Täter stoppen, Opfer schützen

30.04.2008
Die vor einer Woche eröffnete erste Beratungsstelle für Stalker in Berlin verzeichnet eine hohe Nachfrage. Am Anfang des Stalkings, des rücksichtslosen Nachstellens einer Person, stünden zumeist das Gefühl einer Kränkung und der gescheiterte Wunsch nach einer Beziehung, resümiert der Leiter von "Stop Stalking", der Psychologe Wolf Ortiz-Müller. Der neue Paragraf im Strafgesetzbuch wirke heilsam.
Jürgen König: Im Studio der Psychologe Wolf Ortiz-Müller. Er leitet die erste Beratungsstelle für Stalker, die es in Deutschland gibt. Heute vor einer Woche wurde sie in Berlin eröffnet. Herr Ortiz-Müller, wie viele Menschen haben Sie angerufen in dieser Woche oder haben sich per E-Mail bei Ihnen gemeldet?

Wolf Ortiz-Müller: Ich würde sagen, es waren jeden Tag rund ein Dutzend, die sich angemeldet haben. Darunter sind natürlich viele, sage ich mal, auch Profis oder Journalisten, die gemerkt haben, dass das ein Thema ist, was ihre Hörer oder Leser sehr beschäftigen wird. Es sind aber auch Menschen aus den Landeskriminalämtern, anderer Bundesländer, die sich dafür interessieren, Psychiater und natürlich eine große Anzahl von Menschen, die mit diesem Thema zu tun haben.

König: Die wirklich Betroffene sind?

Ortiz-Müller: Die wirklich Betroffene sind, und da würde ich aber noch unterscheiden. Es rufen beispielsweise auch noch Stalking-Opfer an, die auf der Suche sind nach einer Beratung für sich selbst, ein Wunsch, den wir mit unserem Angebot nicht erfüllen können. Entscheidend sind aber eben auch Menschen, die uns in E-Mails schildern, dass sie schon eine lange Stalking-Karriere hinter sich haben, dass sie vielleicht auch schon verurteilt wurden im Zusammenhang mit dem Gewaltschutzgesetz oder im Zusammenhang mit dem Paragrafen 238, dem Nachstellungsgesetz, und nun ein Ermittlungsverfahren gegen sie läuft und die darüber sehr ins Nachdenken kommen, die auch erschrocken sind. Teils, weil sie die juristische Strafe befürchten, und teils, weil sie sich auch vorher gar nicht wirklich klar gemacht haben, dass ihr Verhalten alle Bedingungen eines Straftatbestandes erfüllt.

König: Nehmen wir mal einen solchen Fall. Was machen Sie damit? Wie geht dann diese Beratungstätigkeit vonstatten? Was passiert dann?

Ortiz-Müller: Ein solcher Fall, ein junger Mann hat sich an uns gewendet, und es war erfreulicherweise so, dass er von vornherein die Verantwortung übernommen hat. Das ist für uns sozusagen die Eingangsbedingung. Jemand, der nur sagt, ich kann gar nicht anders, weil die immer so gemein zu mir ist, bietet keine Ausgangsbasis für eine Beratung, wo man ihn dazu hinführt, sein eigenes Verhalten zu reflektieren. Der hat gesagt, ja, ich habe gestalkt, ich habe ihr Angst gemacht, ich wollte das auch zu einem bestimmten Zeitpunkt so. Und dennoch will ich jetzt davon wegkommen. Wenn wir in einer Einführungsphase in ein, zwei, maximal drei Eingangsgesprächen dahin kommen, dass jemand für sich sagt, ja, ich brauche Unterstützung, dann schließen wir eine schriftliche Beratungsvereinbarung ab. In der legen wir fest: Was will der Mensch erreichen, was ist seine Motivation, was sind wichtige Themen aus seinem Leben, an denen er arbeiten will. Wie war es, bevor er stalkte? Was hat genau dazu hingeführt, dass er ein Stalking-Verhalten entwickelt hat? Was würde er selber sagen, was braucht er, um wieder aufhören zu können?

König: Lassen Sie uns mal über das Stalking selber sprechen. Wie fängt das an? Wie verläuft das? Ist das eine Krankheit? Ich glaube, eher nicht. Eine Sucht, könnte ich mir vorstellen, vielleicht ist es aber auch mehr als das. Und bis zu welchem Punkt muss jemand geführt werden oder geführt worden sein, dass er oder sie selber sagt: Jetzt brauche ich Hilfe, jetzt geht es nicht mehr weiter!

Ortiz-Müller: Es ist richtig, dass Stalking keine Krankheit ist. Es ist keine psychiatrische Diagnose. Es ist die Beschreibung von verschiedenen Verhaltensweisen, die als Bündel zusammen diesen Straftatbestand erfüllen. Das reicht eben vom beharrlichen SMS-Verschicken bis hin zu schwerer körperlicher Bedrohung oder Gewalt. In aller Regel steht am Anfang des Stalking ein Gefühl der Kränkung, ein Gefühl der Zurückweisung. Ein Polizist hat mal gesagt, Stalker sind unerhörte Menschen. Wenn man sich das auf der Zunge zergehen lässt und sagt, es sind unerhörte Menschen, dann wird darin deutlich, dass Ausgangspunkt häufig ein Wunsch nach einer Beziehung war, einer Beziehung, die entstehen möge, oder einer Beziehung, die nicht aufhören soll. Und darin fühlen sie sich nicht mehr erhört, nicht mehr gesehen und reagieren auf diese Zurückweisung aggressiv oder anklammernd oder nicht loslassen könnend. Und dann mischen sich in den Stalkern häufig unterschiedliche Gefühlslagen, einerseits noch verliebt zu sein, noch anzuschwärmen, noch zu idealisieren diese Person, und andererseits schon mit einer Form von Ärger, von Rachegefühlen, derjenigen auch einmal zeigen zu wollen, dass sie die Macht haben, um ihre vorher vielleicht erlittene Ohnmacht auszugleichen, das Ohnmachtsgefühl, dass sie hatten im Moment der Zurückweisung, der Trennung.
König: Wann rufen die Stalker Sie an?

