Tabubruch auf Kurdisch

Von Guylaine Tappaz · 14.10.2009
Morgen findet in Antalya eine kleine Revolution statt: Zum ersten Mal laufen auf dem größten Filmfestival der Türkei zwei Filme auf Kurdisch. "Min Dît – Die Kinder von Diyarbakir" erzählt aus der Perspektive zweier Kinder von der Verfolgung der Kurden durch türkische Armeekräfte. Gedreht hat ihn ein deutscher Regisseur mit kurdischer Herkunft: Miraz Bezar.
"Es kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr, dass ich aus Deutschland kommend das als Erster mache."

"Das" - das ist "Min Dît", ein Spielfilm, der in der Türkei gedreht wurde und in dem fast nur kurdisch gesprochen wird. In einem Land, in dem man noch vor Kurzem im Gefängnis landen konnte, weil man kurdisch einfach nur auf der Straße sprach. Doch damit nicht genug: Miraz Bezar bricht in seinem Filmdebüt ein weiteres Tabu.

Eine kurdische Familie kommt nachts von einer Hochzeit zurück. Das Auto wird von vier Männern, türkischen Armeemitgliedern in Zivil, angehalten. Der Vater steigt aus. Einer der Männer erschießt ihn. Dann die Mutter. Auf der Rückbank: zwei Kinder. Der Junge presst die Augen zusammen, das Mädchen hat sie weit aufgerissen. "Min Dît" heißt auf Kurdisch "Ich habe gesehen".

"Mein Film erzählt von den Verschwundenen und Ermordeten, davon hat es laut Menschenrechtsorganisationen 18.000 gegeben. Und noch heute wollen viele Leute in der Türkei nicht wahrhaben, dass dort Dörfer verbrannt, Menschen umgebracht worden sind, noch heute Familien nicht wissen, wo ihre Nächsten begraben sind. All das muss zur Sprache gebracht werden, deswegen macht man ja so einen Film."

Miraz Bezar wirkt zurückhaltend, aber bestimmt. 38, eher schmächtig, die Haare kurz und pechschwarz, der Teint aber hell. Er erzählt konzentriert, bewegt dabei seine Hände.

Der Regisseur ist 1971 in Ankara geboren, in einer kurdischen Familie. Seine Muttersprache ist aber Türkisch. Kurdisch hat er erst mit dem Film richtig gelernt.

"Die ganze Familie war zwar politisch sehr, sehr engagiert, auch kurdisch engagiert, aber in der Familie wurde komischerweise kaum kurdisch gesprochen. Ich sage mal, das ist ein Teil der Assimilationspolitik gewesen."

Miraz Bezar ist – wie viele andere Gastarbeiterkinder – erst mal bei seiner Großmutter aufgewachsen. Seit Anfang der 70er-Jahre schuften die Eltern bereits in Bremerhaven. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters bei einem Autounfall und dem Militärputsch 1980 kommen Miraz und seine ältere Schwester nach. Die Mutter, eine Schneiderin, bringt in Bremen die beiden allein durch. Abends, wenn sie schon schläft, schaut sich Miraz im Spätprogramm anspruchvolle Filme im Fernsehen an. Das hat mich müde Schulstunden gekostet, erinnert er sich heute - und lacht.

"Ich habe in der Abiturzeit mit Theater angefangen – und das war eigentlich sozusagen für mich die Rettung. Der Lebensweg für mich war schon so gegeben, dass man der Familie wegen Wirtschaft studiert. Ich habe auch zwei Semester Wirtschaft studiert, aber in mir brannte halt der Wunsch nach mehr."

Schließlich schafft Miraz Bezar 1994 die Aufnahmeprüfung für die deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin. Es folgen erste preisgekrönte Kurzfilme.

Drei Jahre lang arbeitet der Regisseur dann an einem ersten Spielfilmprojekt. Doch daraus wird nichts. Bezar braucht Abstand und bricht nach Diyarbakir in Südostanatolien auf. Er will Kurdistan, die Heimat seiner Eltern, kennenlernen. Will den Menschen zuhören, sich Zeit nehmen – und daraus einen Film machen.

"Ein Fotoapparat, das ich mitgenommen habe, hat dazu geführt, dass ich drei Tage in U-Haft war, weil ich einfach fotografiert habe auf einer Demo. Da wusste ich gleich (Lachen), wie es dort zur Sache geht, wie schnell man kriminalisiert wird."

Solche Schikane hält Bezar von seinem Filmprojekt nicht ab. Auch nicht die Tatsache, dass er dafür keine Förderung bekommt. Im Gegenteil: Es treibt ihn an. Er schafft es, aus seiner Großfamilie in der Türkei 80.000 Euro zusammenzutrommeln. Doch: Nach zwei Wochen Dreh sind die bereits aufgebraucht. Der Onkel bezahlt die fällige Hotelrechnung für das Team. Und: Die Mutter verkauft ihr Haus in der Türkei.

"Unangenehm ist es mir noch heute. Meine Mutter hatte am Anfang auch nichts investiert, ich wollte sie raushalten. Als dann aber das alles dem Abgrund entgegenlief, musste ich, um den Film abzuschließen, meine Familie richtig anpumpen und sie bitten, diesen Weg mit mir zu gehen."

In Berlin zurück schneidet Bezar seinen Film selbst – das kann er, verdient er doch seinen Lebensunterhalt als Cutter. Den Rohschnitt zeigt er einem guten Freund – dem Regisseur Fatih Akin. Begeistert springt dieser als Produzent ein. Und jetzt? "Min Dît" hat zwar noch keinen deutschen Verleih, läuft aber als erster kurdischsprachiger Film auf dem Filmfestival in Antalya.

Miraz Bezar könnte sich ein bisschen zurücklehnen. Dafür hat er aber keine Zeit. Er steht kurz vor der Premiere seines Theaterdebüts - eines Stücks nach einem Roman von Edgar Hilsenrath "Das Märchen vom letzten Gedanken", über einen anderen Konflikt: den Völkermord an den Armeniern in der Türkei. Wieder so ein Tabubruch.