Systemkonkurrenz

Russische Literatur im Kalten Krieg

Der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko bei einem Vortragsabend 1963 in München
Der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko bei einem Vortragsabend 1963 in München © dpa / picture alliance / Gerhard Rauchwetter
Von Eveline Passet · 03.10.2014
Die Rezeption der russischen Literatur im deutschsprachigen Raum war von Anfang an mehr durch politische als durch ästhetische Erwägungen geprägt. Mit der Teilung Europas verschärfte sich dies noch einmal. Völlig unbekannt blieb, wie die Russisch-Übersetzer den "Eisernen Vorhang" durchlöcherten.
(Meißelgeräusch der Mauerspechte)
Mauerspechte hießen jene Menschen, die nach dem 9. November 1989 mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer klopften, die Deutschland Ost und Deutschland West 28 Jahre lang mit symbolischer Sichtbarkeit getrennt hatte, Stücke, westseitig bunt, ostseitig betongrau, die gewinnbringend zu verkaufen waren, bestenfalls faustgroß, mitunter so klein, dass sie sich einfassen und als Ring tragen ließen; doch mit der Zeit entstanden Löcher in den Stahlbetonplatten, klaffende Lücken, ovalförmig zumeist, durch die man von West nach Ost, von Ost nach West schlüpfte – nach wie vor ein ritueller Übergang wie noch kurz zuvor an den Grenzübergängen, Friedrichstraße, Helmstedt, Hof ... Dann eines Tages kamen beauftragte Firmen mit professionellem Gerät und beseitigten Betonplatte um Betonplatte.
Als die Mauerspechte ihre Arbeit taten, hatten längst andere Menschen Löcher in die Mauer geklopft, ja sie übersprungen, darunter auch solche – in West wie Ost –, die scheinbar mit dem Rücken zur Mauer standen, die aber doch eines verband: ihr Interesse an der russischen und der sowjetischen Literatur. Lektoren, Übersetzer, Publizisten, Herausgeber, Hochschulslawisten blickten gemeinsam nach Moskau und Leningrad, in die russische Provinz und in den großen Raum der multiethnischen UdSSR. Sie hatten zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Motive – doch die geistigen Grenzverläufe, die es gab, entsprachen dabei nicht immer, nicht unbedingt jener Grenzziehung, die die Mauer vorzugeben schien.
Kapitel 1: Die Aufteilung der Welt in zwei Blöcke
1945 wird Deutschland – und gesondert Berlin – in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die drei westlichen und die sowjetische. In der SBZ erscheinen bereits 1946 zahlreiche Erst- und Neuübertragungen aus der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wobei, so Friedrich Hübner, der 2012 eine kommentierte Bibliografie der Übersetzungen von russischen Werken des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat, nur Literatur vermittelt werden darf, die diesen Grundprinzipien folgt:
"Erschließung der sowjetischen Kultur und der Weltkultur überhaupt"
... der fortschrittlichen, versteht sich, genauer: jener, die unter Stalin als fortschrittlich gilt, das heißt: stilistisch den Forderungen des Sozialistischen Realismus und inhaltlich dem ...
"schonungslosen Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Militarismus"
... verpflichtet ist oder sich diesen Prinzipien zumindest zuordnen lässt.
Anders gesagt: Ab 1945 beginnt im Osten Deutschlands eine, in Hübners Worten, „gelenkte und zum Teil durchaus auch wohlwollend aufgenommene Sowjetisierung der DDR-Kultur", während sich in Westdeutschland genau das Gegenteil entwickelt ...
Friedrich Hübner: "... nicht nur durch den Kalten Krieg seit 1946/47, sondern auch dadurch, dass im Grunde die negativen Erlebnisse, die man persönlich eventuell erfahren hat oder von denen man weiß – zum Teil im Krieg, vor allem auch im Nachkriegsdeutschland –, dass die einfach im Vordergrund stehen. Und dass alles Russische und alles Sowjetische damit etwas Uninteressantes und Indiskutables gewinnt. Das ist wohl doch bis 1949 klar. Es gibt kaum sowjetische Texte, die überhaupt in den westlichen Zonen herauskommen. Und das setzt sich eigentlich fort bis 57."
Einer, dem in der SBZ die Begegnung mit Russischem – Sowjetischem – hätte in die Glieder fahren können, war der spätere Übersetzer, Herausgeber und Kommentator russischer Literatur Fritz Mierau. Er wohnte im sächsischen Döbeln mit Blick auf märchenhafte Brikettberge, bewacht von nie mehr als drei Soldaten der Roten Armee. Also ging man auf Kohlenklau, auch er, der Junge von elf, zwölf Jahren. Einmal wird er erwischt und mit in den Wachwaggon genommen:
"In dem Waggon war es warm und dunkel. Ich bekam einen Schemel und saß mit den Soldaten um einen Kanonenofen, der heizte und Licht gab. Zum Flackern des Feuers, das beim Nachlegen die kleine Runde beleuchtete, hörte ich zum ersten Mal Russen reden."
(Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert)
Fritz Mierau: "Da hatte ich dann mein Höhlenerlebnis, indem ich also in einem Waggon, wo nur Russen saßen und ein Feuerchen im Kanonenofen brannte und man natürlich kein Wort verstand, aber den Klang vernahm. Möglicherweise ist es sogar über den Klang des Russischen gegangen, dass mich das angezogen hat."
Rast oder Zuflucht oder Gefangenschaft in der ungewissen Häuslichkeit – einer Höhle.
(Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert)
Kapitel 2: Stalins Tod, der XX. Parteitag der KPdSU und das Tauwetter
Im Westen dagegen konnte man lange Zeit nur schwerlich einem Russen und lebendiger, alltäglicher russischer Sprache begegnen. Russisch –
Annelore Nitschke: "Das war damals noch wie Latein. Eine tote Sprache."
Selbst dann, wenn man wie die Lehramtsstudentin und künftige Übersetzerin Annelore Nitschke, in einem russischen Chor sang.
Karla Hielscher: "Im Grunde gings im Wesentlichen um Linguistik, um die historischen Grammatiken. Wir haben semesterweise Altkirchenslawisch-, Altbulgarisch-, Altrussisch-, Altserbischkurse gehabt. Und mit Sowjetliteratur, überhaupt mit Literatur des 20. Jahrhunderts hatten wir im Studium überhaupt noch nichts zu tun."
