Tag der Freundschaft

Warum Poesiealben Mädchensache sind

Ein aufgeschlagenes Poesiealbum
So herzig und brav ging es vor 40 Jahren in Poesiealben zu. Hier ein Blick ins Büchlein unserer Moderatorin Nana Brink. © Deutschlandradio / Nana Brink
Wolfgang Krüger im Gespräch mit Nana Brink · 30.07.2015
Poesiealben, gefüllt mit kitschigen Glitzerbildchen und altklugen Sprüchen, sind heute längst den sehr viel nüchterneren Freundschaftsbüchern gewichen. Aber auch die sind immer noch ein reines Mädchending. Warum das so ist, erklärt der Psychiater Wolfgang Krüger am Internationalen Tag der Freundschaft.
Heute ist der Internationale Tag der Freundschaft. Bedeutung hat dieser Tag vermutlich vor allem für Mädchen und Frauen. Schon in der Grundschule lassen sie ihre besten Freundinnen in kitschige Poesiealben oder – zeitgemäßer – in Freundschaftsbücher schreiben. Es sind für sie Dokumentationen der Verbundenheit. Denn gendersensible Erziehung hin oder her: Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass Mädchen sehr viel emotionaler mit dem Thema Freundschaft umgehen als Jungen, dass ihnen "beste Freundinnen" und deren Freundschaftsbekundungen ungeheuer wichtig sind. Es müssen wohl doch die Gene sein!
Auch der Psychiater und Freundschaftsforscher Wolfgang Krüger hat sich mit dem Thema beschäftigt:
"Es gibt dazu Untersuchungen: Wenn Mädchen und Jungs die Schule wechseln, dann haben Mädchen nach einem Jahr doppelt so viele Freundschaften. Mädchen finden offenbar Rituale, viel schneller auf andere zuzugehen und Freundschaften zu schließen. Und dieses Ritual mit den Poesiealben ist ein Teil davon."
Freundschaftsbücher sind ein wichtiges Ritual
Jungen dagegen sähen ihre Kontakte zu anderen Jungen sehr viel sachlicher und pragmatischer. Freundschaftsbücher kämen für sie nicht in Frage. Krüger hält Freundschaftsbücher gleichwohl für ein wichtiges Ritual, um soziale Kompetenzen einzuüben: Indem ein Kind auf ein anderes zugehe und aktiv um einen Eintrags ins Freundschaftsbuch bitte, bekenne es sich dazu, mit dem anderen befreundet sein zu wollen. "Man muss sich Gedanken darüber machen: Wer ist mir wichtig?"
Auch später pflege nur ein Drittel der erwachsenen Männer echte Freundschaften. Krüger findet das bedauerlich – denn diese Tatsache stürze Männer bei Trennungen viel häufiger in eine Krise als umgekehrt Frauen, die von ihren Freundinnen aufgefangen würden.


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Es gibt ja so viele internationale Tage – der Milch, des Yoga, der Pressefreiheit der Händehygiene, das ist jetzt kein Witz, aber dieser hier hat uns allerdings besonders gefallen, nämlich der internationale Tag der Freundschaft, der ist nämlich heute. Und als ich mich auf das Gespräch gleich mit meinem Studiogast, Wolfgang Krüger – er ist Psychiater und Freundschaftsforscher – vorbereitet habe, da bin ich erst mal zu meinem Bücherregal gestern gegangen und habe zwei Poesiealben entdeckt und da wollen wir gleich drüber sprechen. Vielleicht haben Sie ja auch noch eins, da müssen Sie unbedingt mal wieder reinschauen, das ist witzig, was man da so alles reingeschrieben hat! Guten Morgen erstmal, Herr Krüger!
Wolfgang Krüger: Schönen guten Morgen!
Brink: Wenn ich jetzt mein Poesiealbum in der Hand habe, ich habe es gerade vor mir liegen, ich blättere gerade ein bisschen drin, in diesen wunderbaren Glitzerstickern, Herzchen, und da steht dann so, "Wenn die Flüsse aufwärts fließen und die Hasen Jäger schießen und die Mäuse Katzen fressen, dann erst will ich dich vergessen". Ist aber schon ein bisschen so eine Mädchensache, oder?
