Szene-Klassiker

Macht Euch mal locker!

Eine Bedienung trägt am 29.10.2013 in Erfurt (Thüringen) in einem Lokal ein Tablett mit Bier.
In der Gaststätte Menz vereinen sich wichtigste historische Ereignisse, größte individuelle Konflikte und dramatischste Gefühle. © picture alliance / dpa - Marc Tirl
Von Helmut Böttiger · 17.07.2014
Es geht um eine Frankfurter Gaststätte, in der sich Herr Jackopp in Fräulein Czernatzke verliebt. In dem Bestsellerdebüt von Eckhard Henscheid aus den 70er-Jahren verknüpfen sich Hoch- und Trivialkultur vortrefflich. Endlich ist dieser Roman wieder einzeln zu bekommen.
Erst allmählich machte dieser Roman seinen Weg. Als er zum ersten Mal 1973 in einem Privatdruck auf Subskriptionsbasis in einer Auflage von 800 Exemplaren erschien, war nichts davon zu ahnen, dass "Die Vollidioten" einer der größten Erfolge der siebziger Jahre werden sollten und heute als Klassiker der bundesdeutschen Literatur gehandelt werden.
Der die damals immer größer werdende Alternativszene strategisch gut abdeckende Postversand Zweitausendeins vertrieb Eckard Henscheids Roman anschließend exklusiv, innerhalb einer ganzen "Trilogie des laufenden Schwachsinns" zusammen mit zwei anderen Romanen, und dadurch wurden die Grundlagen für eine beispiellose Rezeption gelegt: völlig abseits der üblichen Distributionssysteme und Buchhandlungen und zunächst auch der etablierten Medien.
Der Schriftsteller Eckhard Henscheid
Der Schriftsteller Eckhard Henscheid© picture alliance / dpa / Mathias Ernert
Gründungsmanifest der "Neuen Frankfurter Schule"
"Die Vollidioten" sind so etwas wie ein Gründungsmanifest der "Neuen Frankfurter Schule", die die Vordenker der sechziger Jahre um Theodor W. Adorno mit einem neuen kulturellen Code ablösten: Die Fesseln waren gelöst, man wurde lockerer und spielerischer. Die großen politischen Schlachten waren bald nach 1968 schon geschlagen, jetzt schlug die Stunde des spontaneistischen Szenegefühls, der Lebensgier und eines mal verzwickten, mal verzopften, aber allemal einschlägigen Humors.
Bewusst verschnörkelter Schreibstil
Es geht eigentlich nur um ein paar wenige Tage im Frankfurter Nordend, und es passiert programmatisch nichts. Außer, dass sich "Herr Jackopp", ein Schweizer, in der typisch Frankfurter Gaststätte Menz in Fräulein Czernatzke verliebt und der Erzähler, der "Berater und Sekretär von Herrn Jackopp", die daraus resultierenden Geschehnisse aufschreibt. Wie er das tut, ist die phänomenale Grundidee des Romans, und in gewisser Weise eine große Zeitenwende. Henscheid schreibt über alltäglichste und banalste Geschehnisse in einem gestelzten, traditionsgesättigten, verschnörkelten und verschlungenen Erzählstil, mit dem gemeinhin immer etwas Anderes verbunden wird: wichtigste historische Ereignisse, größte individuelle Konflikte, dramatischste Gefühle.
Das war die originäre Leistung Henscheids: Er verband scheinbar mühelos Hochkultur (Sprache, Kanzlei und Stil) und Trivialkultur (Inhalt) und war damit seiner Zeit zwar nicht voraus, aber einer der ersten, die sie erkannten. Allein Figuren wie Herr Kloßen oder Herr Domingo und vor allem die Besatzung der Gaststätte Menz sind unvergesslich plastische Gestalten, in denen tiefste philosophische Wahrheiten und simpelste Alltagsregungen in eins fallen. Wenn dann ein "Spieler" (am Flipper-Automaten) namens "Max Horkheimer" auftaucht, sind endgültig alle Widersprüche aufgehoben.
Triumph: Sich in einem Atemzug mit Goethe denken
Endlich ist dieser Roman einzeln lieferbar. Und Henscheid muss jetzt, in späten Jahren, eingestehen, dass sein Debüt "Die Vollidioten", ähnlich wie bei Goethe und dem "Werther", sein größter literarischer Erfolg war. Es bleibt ihm der Triumph – an dem er insgeheim sehr zehrt – sich dann doch in einem Atemzug mit Goethe denken zu können.

Eckhard Henscheid: Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972
Mit Zeichnungen der Originalschauplätze von F.K. Wächter und mit einem Nachwort von Eckhard Henscheid
Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2014
277 Seiten, 19,95 Euro

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