Annelore Nitschke: "Im Studium waren es natürlich die großen Klassiker, Tolstoj, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow ..."
... für die sich Annelore Nitschke im übrigen schon als junges Mädchen begeistert hatte, genau wie die in der DDR aufgewachsene Publizistin Karla Hielscher, die 1958 als junge Frau aus der DDR floh, wo sie Russisch bereits in der Schule gelernt hatte.
Dieses westliche Desinteresse an jener zeitgenössischen sozrealistischen Literatur, die eine erste DDR-Generation geprägt hat, wich in den 1960er-Jahren bei einer jüngeren Generation – zu der Hielscher, Nitschke und Hübner gehören – der Neugier. Auslöser waren die Entwicklungen in der UdSSR nach Stalins Tod. Nicht nur kehrten die Überlebenden aus den Lagern zurück und setzte nach Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 das politische Tauwetter ein, auch in der Literatur hatte der Eisgang begonnen. Neue Themen und neue Schreibweisen setzten sich durch und neue Stimmen.
Eine dieser Stimmen war der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko. 1962 trat er in Tübingen auf.
Friedrich Hübner: "Das war ja nun ein wirklich aufregendes Ereignis. Und die ganze Universität, also ungefähr 1000 Leute, waren zugegen, als er da seine Gedichte vortrug, wie Majakowski seine Gedichte vorgetragen hat."
Eine Rezitationsweise, von der die Zuhörer bis dahin keinerlei Vorstellung gehabt hatten. Dass kurz zuvor mit der Mauer ein so sichtbares wie symbolisches Monument der deutschen und der Ost-West-Teilung Europas, ja der Welt errichtet worden war, schmälerte die frische Neugier auf alles Sowjetische nicht.
Friedrich Hübner: "Die Begeisterung für Jewtuschenko 1962, ein dreiviertel Jahr nach dem Mauerbau, die war ungebrochen und ungeheuer. Was auch sonst an Anthologien damals herauskam mit Erzählungen, die alle im Titel hatten „moderne" oder „neue" russische Literatur und die tatsächlich meistens Tauwetter-Texte enthielten aus Sammelbänden, die in der Sowjetunion erschienen waren und in der DDR eben nicht erscheinen konnten, das fanden wir schon sehr faszinierend und damit hat man sich beschäftigt, auch mit den jungen Lyrikern außer Jewtuschenko."
Ein Werk, das 1962 in der Sowjetunion kurzzeitig veröffentlicht werden konnte und dann nie wieder und auch nie in der DDR, war Alexander Solschenizyns kurzer Roman Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch, in dem der Autor seine eigenen Lagererfahrungen verarbeitet, in der Tradition des realistischen Erzählens und in einer kargen, nüchternen, von Lagerjargon durchzogenen Sprache, eine Neuheit nicht nur für Leser des Sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung, sondern ebenso für alle, deren Russischkenntnisse allein an der Schriftkultur des 19. Jahrhunderts geschult worden war.
"Es gab im Lager drei solcher Künstler. Sie malten kostenlos Bilder für die großen Tiere und pinselten abwechselnd beim Zählappell Nummern. Heute war der alte Mann mit dem kleinen grauen Bart dran. Wenn er einem die Nummer auf die Mütze malte, war es, als wenn einem ein Priester die Stirn salbte."
(Alexander Solschenizyn, Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch)
In der Bundesrepublik kam der Iwan Denissowitsch 1963 gleich in zwei Versionen heraus: Die eine ist eine zweihändige Bearbeitung der ebenfalls zweihändig angefertigten amerikanischen Übersetzung, die andere, aus dem Russischen, wurde ebenfalls von mehreren Übersetzern bewerkstelligt. Keine guten Voraussetzungen, um diesen Text nicht nur inhaltlich zu lesen, sondern auch in seiner Sprachgestalt wahrzunehmen.
Ganz abgesehen davon, dass die Ost-West-Beziehungen einer ästhetischen Rezeption von Literatur aus Osteuropa wenig förderlich waren: Bereits in den 1950er Jahren war eine Strategie verschiedener westdeutscher Organisationen – etwa der sehr ausgeprägt antikommunistischen sogenannten „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", aber auch von politischen Parteien –, die DDR-Bürger mit unerlaubten Schriften zu versorgen, indem man diese per Wetterballon Richtung Osten schickte, die dafür –
(Klaus Körner, Ein "Phänomen" wird entlarvt)
"...mit einem Wecker ausgerüstet waren, der anstelle des großen Zeigers ein kleines Messer hatte, das einen Faden durchtrennte, wenn das voraussichtliche Zielgebiet erreicht war und die Fracht „abregnen" sollte. [...] Um das Aufsammeln der Schriften auf freiem Feld zu „legalisieren", wurden die eingeschweißten Bändchen mit Probepackungen von Westzigaretten versehen, wie sie auch von Flugunternehmen verteilt wurden."
Obwohl nach dem Mauerbau, so Klaus Körner weiter in seinem Beitrag zu dem von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag herausgegebenen Sammelband "Heimliche Leser in der DDR", die Einsicht wuchs ...
"... dass mitten in Europa keine Entscheidungsschlachten zu erwarten waren, sondern der Status quo der Teilung gefestigt wurde"
... übernimmt die "Psychologische Kampfführung", eine 1958 gegründete Propagandaorganisation der Bundeswehr, die Technik noch 1962 und versendet via Wetterballon unter auch anderem Solschenizyns Iwan Denissowitsch. Und ebenso Jewgenija Ginsburgs Marschroute eines Lebens, das eine damalige heimliche Leserin – Helga Rost, später Lektorin für romanische Literatur im Leipziger Reclam-Verlag – so beschreibt:
"Es war ein ungewöhnliches Buch, schon vom Äußeren her. Kein Umschlag, kein Cover, sondern in eine Art Wachstuch gebunden und ohne Titelblatt im Innern. [...] Inzwischen konnte ich erfahren, dass die Mutter einer Freundin das Buch beim Pilzsuchen gefunden und dann weitergegeben hat. [...] Für uns war es ein echtes Aufklärungsbuch."
(Helga Rost u.a., Nach dem Prinzip der ‚schiefen Schlachtordnung' aufgestellt)
Denselben Text sollte Franziska Thun von ihrer Mutter in die Hand gedrückt bekommen, zusammen mit Pasternaks Doktor Schiwago und Solschenizyns Krebsstation – alle in westdeutscher Übersetzung –, bevor sie 1968 zu einem Vollstudium der russischen Sprache und Literatur nach Moskau ging, wo sie als Tochter eines ostdeutschen Botschaftsrats bereits ihre Grundschuljahre als einziges ausländisches Kind in einer russischen Klasse absolviert hatte.
