Szenarien der Flüchtlingskrise

Schaffen wir's?

Hunderttausende Flüchtlinge sind bisher nach Deutschland gekommen.
Hunderttausende Flüchtlinge sind bisher nach Deutschland gekommen. © dpa/picture alliance Felix Kästle
Von Ulrike Köppchen · 25.01.2016
Zur Flüchtlingskrise gibt es viele Spekulationen und Zukunftsszenarien entwickelt, deren Spektrum von rosarot bis tiefschwarz reicht: von blühenden deutsch-syrischen Landschaften bis zum Untergang des Abendlandes. Wir stellen einige vor und fragen, wie realistisch sie sind.
Deutschland im Jahr 2025. Als Finanzminister Wolfgang Schäuble, inzwischen 83, vor die versammelte Hauptstadtpresse tritt, um seine jährliche Haushaltsbilanz zu verkünden, hat er Rekordzahlen zu vermelden. Dem Land geht es gut, die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand. Dank milliardenschwerer Investitionen und einer Bündelung aller Kräfte war es gelungen, Fachkräfte aus den gut zwei Millionen Flüchtlingen zu machen, die Deutschland bis zur Schließung der Grenze Ende 2016 aufgenommen hatte. Zehn Jahre nach Beginn der großen Flüchtlingskrise wird die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel weltweit für ihre Weitsicht gefeiert. "Wo andere europäische Staaten zögerten, hat die deutsche Bundeskanzlerin 2015 mit der Öffnung der Grenze für Flüchtlinge nicht nur Menschlichkeit bewiesen, sondern zugleich große Weitsicht", schreibt etwa die New York Times. "Diesem Weitblick verdankt Deutschland, dass es heute wirtschaftlich weit besser da steht als die meisten Staaten der Welt."
(Weckerklingeln)
Deutschland im Januar 2016: Nach den Silvesterereignissen von Köln hat sich der Ton in der Flüchtlingsdebatte verschärft. Zumindest medial ist an die Stelle der Willkommenskultur jetzt eine "Herausforderungskultur" getreten: Statt des fröhlichen "Wir schaffen das", das suggeriert, man müsse einfach nur die Ärmel hochkrempeln und dann wird das schon, fragen immer mehr Menschen: Schaffen wir's – oder schafft es uns? Wird es gelingen, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, die nach Deutschland kommen? Wird die deutsche Wirtschaft stark genug sein, um Hunderttausende Neuankömmlinge in Arbeit zu bringen? Und werden wir genug Wohnraum schaffen können für die, die bleiben?
Gerd Landsberg: "Die deutschen Kommunen haben die Flüchtlingskrise bisher immer professioneller gemanagt. Sie sind aber eindeutig an ihrer Leistungsgrenze, und wir hören aus den Städten und Gemeinden, wenn der Zustrom in diesem Umfang auch 2016 auch weiter erhalten bleibt, sind die Kommunen mit der Unterbringung, Versorgung und insbesondere der Integration überfordert."
Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Die Kommunen gehörten zu den ersten, die vor einer Überforderung durch die große Zahl an Flüchtlingen warnten, die nach Deutschland kommen. Eigentlich hieß es dort schon vor Beginn der großen Flüchtlingswelle im September: Wir sind am Limit. Allerdings sind seitdem noch mehrere Hunderttausend Menschen gekommen, ohne dass es irgendwo zum Kollaps der öffentlichen Verwaltung gekommen wäre.
Gerd Landsberg: "Ja, es ist schon richtig. Es geht immer was. Aber das sind natürlich keine langfristigen Lösungen. Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, wie viele Turnhallen haben wir noch und wie viele Turnhallen sind belegt, wir setzen zunehmend auf die Errichtung von vorübergehenden Unterkünften durch Holzhäuser, wir haben teilweise Gewerbeimmobilien umfunktioniert, das Baurecht ist ja geändert worden, das geht, theoretisch kann man immer noch jemanden unterbringen, aber eine langfristige Lösung ist das natürlich alles nicht."

Im permanenten Krisenmodus bleiben weder Zeit noch Kapazitäten, um Konzepte zu entwickeln, wie die große Zahl an Zuwanderern langfristig menschenwürdig untergebracht und in die deutsche Gesellschaft integriert werden kann.