Ortiz-Müller: Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass der Paragraph 238, das Nachstellungsgesetz, ein ungeheuer wirksames Instrument ist, auch für die Möglichkeit, eine Stalking-Beratung zu eröffnen, eine Beratung für Menschen, die stalken. Weil dadurch, dass die Opfer eine Anzeige bei der Polizei stellen, hat die Polizei die Möglichkeit im Rahmen einer sogenannten Gefährdeansprache, in bestimmen Fällen sich an den Täter oder die Täterin, an den Gefährder, die Gefährderin, muss ich korrekt sagen, zu wenden, und dann beginnt die Berliner Polizei, zunehmend auf das Angebot von "Stop Stalking" zu verweisen als eine Möglichkeit, die neben der juristischen Strafandrohung dem Opfer die Möglichkeit bietet, von sich aus mit dem Stalken aufzuhören und dafür Beratung in Anspruch zu nehmen.

König: Gibt es auch diese Situation eines inneren Drucks, der so groß wird, dass, abgesehen von der Furcht vor den Folgen seines Tuns, dass die Leute von sich aus sagen: Nein, jetzt wird mir das selber zu viel, und jetzt brauche ich Hilfe?

Ortiz-Müller: Ich glaube, der Absprung ist sehr schwer. Viele erleben das einerseits schon fast als ein inneren Zwang oder als ein suchtartiges Verhalten, was nach immer mehr Dosissteigerung verlangt hat. Und dann zu sagen, jetzt will ich wirklich aufhören, das ist schwer. Es kombiniert sich aber häufig mit der Anzeige, die dann sagen, wenn die Anzeige kommt, wusste ich immer, dann würde ich aufhören.

König: Das heißt, der Druck durch den neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch ist heilsam?

Ortiz-Müller: Der ist sehr heilsam.

König: Wir geben Unterstützung, mit dem Stalken aufzuhören und wieder selbstbestimmt zu leben, so schreiben Sie auf Ihrer Internetseite www.stop-stalking-berlin.de. In Ihrer Beratungsstelle, Herr Ortiz-Müller, arbeiten Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen. Wie sieht diese Unterstützung aus? Oder wie stellen Sie sich, sie stehen ja erst am Beginn dieser Tätigkeit, wie stellen Sie sich eine begleitende Beratung Ihrer Klientel vor?

Ortiz-Müller: Zunächst mal, wenn Sie die große Palette der Berufsgruppen aufzählen, möchte ich sagen, es ist ein ganz kleines Team von Psychologen mit der Zusatzausbildung Psychotherapie oder Sozialarbeiter/Sozialpädagoge. Und die Arbeit, die wir anbieten können, kann sich über eine Prozess von, sagen wir mal, 8 bis 15 Sitzungen erstrecken, in denen wir dann an den besprochenen Themen aus der Beratungsvereinbarung arbeiten, wo wir gucken, wie weit muss man in der Biografie zurückgehen, wie sehr stößt man dann auf vielleicht auch psychische Auffälligkeiten, Störungen, Problematiken, die einer Psychotherapie bedürfen.

König: Ist diese Beratung umsonst?

Ortiz-Müller: Die Beratung ist ein kostenloses Angebot für die Nutzer.

König: Ihre Beratungsstelle gehört zum Krisen- und Beratungsdienst KUB e.V., hat ihren Sitz in Berlin-Steglitz. Kann sich auch an Sie wenden, wer nicht Berlin wohnt?

Ortiz-Müller: Leider nein. Vielen Dank für diese Frage, weil wir gleichzeitig jetzt schon immer Hoffnungen zurückweisen oder enttäuschen müssen, wenn Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet uns kontaktieren. Gerade aufgrund des hohen Bedarfs, der hohen Nachfrage, der wir uns jetzt schon ausgesetzt sehen, können wir nur Menschen in Berlin ein Angebot machen, weil das Kernstück unseres Angebots ist ja auch die persönliche Beratung, dass jemand regelmäßig wöchentlich vor Ort kommt. Das Angebot der Online-Beratung halten wir auch für sehr sinnvoll und notwendig. Es ist aber im Moment noch nicht Bestandteil.

König: Über eine Gruppe haben wir jetzt so gut wie gar nicht gesprochen, nämlich die Stalking-Opfer. Um die geht es Ihnen direkt nicht?

Ortiz-Müller: Direkt nicht, aber natürlich war die Intention für die Entwicklung der Beratungsstelle "Stop Stalking" der Opferschutz. Es geht uns ja nicht im eigentlichen Sinn darum, dass uns die Täter leid täten, sondern dass wir sagen, wir sehen nur auch, dass die Täter auch einen Bedarf haben. Sie können auch eine innere Not haben. Aber das Problematische an ihnen ist ja, dass sie die Opfer nachhaltig schädigen. Und da ist dieser Satz so banal wie schlüssig: Aufhören muss der Täter oder die Täterin.

König: Herr Ortiz-Müller, vielen Dank! Ein Gespräch mit dem Leiter der ersten Beratungsstelle für Stalker mit dem Psychologen Wolf Ortiz-Müller. Diese Beratungsstelle hat ihren Sitz in Berlin-Steglitz. Mehr Informationen dazu unter www.stop-stalking-berlin.de. Alles Gute für Ihre Arbeit und vielen Dank!
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