Franziska Thun: "Die habe ich also mit meinen 17 Jahren gelesen und kann mich sehr genau daran erinnern, dass mich literarisch und auch in der Rigorosität der Fragestellung, also weltanschaulich, der Pasternak wirklich am meisten erschüttert hat von den drei Büchern, ich aber paradoxerweise für mich die Konsequenz dieser Erschütterung später wieder ausgeblendet habe. Das ist irgendwie wieder eingekapselt worden."
Später als Wissenschaftlerin, gehörte sie nicht zu denen, die Kontakte zu Dissidentenkreisen hatten oder permanent nach verbotener Literatur suchten, aber allmählich wurde ihr bewußt –
Franziska Thun: "... dass ich im Innern schon unterwegs war und dass natürlich diese frühen Lektüren eine Rolle gespielt haben in dem Augenblick, wo die Perestrojka-Zeit einsetzte. Das war für mich wie eine Befreiung. Das war eine Schlüsselzeit für mich."
Heute ist sie die Herausgeberin der Werke von Warlam Schalamow.
Katharina Raabe: "Wir haben solche Bücher damals ..."
– die Rede ist schon von den 1970er Jahren –
"... auch lesen wollen, weil sie sich ganz gut in dieses Bild des 19. Jahrhunderts von der russischen Literatur einfügten, dass dort nämlich Menschen leben, die auf eine unvorstellbare Weise leidensfähig sind. Und das fand man wieder bei Nadeschda Mandelstam im Jahrhundert der Wölfe und im Archipel Gulag."
Außerdem, sagt Katharina Raabe, Lektorin für osteuropäische Literatur im Suhrkamp Verlag, gab es nach 68 in Westdeutschland eine "gewisse Erschlaffung der literarischen Potenz".
"Die Texte, die damals geschrieben wurden, gingen sehr stark von den Erfahrungen des Einzelnen aus. Es war eine Literatur, die sich sehr stark auf sich selbst zurückwendete und von heute her gesehen erstaunlich provinziell war. Und diese großen schweren Themen des 20. Jahrhunderts kamen eigentlich in dieser Literatur nicht vor."
Wie in Bonn so sahen auch in Ostberlin die Kalten Krieger Literatur von Anfang an als ein Feld, auf dem Terrain gewonnen werden musste in der „Schlacht um das Bewusstsein der Menschen". Ein "großes Kampfthema" in den 1950er-Jahren war nach Fritz Mierau die Ostforschung des Westens. 1957 legt die Akademie der Wissenschaften der DDR einen Entgegnungsband auf mit dem Titel Wissenschaft am Scheideweg, Fritz Mierau – der, staatsgrenzliche wie politisch-mentale Demarkationslinien ignorierend, zu dieser Zeit eine Zusammenarbeit mit westlichen Verlagen ins Auge fasst – soll einen Beitrag zur Edition und Rezeption sowjetischer Lyrik im Westen schreiben.
Fritz Mierau: "Ich habe natürlich damals versucht, mich möglichst wenig im beschimpfenden Ton des Kalten Krieges auszudrücken, aber ich kann eigentlich nicht sagen, dass ich damals wider mein Empfinden geschrieben habe. Ich war durchaus verärgert über verschiedene Äußerungen, die über sowjetische Literatur gemacht wurden, und heutzutage würde man das nicht mehr so scharf formulieren. Obwohl: Ärgerlich sind die weiterhin, obwohl natürlich zum Teil berechtigt. Aber man sah eben die Absicht und man durchschaute das ganze Geflecht der Argumentation, die dann aus dem literarischen Streit ja doch den politischen Gegensatz herausarbeitete."
Der Gewinn für Mierau aus diesem kaltkriegerischen Akademie-Projekt: der Kontakt zu Johannes von Günther, einem der bedeutenden russlanddeutschen Übersetzer, die sich um 1900 daran gemacht hatten, russische Literatur in den deutschsprachigen Raum zu vermitteln, aber vor allen Dingen die Begegnung mit den Nachdichtungen Paul Celans – anders gesagt: mit einer Literatur der frühen Sowjetzeit, die er bis dahin nicht kannte, etwa mit Ossip Mandelstam oder Welemir Chlebnikow. Im heutigen Sprachgebrauch würde man das wohl "Kollateralschaden" nennen: Noch im Hochziehen von Mauern – ja durch ihr Hochziehen – werden die Mauern durchlöchert.
Kapitel 3: 1968 und die Ostpolitik
Während im August der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, standen im Westen die Mai-Studentenrevolten am Anfang eines kulturellen Linksrucks. Willy Brandts Ostpolitik trug ab 1969 zu einer weiteren Öffnung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber Osteuropa bei.
Karla Hielscher: "Ich war damals natürlich auch in der Studentenbewegung engagiert, und da haben wir sozusagen die Sowjetunion und die sowjetische Kultur von links kritisiert und haben uns begeistert für die linke Kunst, also für die linke Avantgarde ..."
– etwa für Sergej Tretjakow, den Karla Hielscher übersetzen und zusammen mit anderen einem westdeutschen Publikum zugänglich machen sollte.
"Die Freiheit des Künstlers ist nichts weiter als die Freiheit des Straußes, den Kopf unter den Flügel zu stecken [...]. Der gesellschaftliche Druck ist der Gebieter des Künstlers. [...] Wir nennen das den ‚sozialen Auftrag'. Es gibt kein Thema, das außerhalb des sozialen Auftrags liegt."
(Sergej Tretjakow, Die Aufgabe des Schriftstellers)
Karla Hielscher: "Das war für uns schon so eine revolutionäre Aufbruchskultur, die Hoffnung machte auf eine mögliche Veränderung der Welt."
Man begeisterte sich für die Vorstellung, dass Kunst und Leben ineinander übergehen. Heute spricht Karla Hielscher von dem "abstoßenden", "dümmlichen" Fortschrittsglauben dieser Künstler und ihrem "völlig utopischen Menschenbild".