Krüger: Das ist absolut eine Mädchensache. Es gab in den 80er-Jahren mal den Brauch für fünf Jahre ungefähr, dass auch Jungs das gemacht haben, aber was auffällt, im Grunde sind doch die meisten Sprüche relativ altklug. Der Lieblingsspruch, den es gibt – "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" ...
Brink: Stimmt, den habe ich auch drin! Genau, der kommt hier auch irgendwann! "Tu nur das Rechte in deinen Sachen".
Krüger: Man muss sich vorstellen, dass hier also zehnjährige Mädchen meist, solche Sprüche machen – das ist relativ altklug, deshalb, um das gleich vorweg zu nehmen, ich begrüße es fast, dass man heute Freundschaftsbücher hat, die doch dem Alter etwas mehr entsprechen.
Mädchen lernen, auf andere zuzugehen
Brink: Darauf kommen wir noch zu sprechen. Trotzdem noch mal eher die Frage, Jungs haben das nicht gemacht, Sie haben eine Ausnahme erwähnt – ich dachte immer, Jungs haben eher Bierdeckel gesammelt oder Fußballsticker.
Krüger: Jungs haben das nicht gemacht. Das war doch in irgendeiner Weise zu weiblich, aber im Grunde sind die Poesiealben toll, weil Mädchen lernen auf diese Weise, auf andere zuzugehen und zu sagen, du bist mein Freund, ich möchte was von dir, ich möchte etwas, was die Erinnerung bewahrt. Und wir wissen aus den Vereinigten Staaten, da gibt es eine Untersuchung, wenn Mädchen und Jungs die Schule wechseln, dann haben Mädchen nach einem Jahr doppelt so viele Freundschaften. Also Mädchen finden offenbar Rituale, viel schneller auf andere zuzugehen und Freundschaften zu schließen, und dieses Ritual mit den Poesiealben ist ein Teil davon.
Brink: Woher kommt das Poesiealbum?
Krüger: Wir wissen, es ist etwa 1550 entstanden, es war zunächst der Adel, dann waren es auch Studenten und erst um 1900 am der Brauch auf, dass vor allem Kinder diese Poesiealben dann ausgefüllt haben.
Brink: Und dann auch ausgetauscht haben. Ich kann ja jetzt nicht sagen, dass das hohe Literatur ist, was da drin steht. Sie haben es ja gesagt, das sind meistens ganz altbackene Sprüche. Man wundert sich eigentlich, dass man das mit neun oder zehn Jahren geschrieben hat, aber meine Tochter hat jetzt auch das, was Sie auch schon erwähnt haben, nämlich das Freundebuch. Und da muss ich ganz ehrlich sagen, habe ich mich doch ein bisschen gewundert, weil da keine Sprüche drin stehen, sondern das ist ja eigentlich fast so ein Formular, was man ausfüllt, also was sind deine Hobbies, was isst du gerne, welche Tiere magst du am liebsten. Ist das nicht sehr vorgefertigt?
Krüger: Zunächst einmal, wir brauchen Rituale, wir haben ja auch in der Liebe Rituale. Zum Valentinstag schenken die meisten Männer Rosen. Es ist ja relativ schwierig, etwas ganz Individuelles zu machen. Welcher Mann schreibt denn einen ganz individuellen Liebesbrief? Also Rituale haben im Grunde ihren Sinn, und wenn ich neun, zehn Jahre alt bin und ich lerne so ein Ritual, dann verfestigen sich bestimmte soziale Bräuche.
Brink: Welche? Also kann man das ein bisschen näher beschreiben?