Gerd Landsberg: "Es ist unstreitig, dass wir in den nächsten 12 Monaten 300.000 Schüler mehr haben werden, 100.000 Kitakinder, das heißt, wir müssen bauen, wir brauchen Personal, wir brauchen Kita-Plätze, wir brauchen Infrastruktur, die muss selbstverständlich finanziert werden und das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und natürlich sind da auch die Kommunen gefordert, aber vor allem auch Bund und Länder, und deshalb: gemeinsam handeln, und vor allem langfristig handeln! Das ist ein Hauptproblem, es wird im Moment immer so von heute auf morgen gedacht, aber die Aufgabe, die zentrale Aufgabe Integration wird nicht nur 2016 relevant sein, sondern in den nächsten zehn oder 15 Jahren ganz sicher im Mittelpunkt der Politik stehen."
Es braucht vor allem Wohnraum
Sich dieser Integrationsaufgabe nicht zu stellen, ist gefährlich. Vor allem aber braucht es Wohnraum. Wenn Flüchtlinge über Monate, wenn nicht noch länger in völlig überfüllten Behelfsunterkünften wie Turnhallen oder Flugzeughangars leben müssen, kann Integration nur scheitern. Eigentlich gebe es genug freie Wohnungen: Schätzungen zufolge stehen etwa eineinhalb Millionen Wohnungen in Deutschland leer, die meisten davon in Ostdeutschland.
Gerd Landsberg: "Wir haben ja über Jahre beklagt den demografischen Wandel, die entleerten Räume – man muss allerdings wissen, warum sind die Räume entleert? Sie sind nicht entleert, weil die Leute da weggehen, weil sie es nicht schön finden, sondern weil es dort keine Arbeit gibt. Das heißt, wenn ich Flüchtlinge da ansiedele, ist das nicht mit dem Wohnen getan. Ich brauche ein Konzept, dass diese Menschen dort qualifiziert werden und auch Arbeit finden. Wenn wir das geschickt machen, kann das für die Region jedenfalls mittelfristig auch ein Riesenvorteil und eine Chance sein."
Kann man Flüchtlinge einfach so irgendwo ansiedeln?
"Wenn die ganze Familie in Duisburg oder in Hamburg lebt, dann wird es sehr schwierig sein, den einzelnen Flüchtling zum Beispiel in den ländlichen Raum nach Sachsen-Anhalt oder nach Thüringen zu bringen. Wenn man aber zum Beispiel sagt, wir nehmen zwei, drei Familien und bieten denen eine Chance in dem ländlichen Raum – die bekommen dort eine Qualifizierung, die bekommen dort Arbeit, dann werden sie das machen. Die meisten wollen arbeiten, das sind nicht alles faule Leute, die können doch froh sein, wenn sie eine Chance bekommen, gut zu wohnen, zu arbeiten und das Geld für sich und ihre Familie zu verdienen."
Deutschland im Oktober 2018. Die Anzahl der Hartz-IV-Empfänger in Deutschland hat einen neuen Höchststand erreicht. Wie die Bundesagentur für Arbeit am Donnerstag mitteilte, bezogen im Oktober erstmals über acht Millionen Menschen Leistungen nach dem Hartz-IV-Gesetz, das sind 750.000 mehr als vor 12 Monaten. Als Gründe für diesen Anstieg nannte ein Sprecher der Behörde den hohen Anteil an arbeitslosen Flüchtlingen sowie die Entlassungen bei VW infolge der verlorenen Milliardenklagen in den USA.
(Weckerklingeln)
Geradezu euphorisch reagierten große Teile der deutschen Wirtschaft auf die vermehrte Ankunft von Flüchtlingen im September 2015. Von diesen erwartete man nicht weniger als ein neues deutsches Wirtschaftswunder und eine Verjüngungskur für das alternde Deutschland. Den Fachkräftemangel sollten sie kompensieren, später einmal unsere Rente zahlen und nebenbei noch dafür sorgen, dass der ungeliebte Mindestlohn wieder abgeschafft wird.
Zu denen, die optimistisch auf den Zuzug blicken, gehört auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Nach unseren Berechnungen erwirtschaftet ein Flüchtling nach fünf bis sieben Jahren mehr, als er den Staat kostet, sagte er Anfang November in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt". Tatsächlich?