Für Fritz Mierau und seine Frau ging es bei der Beschäftigung mit Tretjakow und anderen Avantgardekünstlern, ja mit aller Literatur um –
Fritz Mierau: "... eine Art Unbedingtheit, die von ganz bestimmten Lebensentwürfen und Lebensarten ausgegangen ist. Das waren immer Dinge und Schilderungen oder Bilder, die unmittelbar sich in unser Leben hinein als Lebensmöglichkeit unterstützend erwiesen."
"Im nachhinein", schreibt er in seiner Autobiografie, "Im nachhinein ist nicht zu übersehen, worum es bei meinen Ausgaben der siebziger Jahre ging: um die Einübung des Bruchs."
Fritz Mierau und seine Frau, Karla Hielscher und ihr Mann, der Hochschulslawist Hans Günther, die einen in der DDR, die anderen in der BRD, interessierten sich für dieselben Dinge, die frühe sowjetische Moderne, die ein anderes Konzept von Kunst und Leben, eine Verschränkung des Geistigen mit der alltäglichen Lebenspraxis entwarf, doch war man politisch – und damit auch denkerisch – anders verortet: Wenn es bei Mierau um die Einübung des Bruchs ging, so agierten und reflektierten die Westdeutschen in einem gesellschaftlichen Kontext, der sie vom theoretischen Liebäugeln mit der Weltrevolution fortbrachte, hin zu einer Haltung, die zwar kritisch blieb oder bleiben konnte, aber doch im Grunde mit der kapitalistisch-demokratischen Gesellschaft einverstanden war.
Dass es einem Eigendenker wie Mierau gelingen konnte, seine eigene Lebenssuche in publizierte Bücher zu verwandeln, hatte mit dem strategischen Geschick und dem Wagemut vieler in den Verlagen zu tun. Außerdem mussten auch die DDR-Verlage, anders als oftmals kolportiert wird, Bücher machen, an denen sie verdienten – und sei es nur durch Verkauf in den Westen, weil dies Devisen einbrachte, mit denen allein man Lizenzen westlicher Titel, ob Enzensberger oder Camus, Vargas Llosa oder Salinger, erwerben konnte. Die Quadratur des Kreises hieß: den Autor als ausreichend „anrüchig" zu präsentieren, damit er sich lukrativ verkaufte, aber ihn doch so darzustellen, dass er dem Grundkonsens der Gesellschaft nicht schadet.
Fritz Mierau: "Das heißt aber, dass man im Grunde mit dieser Gesellschaft einverstanden war übrigens. Und das waren wir. Wir haben zwar selber gemeint, wir bestimmen, was Sozialismus ist, aber wir waren innerhalb dieses sozialistischen Systems mit allen seinen furchtbaren Geschichten und Folgen anwesend. Und nicht nur das: Wir waren hier aktiv. Da kann man ja auch sagen, ihr habt dazu beigetragen, das Ganze zu verlängern, sonst wärs noch früher zusammengebrochen – das muss man tragen."
Aber auch die Konkurrenz der Verlage untereinander arbeitete Mierau zu. In Berlin saßen die großen Verlage, Aufbau, Volk und Welt, mit denen die kleineren Verlage – wie etwa Reclam Leipzig, wo Fritz Mierau das russische Programm von den 60ern bis in die 90er-Jahre entscheidend geprägt hat – nicht konkurrieren konnten um bestimmte Werke und Autoren.
Andreas Tretner: "Da war er eigentlich der ideale Spieler."
Andreas Tretner, Jahrgang 1959, unter anderem Übersetzer von Viktor Pelewin und Wladimir Sorokin, war selbst von 1988 bis 1991 Reclam-Leipzig-Lektor.
Andreas Tretner: "Denn man musste es auf eine spielerische, extrem flexible und natürlich auch an anderen Maßstäben, auch editorischen Maßstäben, geschulte Weise tun."
... wie es bei Volk und Welt oder Aufbau nicht möglich war. Orientiert hat sich Mierau anfangs durchaus an westlichen Editionsmodellen, ehe er einen eigenen, ganz originären Stil entwickelte:
Tretner: "Materialsammlungen, beinah almanachhaft, aber doch sehr viel konziser gebaute Mischformen von Fiktion, Essay, Kommentar und Bild auch. So wie der Russen in Berlin-Band dann entstand."
Sammlungen an der Nahtstelle zwischen akademischer Slawistik und Essayistik, wie sie für die Bundesrepublik seinerzeit eher untypisch waren und aus denen Wissenschaftler, ob Ost, ob West, ebenso Anregungen bezogen wie Verlagslektoren, eine Franziska Thun ebenso wie Katharina Raabe, die gerade in ihrer Anfangszeit als Osteuropalektorin – unmittelbar nach der Wende – die Reclam-Leipzig-Anthologien der russischen, polnischen, rumänischen, serbischen Moderne studierte.
Ebenso "scannte" man, was im Westen herauskam. Man hat durchaus gewürdigt, was dort gemacht wurde –
Tretner: "... aber auch teilweise befragt und vielleicht überlegt, was könnte man anders machen. Ein ganz typischer Fall aus meiner Zeit bei Reclam: Ich habe die ganze Zeit an einer Charms-Ausgabe gearbeitet. Die sollte sich durchaus von dem unterscheiden, was Peter Urban gemacht hatte. Aber ohne Urban wäre ich vielleicht nie auf Charms gekommen."
Die Mauer war da. Aber wer wollte, der konnte über sie hinweg in eine dialogische Beziehung zu dem treten, was auf der anderen Seite an Russischem und Sowjetischem erschien und wie: in welcher editorischen und in welcher Sprachgestalt.
Eine, die in deutsch-deutschen Literaturangelegenheiten regelmäßig von West nach Ost ging, war Ingrid Krüger, seit 1971 Lektorin beim Luchterhand Verlag für DDR- und sowjetische Literatur. Auch sie eine der vielen "Doppeldeutschen", wie der Germanist Wolfgang Emmerich sich einmal beschrieben hat: aufgewachsen in der DDR mit Russisch, dann in den Westen gegangen; auch sie "natürlich", sagt sie, Teil der 68er-Bewegung, woraus sich ihr Interesse für die Gegenwartsliteratur erkläre.
Ingrid Krüger: "Ich habe ja eigentlich nur Lizenzen kaufen können ..."
– aus ökonomischen Gründen: Übersetzungslizenzen in der DDR einzukaufen war billiger als westliche Übersetzer zu honorieren, so unterbezahlt diese waren und sind –
„... und vor allen Dingen Lizenzen vom Verlag Volk und Welt. Ich hatte den Trick, dass ich nicht den üblichen Weg gegangen bin über diese offiziösen Gespräche mit der Verlagsleitung jeweils, sondern ich bin meistens direkt in die Lektorate und habe da Kontakte gesucht und einen wunderbaren Kontakt mit dem Ralf Schröder gefunden."