Krüger: Ich lerne, auf jemanden zuzugehen. Ich lerne im Grunde, jemanden zu sagen, du, ich möchte mit dir näher befreundet sein, bitte füll im Grunde das aus, und ich finde dieses Freundschaftsbuch, wo man dann lernt, Sachen auszufüllen – ab wann sind wir befreundet und was sind deine Lieblingsinteressen, was sind deine Hobbies –, ich finde das im Grunde ganz gut, weil man sich ja Gedanken machen muss. Und dann hat man lebenslänglich etwas von dem Freund, was doch sehr persönlich ist.
Brink: Aber es ist doch schon vorgefertigt, also die Kinder fangen ja nicht mehr an, das zu schreiben, was ihnen vielleicht in den Sinn kommt, um sich selbst zu beschreiben, sondern sie finden etwas Vorgefertigtes vor.
Krüger: Ich brauche zunächst einmal im Leben, damit ich bestimmte Verhaltensweisen erlerne, brauche ich Rituale. Ich feiere Geburtstag, ich lade andere Kinder zu meinem Geburtstag ein – es gibt bestimmte Bräuche, die ich übernehme, und diese Bräuche führen dazu, dass ich dabei aber etwas lerne. Emotional passiert da etwas, was ich dann später anwenden kann.
Nur ein Drittel der Männer hat wirkliche Freundschaften
Brink: Machen das dann Mädchen und Jungen gleichermaßen heute? Hat sich das dann geändert?
Krüger: Nee, auch die Freundschaftsbücher gibt es im Wesentlichen bei Mädchen. Jungs machen das nicht. Jungs haben eine ganz andere Kultur – Jungs sind sachlicher, Jungs spielen zusammen Fußball, sie unterhalten sich, sie machen zusammen Schularbeiten, aber dieses emotionale Austauschen, das ist leider heute eine Sache vor allen noch der Mädchen. Und wir bedauern das ja sehr, wir wissen, dass nur ein Drittel der Männer eine wirkliche Freundschaft hat, ein großes Problem, weil in dem Augenblick, wo Frauen sich trennen, kommen Männer oft in eine große Krise. Also wir würden uns wünschen, dass viel mehr Männer eigenständige Männerfreundschaften eingehen würden, das wäre ein großer Fortschritt, davon sind wir noch weit entfernt.
Brink: Also, dass sie eigentlich mehr moderne Poesiealben schreiben, nennen wir es jetzt Freundschaftsbücher?
Krüger: Richtig, das wäre ein großer Fortschritt, aber Männern im Grunde ist das alles zu emotional, das ist zu merkwürdig, das ist im Grunde auch zu weiblich, dass sie das machen. Deshalb haben ja die Jungs, in den 80er-Jahren begonnen, wieder damit aufgehört.
Brink: Ist Facebook dann, also wo man Freunde sammelt, auch so eine weitere moderne Entwicklung des Poesiealbums?
Krüger: Facebook wäre eine moderne Entwicklung, aber Facebook ist im Grunde zu anonym. Wissen Sie, da sammelt man Freundschaften, das sind dann Hunderte, aber was ich ja eigentlich bräuchte, wäre, dass ich von Angesicht zu Angesicht auf jemanden zugehe und ganz emotional den bitte – das ist ein großer Schritt –, dass ich den bitte, im Grunde bitte, tu was für mich, du hast für mich eine Bedeutung. Facebook, das ist zu anonym.
Brink: Haben Sie ein Freundschaftsbuch?
Krüger: Nee, das habe ich nicht. Das war zu meiner Zeit im Grunde gar nicht drin, dass Jungs das machten. Da war der Unterschied zwischen dem, was männlich ist und dem, was weiblich ist, da gab es noch einen großen Unterschied!
Brink: Ja, anscheinend ist da immer noch ein großer ... Wir könnten es ja immer noch machen, vielleicht kann man auch im Erwachsenenalter damit anfangen!
Krüger: Ja!
Brink: Herzlichen Dank, Wolfgang Krüger, der Freundschaftsforscher, und wir haben am heutigen internationalen Tag der Freundschaft über das Poesiealbum oder das Freundschaftsbuch, wie es heute heißt, gesprochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.