"Was unsere Szenarien zeigen, ist nicht, wann bringt ein Flüchtling Nutzen für den Staat oder zahlt dem Staat mehr als er bekommt, sondern wir haben die gesamtwirtschaftliche Perspektive: Die Geflüchteten werden wahrscheinlich auch nach zehn oder 20 Jahren den Staat noch mehr Geld kosten, als sie an Steuern zahlen, das ist nun mal so, das trifft auch auf uns Deutsche zu, viele der Menschen mit geringen Einkommen bekommen ihr Leben lang mehr Transfers vom Staat als sie wirklich an Einkommenssteuern und anderen Steuern zahlen, deshalb sind diese Menschen kein Verlustgeschäft."
Es gehe nicht darum, die öffentlichen Kosten, die ein Flüchtling verursacht, gegen das aufzuwiegen, was dieser später an Steuern und Sozialbeiträgen einzahlt. Sondern man müsse eine breitere Perspektive einnehmen:
"Wir müssen uns anschauen, was ist ein Mensch, was leistet er an Beitrag, nicht nur dem Staat gegenüber, sondern der gesamten Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft. Und die Kernaussage unserer Studie ist: Wenn ein Geflüchteter in Arbeit kommt, dann trägt er einen wichtigen Beitrag zu Wirtschaft bei, auch dann, wenn er ein geringes Einkommen hat."
Omar Ceesay und Schreiner Karl-Heinz Kübler arbeiten an einem Türrahmen.
Flüchtlinge wie Omar Ceesay sollen nach dem Willen von DIW-Chef Marcel Fratzscher in den Arbeitsmarkt integriert werden. Ceesay arbeitet in einer Schreinerei in Tettnang-Hiltensweiler in Baden-Württemberg.© dpa / Felix Kästle
Gleichwohl interessiert sich die Öffentlichkeit natürlich brennend für die Kosten, die die Flüchtlingskrise verursacht: Entsprechend viele Prognosen kursieren zu diesem Thema: Lange Zeit ging man von etwa 10 Milliarden pro Jahr aus, dann meldete sich das Münchner ifo-Institut mit 21 Milliarden zu Wort. Dessen künftiger Chef Clemens Fuest hingegen rechnet mit 30 Milliarden Euro jährlich. Kaum zu überbieten sein dürfte allerdings die Prognose des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen, der davon ausgeht, dass die Flüchtlinge Deutschland insgesamt fast eine Billion Euro kosten werden – im günstigsten Fall. Doch eigentlich lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verlässlich einschätzen, wie teuer die Flüchtlingskrise Deutschland zu stehen kommt.
Marcel Fratzscher: "Tatsache ist, wir wissen nicht wirklich, was die Kosten sein werden. Weil es hängt von vielen Stellschrauben ab. Zum einen: wie viele Menschen kommen denn wirklich? Zum zweiten: was brauchen sie wirklich an Versorgungsleistungen? Wie schnell kommen diese Menschen in den Arbeitsmarkt? Je länger sie brauchen, um in den Arbeitsmarkt zu kommen, desto mehr wird es auch kosten."
Noch gibt es keine flächendeckenden Angaben über die Qualifikationen, die die Flüchtlinge mitbringen, aber die ersten Einschätzungen sind eher ernüchternd.
Marcel Fratzscher: "Es ist nichts Gottgegebenes, diese Menschen werden in Arbeitslosigkeit und sozialer Hilfe enden müssen, da können wir nichts gegen tun. Es hängt vor allem von uns, von der Gesellschaft, von der Wirtschaft ab, wie wir uns anstellen, wie viele Bemühungen wir unternehmen, diesen Menschen die notwendigen Qualifikationen zu geben und sie in den Arbeitsmarkt zu bringen."
Die Flüchtlinge hätten zu keinem günstigeren Zeitpunkt nach Deutschland kommen können, betont Marcel Fratzscher: Während viele andere Staaten in Europa noch an den Folgen von Euro- und Finanzkrise laborieren, geht es Deutschland prächtig.
"Wir scheinen in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen zu leben, so fühlt es sich manchmal an. Es gibt eine Euphorie, die Einstellung in Deutschland ist extrem positiv, der Arbeitsmarkt in Deutschland läuft hervorragend, wir haben eine rekordniedrige Arbeitslosenquote, Wachstum ist ordentlich, die Löhne, Einkommen der meisten Menschen steigen auch in diesem Jahr noch einmal deutlich."