Ralf Schröder ist für das DDR-Verlagswesen editorisch ebenso einzigartig wie Fritz Mierau, seine Biografie und sein Denken indes unterscheiden ihn fundamental von dem sieben Jahre Jüngeren.
Ingrid Krüger: "Der war ja ein wirklich hinreißender Slawist, der sich derartig für seine Autoren eingesetzt hat, überhaupt für die sowjetische Literatur und die russische, dass er einen nur eigentlich überfahren konnte damit (lacht). Da war ich (lacht) einfach nur Schülerin von Ralf Schröder."
Schröder hat Ingrid Krüger sehr früh auch auf die Fährte von Juri Trifonow gesetzt, einem der wichtigsten Autoren der 1960er und 70er-Jahre, der über sein Dasein als Schriftsteller einmal sagte, er wäre nie Romanautor geworden, wenn er als Historiker offen über die Fragen hätte schreiben können, die ihn bewegten, nämlich: warum das Leben im Sozialismus anders wurde als die Altbolschewiken es entwarfen. Trifonows Vater und Onkel sind unter Stalin ermordet worden; und die Menschen der Breschnew-Ära hatten sich von gesellschaftlichen Entwürfen ab-, ihrem kleinen privaten Leben zugewandt.
Trifonow war für Ralf Schröder ein Autor von größter Wichtigkeit auch für die DDR, aber nicht leicht durchzusetzen. Und da haben er und Ingrid Krüger auch Dinge gemacht, die waren –
Ingrid Krüger: "... halb und halb konspirativ. Wir haben die dollsten Sachen geschafft miteinander. Zum Beispiel dieses Buch hier – Widerschein des Feuers – von Trifonow zu verlegen, das in der DDR nicht erscheinen durfte. Es war sowieso sehr wenig noch von Trifonow erschienen, aber dieses kriegte er nicht in der DDR verlegt. Und er hat mich dann animiert, dass ich diese Rechte mir besorge ..."
– in der Sowjetunion, wo der Roman, der ein Jahrhundert bolschewistischer Geschichte abdeckt, die Zensur passiert hatte –
Ingrid Krüger: „... und in der DDR eine Übersetzung beantrage, so dass er die Übersetzung schon im Haus hatte, bei Volk und Welt also. Auf die Weise hat er versucht, dieses Buch auch in die DDR zu kriegen, und das ist dann auch gelungen. Ziemlich viel später erst, aber in der Gesamtausgabe war es dann 83 drin."
Und noch ein Schröderscher Coup gehört zu diesem Buch: In der 1979 bei Luchterhand erschienenen Ausgabe steht auf dem Vorsatzblatt, es handele sich um eine vom Autor autorisierte und "mit Ergänzungen versehene Ausgabe". Im Klartext: Stellen, die von der sowjetischen Zensur gestrichen worden waren, hatte Schröder, der mit Trifonow eng befreundet war, in das Manuskript, wie Eckhard Thiele es dann übersetzte, wieder aufgenommen. In diesem Fall nur für die Westausgabe, doch im Falle von Trifonows Zeit und Ort auch für die DDR-Ausgabe. Der Trick hier: Die Übersetzung vor der Erstpublikation in der UdSSR herauszubringen, denn: War das Buch erst einmal dort erschienen, so musste es in eben jener Fassung erscheinen, in der die sowjetischen Zensoren es hatten passieren lassen.
An der sowjetischen wie an der DDR-Literatur interessierten Ingrid Krüger vor allen Dingen diejenigen Autoren, die "möglichst unverschlüsselt transportierten, was in diesen Ländern passierte" – ein Anliegen, das sich ganz und gar mit dem Schröders und der ganzen Equipe des Lektorats für multinationale Sowjetliteratur im Verlag Volk und Welt deckte:
Christina Links: "Wir waren sehr politisch in unserer Art, mit Literatur umzugehen, haben sehr viel auch im sogenannten „podtext", also dem, was unter der ersten Leseschicht noch verborgen war in den Texten, versucht, für uns zu erschließen."
Christina Links, Jahrgang 1954, wie Franziska Thun ebenfalls mit einem Vollstudium der russischen Sprache und Literatur in der UdSSR, arbeitete seit 1980 als Lektorin bei Volk und Welt. Von den 145 Mitarbeitern an diesem „besten Platz auf der Welt", wie sie damals fand, sollte sie eine der beiden letzten werden, die 2001 mit der Auflösung des Verlags ein Kapitel deutsch-sowjetischer, deutsch-russischer Literaturbeziehungen würden schließen müssen.
Christina Links: "Das war schon der Versuch, die Literatur aus dieser Region zu nutzen, um solche Gedanken, Ideen, Wahrheiten aussprechen zu können oder transportieren zu können, die ansonsten nicht vorhanden waren in dem politischen Alltag."
Literatur als Transportmittel "geschichtlich beurkundeter Wahrheit", wie es Trifonow formulierte – dies schloss bei Schröder feinstes literarisches Verständnis nicht aus und doch hatte er ein instrumentelles Verhältnis zur Literatur. Ein geschichtlich-politisch motiviertes. Er war als einer derer, die nach der Geheimrede Chruschtschows die Entstalinisierung auch in der DDR vorantreiben wollten, im September 1956 verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Staatsverrats verurteilt worden. Nachdem er 1964 im Zuge einer Amnestie freigekommen war, warb ihn die Staatssicherheit 1970 als Informellen Mitarbeiter an. Er ließ sich darauf ein, weil es, wie er selber im Sommer 2000 an Fritz Mierau schrieb, in seinem Leben ein "kulturpolitisches Wettsujet" gab –
– "das zunächst nach meiner Freilassung vor allem darin bestand, jene Autoren und Werke durch Editionen zu legalisieren und gesellschaftlich wirksam zu machen, für deren Propagierung an der Karl-Marx-Universität ich 1957 aus dem Verkehr gezogen wurde."
(Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert)
Schröder sah sich, so Mierau –
– "als eine Figur im weltgeschichtlichen Ideendrama oder am Weltfeuer der Geschichte, in das jeder sein Reisig werfe. Wie immer er mich begrüßte, wenn ich sein Zimmer im Berliner Verlag Volk und Welt betrat – Glinkastraße 13-15, fünfter Stock – jedesmal klang es wie: „Willkommen in Utopia!"
