in Indien fragen sich ohnehin viele Menschen, woher die Industriestaaten, die die Umwelt jahrzehntelang ausgebeutet haben, das Recht nehmen, uns zu predigen, unseren Schadstoffausstoß zu senken. Das ist nicht fair."
Das Schwellenland will seine Kohleförderung bis 2020 auf 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr verdoppeln. Der Schadstoffausstoß wird sich im kommenden Jahrzehnt vervielfachen. Indien wandelt sich von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Das Land ist heute nach den USA und China der drittgrößte Produzent von Treibhausgasen - Tendenz steigend.
Deepak Prakash, der Vizepräsident der national-konservativen Regierungspartei BJP in Jharkhand, schlägt versöhnliche Töne an.
"Indiens Entwicklung und unser Beitrag zum Schutz des Weltklimas müssen Hand in Hand gehen. Wir müssen die richtige Balance finden. Wir müssen uns entwickeln und die Armut bekämpfen, ohne unsere Umwelt zu zerstören. Wir können unsere Entwicklung nicht stoppen, um das Klima zu schützen. Aber wir dürfen auch nicht das Klima vergessen, während wir uns entwickeln."
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