Jeder zweite Job hängt am Export
Allerdings sei die globale wirtschaftliche Lage derzeit extrem unsicher, warnt Marcel Fratzscher. Angesichts der Rezession in einigen Schwellenländern, der schwächelnden US-Wirtschaft oder den zahlreichen geopolitischen Konflikten kann es mit den goldenen Zeiten auch bald wieder vorbei sein. Schließlich hängt nach wie vor jeder zweite Job in Deutschland direkt oder indirekt an der Exportwirtschaft.
Schaffen wir es trotzdem?
"Wir müssen es schaffen. Wenn dieses Jahr noch mal eine Million zu uns kommt, wird dieses Problem noch mal sehr viel größer, die Schwierigkeit, diese Menschen zu integrieren, wird nochmals enorm viel größer. Für mich ist nicht die Frage, ob wir es schaffen oder nicht, es ist immer die Frage, wie gut wir es schaffen, klar, natürlich werden wir mehr Zeit brauchen, es wird weniger gut gelingen können, wenn weiterhin große Zahlen nach Deutschland kommen."
Deutschland im September 2017. Zwei Wochen vor der Bundestagswahl versprechen die jüngsten Umfragen ein spannendes Rennen: Trotz Verlusten liegen CDU/CSU in der Wählergunst mit etwa 35 Prozent vorn, gefolgt von der SPD, die auf knapp 22 Prozent kommen wird. Unklar ist, wer drittstärkste politische Kraft im Land wird: Derzeit liegen die Grünen noch mit 13 Prozent knapp vor der AfD. Offen bleibt jedoch, wie sich der Parteiausschluss von Rechtsaußen Björn Höcke vor wenigen Wochen auf das Wahlergebnis der AfD auswirken wird. Da es 2016 nicht gelungen war, den Zuzug von Flüchtlingen drastisch zu reduzieren, ist die Flüchtlingskrise nach wie vor das Thema, das die Wähler am meisten bewegt und das Land in zwei Lager spaltet.
(Weckerklingeln)
Nico Siegel: "Natürlich ist das Thema Flüchtlingskrise, Zuwanderung ein Thema, das emotional bewegt, und das merken wir natürlich auch bei unserer Feldarbeit, dass viele Befragte – allerdings in beide Richtungen – das Bedürfnis haben, jetzt nicht nur ihre Parteineigung oder ihre Zufriedenheit mit Politikern zum Ausdruck zu bringen, sondern von sich aus anfangen, über diese Flüchtlingskrise zu sprechen. Im Gegensatz zu vielen Online-Medien, zu den Sozialen Netzwerken haben wir es aber nicht mit einem einseitigen Shitstorm zu tun, das ist ziemlich gespalten, positives wie negatives."
Bekanntlich haben es Meinungsforscher ja manchmal schwer, Menschen zur Teilnahme an Umfragen zu bewegen oder ihnen Meinungen zu Themen zu entlocken, die die Befragten eigentlich nicht interessieren. Nicht, wenn es um Flüchtlinge geht, hat Nico Siegel festgestellt, Geschäftsführer von infratest dimap. Dieses Thema interessiert alle:
"Das wichtigste, was wir Woche für Woche in verschiedenen Umfragen feststellen, ist dass das Thema Flüchtlingskrise, Flüchtlingspolitik das Thema ist, das die Deutschen mit Abstand am stärksten bewegt. Dahinter kommt lange, lange gar nichts und dann kommen eher innenpolitische Themen oder vielleicht noch Griechenland."
Eine Frau steht mit einem Schild "Volksverräterin" am 26.08.2015 vor einer Flüchtlingsunterkunft in Heidenau (Sachsen) und wartet auf Bundeskanzlerin Merkel. Die Kanzlerin besucht die Flüchtlingsunterkunft.
Fremdenfeindliche Anwohner in Heidenau warten auf Bundeskanzlerin Merkel, die sie als "Volksverräterin" bezeichnen. Für Sachsens Politiker ist diese Beschimpfung fast schon traurige Normalität.© dpa / picture alliance / Jan Woitas
Allerdings hat sich die Haltung der Menschen zur Flüchtlingskrise im Lauf der letzten Monate verschoben: Hatte anfangs die von der Bundeskanzlerin propagierte Willkommenskultur starke Zustimmung erfahren, rückten im Lauf des Herbstes stärker die problematischen Aspekte des Flüchtlingszuzugs in den Vordergrund:
"Letztendlich beobachten wir einen Trend hin zu einer etwas skeptischeren Bewertung. Im November hatten wir noch gefragt, glauben Sie, dass wir das wirklich schaffen mit dieser Integration und Zuwanderung? Und da war eine ganz knappe Mehrheit , das waren 49 zu 48 in unserer Umfrage, haben gesagt, ja, ich glaube, wir schaffen das. Jetzt 51 zu 44."