Als Ingrid Krüger ihre Akten einsah gleich nach der Wende, zitterten ihr die Knie, als sie las, was der IM "Karl" über sie berichtet hatte:
"Das war schon bitter, das war bitter. Das finde ich vor allem so unvereinbar mit den ganzen Sachen, die wir zusammen da gemacht haben. Aber ich habe es inzwischen begriffen, dass er wahrscheinlich aus persönlichen Motiven nicht anders konnte oder wollte."
Fritz Mierau: "Wir waren beide glühende Verehrer dieser russischen Art des 19. und 20. Jahrhunderts, er ja noch viel gründlicher als ich, der ich mich ja immer als eine Art Liebhaber eigentlich begriffen habe, ein Essayist, man kann es auch als Dilettant bezeichnen, und er als wirklich ein geschulter Lehrer, auch Universitätslehrer, der wäre er ja eigentlich am genauesten gewesen."
Der Dilettant liebt das Mosaik, die Buntscheckigkeit, Vielstimmigkeit, der Gelehrte, zumindest ein bestimmter Typus von Gelehrtem – jener, der in marxistischer Tradition von „Gesetzmäßigkeiten" und "Fortschritt" ausgeht – neigt geschlossenen Denkgebäuden zu. Hiervon – und von der „Musik der Geschichte" auch, die, so Fritz Mierau, Schröder lockte – wendete man sich in der Bundesrepublik im Lauf der 1970er Jahre immer mehr ab – auch die sich verändernde westdeutsche Linke –, und der „Musik des Alltags" zu. Hier gab es eine Ungleichzeitigkeit, die sich nicht nur für einen Schröder im Moment von Perestrojka und Aufbruch in der DDR als fatal erweisen sollte, sondern für viele Literaten: ob Lektoren oder Schriftsteller, Übersetzer oder Wissenschaftler.
Annelore Nitschke: "In Westdeutschland hatte man eigentlich nur Chancen, Aufträge zu bekommen, wenn man sogenannte Dissidentenliteratur übersetzt hat. Es war nicht unbedingt mein Herzenswunsch damals, aber es gab überhaupt keine anderen Möglichkeiten."
Annelore Nitschkes Herzenswunsch war und ist eine Literatur, die –
"... nicht explizit politisch ist, nicht über die Zustände jammert, nicht geifert gegen die Mächtigen – das war alles in der Dissidentenliteratur nicht so schön –, sondern einfach sprachlich sehr ausgefeilte Prosa in der Tradition der klassischen russischen Literatur, die sich durchaus politischen Themen gewidmet hat, aber wirklich von einer sehr literarischen Warte aus."
Je weiter in den 70-ern die Ost-West-Entspannung vorangeht, desto intensiver werden die Kontakte zwischen den Staaten dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. Zur Schlussakte der Europäischen Sicherheitskonferenz (KSZE), unterzeichnet im August 1975, gehört auch der sogenannte "Korb III", in dem ein "Austausch neuer Belletristik" zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion vorgesehen ist. Zugleich beschleunigt der Helsinki-Prozeß in der UdSSR literarische Emanzipationsversuche. Die vielfach mit dem Ausschluss des Autors aus dem Schriftstellerverband, mit Verfolgung und Emigration enden – so auch für Boris Chasanow, den Annelore Nitschke übersetzen sollte, oder den sehr viel bekannteren Dichter Joseph Brodsky, alias Iosif Brodski. Nicht wenige der ausgereisten Autoren finden im Ullstein Verlag eine zuverlässige Publikationsmöglichkeit und westdeutsche Übersetzer, deren Betätigungsfeld sich mit dem wachsenden DDR-BRD-Lizenzgeschäft verkleinert, eine zuverlässige Auftragslage. Annelore Nitschke arbeitet fast ausschließlich für die Reihe „Kontinent" und die gleichnamige Zeitschrift, die in Paris auf Russisch herauskommt und zudem in mehreren westeuropäischen Sprachen verlegt wird.
Auch Suhrkamp, wo eine Zeitlang Übersetzer wie Peter Urban und Alexander Kaempfe für ein Profil sorgten, dem man die 68er-Herkunft anmerkte, nimmt sich der Bedrängten oder Exilierten an, seit Wolfgang Kasack, wie Ralf Schröder Jahrgang 1927, Hochschulslawist mit Chefdolmetscher-Vergangenheit im Auswärtigen Dienst, den Verlag berät.
Friedrich Hübner: "Mit Kasack kommt eine Note hinein, die ganz klar konservativ ist und auf der einen Seite sehr aufgeschlossen ist durchaus gegenüber Dissidentenliteratur, ob das nun experimentelle Kunst ist, die also sehr schwer zu rezipieren ist, oder auch andere –"
– die aber klar in einem Zusammenhang mit der aktuellen politischen Lage stehen musste, nun, nach dem Dritten Korb von Helsinki, eben mit den Rahmenbedingungen, die "Sicherheit", "Zusammenarbeit" und weitere "Entspannung" hießen. Kasacks Haltung lässt sich nach Friedrich Hübner etwa so umreißen:
"Es gibt moralisch gute Menschen, die dort Literatur machen – das ist Tendrjakow, und das sind zum Teil auch Dissidenten –, und es gibt eben politisch wache und demokratisch gesinnte und antisozialistisch gesinnte Menschen, und beides ist uns wichtig und ist interessant für uns."
Annelore Nitschke: "Ich hatte am Anfang den Eindruck, gerade in der Zeit bei Ullstein, dass die auch vor den eigenen politischen Kahn gespannt wurden, die ausgebürgerten Autoren, die damals sehr stark gegen die Entspannungspolitik gewettert haben und sozusagen den Gegnern dieser Politik Argumente an die Hand gegeben haben. Ullstein gehörte noch zum Axel-Springer-Imperium, und Axel Springer hat sich sehr gegen die Sowjetunion engagiert und die Dissidenten gefördert."
Kapitel 4: Die Perestrojka
Karla Hielscher: "Ich glaube, man kann schon sagen, dass die ganze Beschäftigung mit Osteuropa und natürlich auch mit der Literatur Osteuropas in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren, also bis hin zu Beginn der Perestrojka unglaublich geprägt war von der Ost-West-Auseinandersetzung in der Welt."