Anderen Umfragen zufolge liegt die Zahl derer, die glauben, wir schaffen das nicht, sogar bei 60 Prozent. Für viele Menschen ist jedoch weniger die Anzahl der Flüchtlinge das große Problem, sondern dass sie das Gefühl haben, der Staat und die Regierung hätten in der Flüchtlingskrise die Kontrolle verloren, meint auch Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund:
"Das größte Problem sehe ich darin, dass das Vertrauen der Menschen in die staatlichen Strukturen – ich würde sagen, es ist nicht weg, aber es wankt. Die Menschen müssen sich schon darauf verlassen können, dass der Staat sie einerseits schützt und andererseits dieses ganze Problem in den Griff bekommt und nicht selber sprachlos davor steht, dass Hunderttausende kommen, die gar nicht registriert werden, falsch registriert werden, mehrfach registriert werden."
Inwieweit sich dieser Vertrauensverlust auch im Wahlverhalten der Bürger niederschlägt, lässt sich noch nicht einschätzen. Aber er dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass die AfD in den Umfragen bundesweit bei zehn Prozent liegt. Auch werden der Partei derzeit gute Chancen eingeräumt, am 13. März sowohl in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz als auch Sachsen-Anhalt in den Landtag einzuziehen, in Sachsen-Anhalt sogar mit einem deutlich zweistelligen Ergebnis.
Nico Siegel: "Letztendlich, wenn sich die Partei durch innerparteiliche Konflikte auch ein Stück weit selber lähmt, dann kann das noch einmal deutlich zurückgehen, aber hochwahrscheinlich ist das, wenn alles so weiterläuft wie in den letzten Wochen, nicht, dass das passieren wird."
Spannend wird auch die Frage, wie sich diejenigen CDU-Anhänger verhalten, die die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ablehnen, aber nicht die AfD wählen wollen. Denn seit September 2015 haben sich die Umfragewerte der Union zwar deutlich verschlechtert, aber der große Einbruch ist ausgeblieben. Nico Siegel:
"Die Union ist mit Sicherheit die Partei, bei der die innerparteilichen Spannungen derzeit am größten sind. Aber da sie natürlich versucht, diese unterschiedlichen Flügel auch zu bedienen, zuletzt etwa bei ihrem Parteitag in Karlsruhe vor Weihnachten, gelingt es ihr auch diejenigen, die gegenüber der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin eine kritische Position einnehmen, trotzdem noch als potenzielle Wähler zu behalten."
Es rumort in der Großen Koalition
Viel Zeit bleibt der Kanzlerin nicht mehr. Es rumort in allen drei an der Großen Koalition beteiligten Parteien. In der CSU sowieso: Da droht der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer gerade mal wieder mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht, weil die Bundesregierung es nicht vermöge, die Grenzen zu schützen. Und Seehofers Vorgänger Edmund Stoiber hat der Regierung ein Ultimatum gestellt, dass die Flüchtlingszahlen bis spätestens Ende März gesenkt werden müssten. Ansonsten ließen sich ernsthafte Auseinandersetzungen nicht länger vermeiden.
Seit kurzem klingen auch führende SPD-Politiker so, als hätte sich ihre Partei stillschweigend aus der Regierungskoalition verabschiedet. Sigmar Gabriel zum Beispiel ging zur Kanzlerin so hart auf Oppositionskurs, dass der Berliner "Tagesspiegel" schon titelte: "Schafft er sie – oder sie ihn?"
Griechenland, 15. Mai 2016. EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos weiht auf der Ägäisinsel Leros den letzten der 11 von der EU betriebenen Hotspots ein. Fortan sollen alle Flüchtlinge, die nach Europa kommen, sich in diesen Aufnahmezentren registrieren lassen und von dort auf verschiedene EU-Staaten weiterverteilt werden. Die ersten Erfahrungen mit diesen Aufnahmezentren haben allerdings die Hoffnungen gedämpft, dass sich auf diese Weise die Flüchtlingskrise lösen lassen wird. So reicht die Kapazität der Hotspots nicht aus, um den weiterhin stark steigenden Flüchtlingszahlen Herr zu werden. Außerdem verweigern viele Flüchtlinge die Registrierung, da sie sich nicht auf ein beliebiges EU-Land verteilen lassen wollen, sondern nur Österreich, Deutschland, die Niederlande und Schweden als Aufnahmeländer akzeptieren.