Schon im zaristischen Russland und erst recht in der Sowjetunion wurden alle wichtigen gesellschaftlichen Debatten in der Literatur geführt. Die Schriftsteller sahen sich – und wurden gesehen – als Mahner, als Gewissen der Nation, als Aufrüttler, als Medium einer höheren Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das prägte auch die europäische Sicht auf die russische und sowjetische Literatur. In den zwei Deutschlands infolge der Teilung auf eine Weise, wie es so nirgendwo sonst, ob in der westlichen oder der östlichen Hemisphäre, geschehen konnte.
Dieses Hybriddeutschland diskutierte mit- und gegeneinander, mit dem Rücken zueinander, quer aneinander entlang und vorbei über russische und sowjetische Literatur. Während der Perestrojka schien plötzlich die Wahrnehmung zusammenzuschießen, aus der Kakophonie oder Vielstimmigkeit – je nachdem – wurde einhellige Begeisterung.
Franziska Thun: "Also, wir haben uns –"
– das sind Karla Hielscher, die Publizistin aus der Bundesrepublik, und sie, Franziska Thun, Nachwuchswissenschaftlerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, die sich erstmals auf einem deutsch-deutschen Russischübersetzerseminar im März 1989 begegnen –
"– auf Anhieb im Umgang mit den ganzen Fragen sofort verstanden, menschlich verstanden, in unseren Ansichten, in unserer Umgangsweise mit der Perestrojka, mit der russischen Geschichte, Literatur, es war einfach sofort so eine absolute Vertrautheit, dass wir zum Du übergegangen sind sofort, ohne irgendwelche Probleme."
Karla Hielscher: "Die zeitgenössische Sowjetliteratur, die wurde im Wesentlichen gelesen: Was erfährt man über das Alltagsleben, über das Denken, über die Mentalität, über die Situation des Alltagslebens in der Sowjetunion, was man aus der offiziellen Propaganda der Zeitungen und Zeitschriften nicht erfährt."
Christina Links: "Gerade in den Jahren 85 bis 89 – um den Beginn der Perestrojka bis zur Wende in der DDR – war das, was aus der sowjetischen Literatur und auch Publizistik kam, schon sozusagen dissidentisch oder aufrührerisch für die DDR-Verhältnisse."
Marlies Juhnke: "Was machen die, oder was ist hier noch möglich, oder wie gehen die mit der Situation um, die wir ja auch haben, gehen die anders damit um, das war wichtig."
Marlies Juhnke, Anglistin und Slawistin, ist seit 1974 Lektorin im Aufbau-Verlag.
Franziska Thun: "Mit der Schizophrenie, dass das Sprechen in eigenartigen, seltsamen Kreisen, halböffentlichen Kreisen möglich wurde, zunehmend möglich wurde, und ich wie so ein Wanderprediger jede Woche drei, vier Vorträge hatte."
Auch Ralf Schröder, jener "Partisan im Zentrum der Macht", nach einem Wort Mieraus, reiste als Vortragender durch die Deutsche Demokratische Republik und erlebte die gesellschaftliche Wirksamkeit der Literatur, gerade der sowjetischen Literatur.
Franziska Thun: "87, in Dresden. Als es um die Fragen ging, wurde ich von jemandem aus dem Saal angesprochen mit der Frage: Also Sie sitzen jetzt hier, sagen Sie uns bitte, wir sind extra aus Magdeburg als Gruppe hier angereist, was können wir tun?"
Andreas Tretner: "Zu dem Zeitpunkt lief man schon so wahnsinnig offene Türen ein, und durch diese Türen zog es gewaltig, und es war einfach nur ein Rausch damals, Bücher zu machen."
Andreas Tretner, der als Student bei einem Sommerkurs seine "persönliche Epiphanie" mit dem Sprachklang des Russischen hatte während einer Messe in Smolensk, wo er zunächst dem Wohlklang der für ihn, da in der DDR Sprachgeschichte nicht gelehrt wurde, unverständlichen kirchenslawischen Liturgie lauschte –
"Und dann geschah es – Stunden später –, dass plötzlich ein glockenklares, in jedem Wort verständliches Russisch in derselben Schönheit des Klanges zu hören war, und das war dann tatsächlich die freie Predigt, ein in Neurussisch gehaltenes Wort des Popen. Das war plötzlich so, als hätte ich mein Leben lang mit dieser Sprache Umgang gehabt. Das wechselte sozusagen das Register, aber nicht den Klang. Und ich merkte einfach, diese Sprache, die war sozusagen zu mir gekommen."
Andreas Tretner, der frischgebackene Lektor im Reclam-Leipzig-Verlag, fuhr in der „Besoffenheit der Perestrojka" nach Moskau, auf der Suche nach neuen Texten für einen Sammelband in der Reihe "Kopfbahnhof" mit dem Titel –
"Das falsche Dasein, mit dem heute antiquiert klingenden Untertitel Sowjetische Kultur im Umbruch. Das war ein Almanach mit thematischer Ausrichtung, ein bisschen nach Kursbuch-Art, finde ich heute ..."
Dieses kompakte, experimentelle Buch, das unter anderem auch mit der Typographie spielt, nennt er sein "Vermächtnis" als Reclam-Lektor. Sein Ziel:
"Eine Glossolalie auch abzubilden, wenn es darum geht, Glasnost auf deutsche Buchseiten zu bringen in angemessener Form, auch sozusagen als Geräusch."
Begonnen hat er den Band, als die Mauer stand, ausgeliefert wurde er, als die Mauer schon gefallen war.
"Mir will es scheinen, als sei die Sowjetliteratur an ihr Ende gelangt. Möglich sogar, daß sie schon jetzt ein erkaltender Leichnam ist, ein großköpfiger, toter ideologischer Körper, der seinen Geist still und gleichsam verwirrt unter dem Kanonendonner von Glasnost und Perestroika aufgab. [...]Das Ende der Sowjetliteratur, deren Bürde eine soziale Engagiertheit in offiziösen oder dissidenten Mustern war, bedeutet nicht das Ende [...]. Die Keime der „alternativen" Literatur, so bescheiden sie sich bislang auch ausnehmen mögen, geben Anlaß zur Hoffnung. Somit ist dies ein glückliches Begräbnis [...].