(Weckerklingeln)
Stefan Teloeken: "Es ist zurückgegangen, aber es wird dann ja immer gefragt, warum ist es zurückgegangen, ich glaube, man kann da jetzt keine eindeutigen Antworten geben, ich würde aber doch sagen, dass es vornehmlich das Wetter ist. Man sieht das immer sehr stark an den Zahlen, die da auf den griechischen Inseln gezählt werden, das hängt doch sehr stark an den Wetterbedingungen, wobei die Zahlen dann eben auch noch höher sind als in den Winter in den letzten Jahren."
Stefan Teloeken, Sprecher des UNHCR in Berlin. Während im gesamten Januar 2015 gerade einmal 1700 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa kamen, waren es nach Angaben der Vereinten Nationen allein in den ersten 16 Januartagen dieses Jahres bereits 29.000. Das sind Zahlen, auf die die Bundesregierung nicht gern blicken dürfte. Denn bei der Frage "Schaffen wir's?" geht es längst nicht mehr um die Integrationen derjenigen Flüchtlinge, die bereits hier sind, sondern genauso darum: Schaffen wir es 2016, die Zuwandererzahlen zu reduzieren?
Tanja Börzel: "Im letzten Jahr sind ja allein in Deutschland mehr als eine Million aufgeschlagen, und es ist allen klar, dass wir diese Menge von Flüchtlingen über einen längeren Zeitraum nicht aufnehmen können."
... sagt die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel, Professorin für Europäische Integration an der Freien Universität Berlin.
Nur sieht es eben im Moment nicht danach aus, als würden es 2016 weniger werden. Weltweit seien derzeit etwa 20 Millionen Menschen außerhalb ihrer Landesgrenzen auf der Flucht, sagt UNHCR-Sprecher Stefan Telöken:
"Das hängt eben zum einen damit zusammen, dass es vermehrt Konflikte auf der Welt gibt, allen voran der Doppelkonflikt in Syrien und Irak, gerade was die Zahl der betroffenen Menschen angeht als der schlimmste humanitäre Konflikt derzeit. Es gibt darüber hinaus viele weitere Flüchtlingssituationen, die über Jahrzehnte andauern."
Hinzu kommt, dass auch mehr und mehr Menschen aus Nordafrika, aus Marokko, Algerien oder Tunesien sich auf den Weg nach Europa machen:
"Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland aus diesen nordafrikanischen Ländern ist jetzt höher, es gibt eben einen gewissen Anteil, der versucht, über die Balkanroute nach Europa und damit auch nach Deutschland zu kommen. Wobei es wirklich die Frage ist, ob es sich um Flüchtlinge handelt oder ob es eine Migrationsbewegung ist. Die Migrationsbewegung aus Afrika, zum Beispiel aus westafrikanischen Großstädten ist ja auch nichts Neues, aber die Wege sind ja versperrt, sie haben einen Teil der Flüchtlingsdebatte beherrscht in den letzten Jahren, ich denke eher zu Unrecht."
Migranten überqueren am 21.10.2015 den Fluss Mur nahe Spielberg/Österreich, nachdem rund 1.000 Flüchtlinge die Grenze an der Sammelstelle an der slowenisch-österreichischen Grenze durchbrochen hatten.
Flüchtlinge überqueren am 21.10.2015 den österreichischen Fluss Mur nahe der österreichisch-slowenischen Grenze bei Spielberg in Österreich.© picture alliance / dpa / EPA/ERWIN SCHERIAU
Die große Zahl derer, die innerhalb kurzer Zeit nach Europa gekommen sind und weiterhin kommen werden, setzt die EU unter Druck. Aber es gibt einen Plan für eine europäische Lösung. Nur funktioniert er nicht. Tanja Börzel:
"Die Mitglieder haben sich auf europäischer Ebene im Herbst darauf verständigt, dass jedes Land ein gewisses Kontingent an Flüchtlingen aufzunehmen hat. Das Problem ist, dass es nicht umgesetzt wurde. Von den 160.000 Flüchtlingen, die insgesamt umverteilt werden sollten, sind genau einmal 273 umverteilt."
Die Hotspots kommen nicht in Gang
Auch die sogenannten Hotspots kommen nicht recht in Gang, die Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen, von denen aus die Flüchtlinge auf die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden oder im Fall einer Ablehnung in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden sollen. Bisher sind erst zwei in Italien und eines in Griechenland in Betrieb.
Tanja Börzel: "Und dann gilt dann auch für das letzte Maßnahmenbündel, nämlich dass man versucht, den Zustrom zu reduzieren, indem die Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern bleiben in den Nachbarländern Syriens. Dafür hat die Europäische Union zehn Milliarden bereitgestellt. Davon ist bisher so gut wie kein Geld geflossen, sehr wenig, nur einige Mitgliedsstaaten haben in diese Fonds für Syrien, dann für die Türkei – da wurden drei Milliarden bereitgestellt – bezahlt, und auch was eine Stärkung der Sicherung der Außengrenzen durch eine Verstärkung von Frontex, der Grenzschutzagentur angeht, da haben die Mitgliedsstaaten gesagt, sie wollen 1600 zusätzliche Grenzschützer bereitstellen. Davon sind gerade mal 170 in Griechenland und Italien angekommen."
Grund dafür, dass diese Pläne bisher nicht umgesetzt werden konnten, ist die ablehnende Haltung vor allem der sogenannten Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn gegenüber einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik. Aber es sind nicht nur diese Länder.
Tanja Börzel: "Der Widerstand ist am stärksten aus dieser Ecke, aber das ermöglicht natürlich auch anderen Ländern in der EU 15, sich hinter dem Rücken dieser Mitgliedsstaaten zu verstecken. Also, die Niederländer, auch die Franzosen, die Dänen – es gibt eine ganze Reihe von Nord- und westeuropäischen Ländern, die sich genauso weigern, verweigern, aber das eben nicht so öffentlich sichtbar tun."
Schuld daran, dass eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise nicht in Gang kommt, haben je nach Lesart entweder die bockigen Osteuropäer, die die ethnische Homogenität ihrer Nationalstaaten bewahren wollen oder es sowieso an europäischem Geist fehlen lassen, es sei denn, es gilt, die Hand aufzuhalten. Oder in den Augen einiger auch die deutsche Bundeskanzlerin, die mit ihrer eigenmächtigen Entscheidung Anfang September, die Grenzen für einige tausend in Ungarn festsitzende syrische Flüchtlinge zu öffnen, Deutschland in Europa isoliert habe. So sehen es einige Kritiker, unter anderem FDP-Chef Christian Lindner kürzlich im Deutschlandfunk:
"Frau Merkel unternimmt den Versuch, unsere eigene deutsche, ethische Abwägung für alle in Europa für verbindlich zu erklären. Diese grenzenlose Aufnahmebereitschaft wird allerdings nicht geteilt, noch nicht einmal mehr vom sozialdemokratisch regierten und geprägten Schweden, von Dänemark nicht und auch von so gut wie allen anderen europäischen Partnern nicht. Und das ist für mich ein klares Indiz, dass Deutschland auf diesem Kontinent mit seinen Entscheidungen isoliert ist. Und für mich gilt die alte Tradition von Hans-Dietrich Genscher weiter: Wir wollen kein deutsches Europa, sondern wir wollen ein europäisches Deutschland sein. Diesem Anspruch genügen wir gegenwärtig nicht hinreichend."
Von einer grenzenlosen Aufnahmebereitschaft seitens der Bundesregierung war allerdings nie die Rede, sondern die Öffnung der Grenzen sollte eigentlich eine Ausnahme bleiben, um die Flüchtlinge vom Bahnhof in Budapest aus ihrer Notlage zu befreien. Doch diese Botschaft kam irgendwie nicht an. Sei es, weil sie schlecht kommuniziert wurde. Sei es, weil es von Brüssel bis Pakistan einfach zu verlockend war, sie misszuverstehen als Einladung an alle, nach Deutschland zu kommen bzw. das Ganze dann als deutsches Problem zu definieren. Vielleicht hat sich die Bundesregierung auch schlicht verhoben bei dem Versuch, die Führungsrolle Deutschlands mit neuem Leben zu erfüllen.