(Wiktor Jerofejew, Letztes Geleit für die Sowjetliteratur)
Das Land, das den Kalten Kriegern im Westen zufolge für die Teilung Deutschlands verantwortlich war, die Sowjetunion, brachte eine Literatur hervor, die mit zum Ende der Teilung beitrug. Weil beide deutschen Staaten der Literatur die Fähigkeit zubilligten, politische Wirksamkeit entfalten zu können. Ralf Schröders Wettsujet war aufgegangen, freilich anders, als von ihm erhofft.
Kapitel 5: Der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung und das Ende der UdSSR
Christina Links: "Ich habe immer vor Augen gehabt, was für ein wunderbares Programm im Bereich russische Literatur wir 1989/90 hatten. Das waren alles Bücher, wo wir beglückt waren im Verlag, daß wir die endlich machen können. Und dann kamen die raus, und keiner wollte die mehr, weil: Es hatte sich über Nacht das Interesse erübrigt."
Andreas Tretner: "Da der Buchmarkt nicht mehr getrennt war, wurden ja auch die Lizenzen nicht mehr doppelt vergeben, und natürlich, dadurch ganz automatisch gab es diese Konkurrenz, aber dem waren wir schon, was die Bücher betrifft, die wir ..."
... Tretner meint den Reclam Verlag Leipzig ...
"... gemacht haben, gewachsen. Natürlich, manches zerschlug sich dann auch. Das lief dann schon nach den Gesetzen, nach denen das heute läuft."
Die Perestrojka hatte den deutsch-deutschen Geschäftsverkehr noch einmal dynamisiert: Die sowjetischen Autoren verkauften ihre Bücher an der Staatlichen Agentur für Urheberrecht vorbei auf eigenen Gewinn und brachten mitunter den Übersetzer im Gepäck mit. Ohnedies arbeiteten einzelne DDR-Übersetzer bereits vor dem Mauerfall an den staatlichen Stellen vorbei mit westlichen Verlagen zusammen – zur Unfreude der westlichen Kollegen nicht unbedingt zu westlichen Tarifen.
Doch mit dem 9. November 1989 wurden diese mauerbedingten westöstlichen „Win-win-Geschäfte" in wenigen Monaten hinfällig. Die ostdeutschen Lektoren mussten die Bücher, die sie im relativ abgeschlossenen kulturellen Raum der DDR gemacht hatten, plötzlich ganz anders kontextualisieren. Aber auch für die westlichen Lektoren wie Katharina Raabe, die bald nach der Wende im neu gegründeten Rowohlt Berlin Verlag anfing als eine, die bis dahin wenig mit osteuropäischer Literatur zu tun hatte, änderte sich der Blick auf die russische Literatur fundamental:
"Mein Bild von der russischen Literatur ist in dem Moment zerbrochen, in dem ich erfahren habe, dass es jenseits von Emigrantenliteratur, von Sozialistischem Realismus, von Nabokov etwas gab, was mir vollkommen unbekannt war, was auch im Westen nur in Zeitschriften wie dem Schreibheft rezipiert wurde, nämlich die experimentelle Literatur, die anknüpft an eine vergangene, ebenfalls nicht rezipierte Tradition der absurden – verdrängten – Moderne, Daniil Charms, die Oberiuten."
"Schreiben!" durchrieselte es mich. "Schreiben" Aufschub hieße – Gefahr in Verzug." [...] In meiner Badebibliothek bis zum Morgengrauen verharrend, schmiedete ich Vers libres, Hexameter, Amphibrachen und Jamben. Ich gestaltete, erneuerte, bearbeitete schier alle Arten und Gattungen der Poesie, der Prosa, der Dramaturgie. Schier alle Genres ergriffen, fesselten mich. Und alles, was ich schuf, schuf sich wie von selbst, mit eben jener mozarthaften Leichtigkeit, die auch jetzt meine Feder lenkt."
(Sascha Sokolow, Palisandria)
Katharina Raabe: "Das war eine Literatur, die man so überhaupt nicht kannte, dieses delirierende, verrückte Sprechen, das sehr viel mehr Ähnlichkeit hatte mit dem Stream of consciousness, den man aus westeuropäischem Kanon kannte, als z.B. mit der Literatur eines Trifonow."
Autoren wie Sascha Sokolow oder Wenedikt Jerofejew, die im Westen zwar zum Teil bereits verlegt, aber nicht recht wahrgenommen wurden. Wie auch die russische Literatur, die seit den 1930er Jahren in der Emigration entstand und sich politischen Kategorisierungen entzog, kaum Aufmerksamkeit fand, etwa ein Gaito Gasdanow oder eine Teffy, alias Nadeschda Lochwizkaja, die nun erst, da sie auch in Russland erschienen sind, ein deutsches Publikum erreichen können.
Marlies Juhnke vom Aufbau-Verlag, die von jeher auch aus dem Blickwinkel der Anglistik auf die russische Literatur geschaut hat, nahm nach der Wende zunächst erstaunt zur Kenntnis: Russland ist für einen westlich sozialierten Leser –
Marlies Juhnke: "– das Mystische, das ferne, das exotische Rußland. Und ja, was für uns überhaupt nicht so ist. Es ist für mich nicht mystisch, exotisch, sondern wie eine Alltagserfahrung."
Während Volk und Welt zehn Jahre nach dem Wegfall der Mauer geschlossen wurde, existiert Aufbau dank seines Fundus an klassischer russischer Literatur und einem breiten Segment Unterhaltungsliteratur noch heute.
Maries Juhnke: "Wir haben natürlich Daschkowa und Akunin. Als das richtig losging, haben wir irre Zahlen hier gehabt, das hat sich richtig gelohnt und das hat zum Teil den Verlag getragen. Das ist jetzt vorbei. Das ist inzwischen einfach ein sehr, sehr anderer Erfahrungshintergrund. Der russische und der deutsche driftet immer mehr auseinander, einfach auch im Alltag. Das Interesse der Leser ist nicht allzu groß. Ein Großteil der DDR-Leser lehnt auch alles ganz ideologisch ab, was russisch war. Da, denke ich, sind die alten Bundesländer oft eher offener."
Andreas Tretner: "Im Nachhinein betrachtet, hat diese Trennung in zwei Lager einfach nur gesorgt, dass viel mehr übersetzt worden ist, akkumulativ. Was die einen für wichtig hielten, fanden die anderen doof, und umgedreht, und gebracht wurde beides, und heute steht uns beides zur Verfügung – wie wunderbar. Hat natürlich einen zynischen Beigeschmack, aber es ist so."