Angela Merkel beim CDU-Parteitag: "Wenn wir vorangehen, wird eine europäische Lösung wahrscheinlicher."

Tanja Börzel: "Sie können natürlich ein Beispiel geben und dadurch moralischen Druck erzeugen, ich glaube, das war auch ein Stück weit die Überlegung zu sagen: wir können mehr und wir tun auch mehr, und wenn jetzt aber keine Reaktion kommt, dann ist es genau das. Die anderen fahren im Moment Trittbrett. Die ruhen sich auf der Tatsache aus, dass wir leisten und sie müssen dann ja nicht, und das wird sich auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen, und dann hat aber die Bundesregierung eine ganz andere Legitimation zu sagen: So, es tut uns furchtbar leid, aber ihr lasst uns ja keine andere Wahl, wir müssen jetzt auch anfangen, den Zustrom zu begrenzen, und das heißt auch, ihr müsst das jetzt ausbaden, denn die Flüchtlinge werden irgendwohin ausweichen, die werden nicht nach Syrien zurückgehen!"
Die CDU-Bundesvorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel hält am 14.12.2015 in Karlsruhe beim CDU-Bundesparteitag einen Plüschwolf in der Hand.
Die CDU-Bundesvorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel hält am 14.12.2015 in Karlsruhe beim CDU-Bundesparteitag einen Plüschwolf in der Hand.© dpa / picture alliance / Michael Kappeler
Ankara im Mai 2016: Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker reisen in die türkische Hauptstadt, um mit Staatspräsident Erdogan die letzten Details des Rücknahme-Abkommens zwischen der EU und der Türkei zu verhandeln. Unterdessen löst die türkische Polizei eine parallel stattfindende Kundgebung von Regierungsgegnern gewaltsam auf. Dabei werden zahlreiche Demonstranten verletzt, einige davon schwer.
(Weckerklingeln)
Tanja Börzel: "Ich kann der Bundesregierung letztendlich nur raten, lieber früher als später wirklich mal Butter bei die Fische zu tun und zu sagen: Wenn jetzt nicht was passiert ganz konkret, hat das Folgen. Und zwar so wenig wie möglich auf dem Rücken der Flüchtlinge, sondern so lange die Flüchtlingsströme noch nicht so stark sind, die Zeit vielleicht zu nutzen, um die Kosten für die Länder zu erhöhen, die sich momentan kategorisch verweigern."
Grenzkontrollen kosten Zeit
Zum Beispiel durch Kürzungen bei EU-Strukturhilfefonds oder ein sogenanntes Mini-Schengen, bei dem Reisefreiheit nur noch innerhalb eines Kerneuropas bestünde, dessen Außengrenzen gesichert werden müssten.
Tanja Börzel: "Grenzkontrollen kosten Zeit. Wenn Sie mal in Richtung polnische Grenze fahren und sehen, wie viele Lastwagen da in beide Richtungen ... Wenn die Deutschen Grenzkontrollen mit Polen wieder systematisch einführen würden, was glauben Sie, was das wirtschaftlich für Kosten verursachen würde? Die mittelosteuropäischen Länder profitieren von Schengen, was die Wirtschaft angeht, weitaus mehr als umgekehrt, und das ist das Drohpotenzial, auf das die Bundeskanzlerin, aber eben auch die anderen Länder hoffen."
Leidtragende einer solchen Strategie wären die Flüchtlinge. Man solle nicht glauben, dass diese sich von Obergrenzen oder Grenzkontrollen aufhalten ließen, warnt die Berliner Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel:
"Das schlimmste Szenario ist für mich noch nicht mal, wenn Schengen ausgesetzt würde, sondern das schlimmste Szenario bzw. die Folge dessen wäre, dass es Hunderttausende Flüchtlinge gäbe, die stranden irgendwo in Westbalkanländern, wo sie nicht nur nicht willkommen sind, sondern wo die Politik einiger Länder tatsächlich ist, sie so schlecht zu behandeln, dass sie möglichst schnell wieder verschwinden oder erst gar nicht kommen. Das ist die Strategie einiger Länder im Westbalkan gewesen, wo die Flüchtlinge in der Zeit, wo sie durchgereist sind, nicht einmal Essen und Wasser bekommen haben. Aber das ist ein relativ realistisches Szenario, wenn Länder wie Österreich und Deutschland kategorisch sagen, wir nehmen keine Flüchtlinge mehr auf, wir schicken sie zurück."
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