Syrien-Krieg

Soll der Westen eine Allianz mit Russland eingehen?

Ein russischer Helikopter fliegt über der Hmaimim-Militärbasis in Syrien
Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr © imago/ITAR-TASS
Harald Kujat stellt sich den Fragen von Martin Steinhage · 10.10.2015
Er gilt als Paradebeispiel des politisch denkenden Offiziers. Seit vielen Jahren ist Harald Kujat anerkannter Experte für Sicherheitspolitik. Der frühere Bundeswehrgeneral hat Argumente für eine Allianz des Westens mit Russland, um den Krieg in Syrien zu beenden.
General a.D. Kujat: "Der Westen und Russland haben ein gemeinsames Ziel in Syrien"
Deutschlandradio Kultur: Mein heutiger Gast gilt als Paradebeispiel für einen politisch denkenden Soldaten. Er hat diese Fähigkeit über Jahrzehnte an verschiedensten Schnittstellen zwischen Militär und Politik unter Beweis gestellt, unter anderem als Generalinspekteur der Bundeswehr wie auch in Brüssel, als er den Vorsitz des Militärausschusses der Nato innehatte. Inzwischen ist er altersbedingt nicht mehr im aktiven Dienst, befasst sich aber weiterhin mit sicherheitspolitischen Fragen.
Die Rede ist von General außer Dienst Harald Kujat. Guten Tag, Herr Kujat.
Harald Kujat: Ich grüße Sie.
Harald Kujat, deutscher General a. D. der Luftwaffe
Harald Kujat, deutscher General a. D. der Luftwaffe© Deutschlandradio
Deutschlandradio Kultur: Sprechen wollen wir in dieser Sendung über zwei hochbrisante Krisenherde, nämlich über Syrien und über Afghanistan. - Herr Kujat, vor gut vier Wochen hatten sie angeregt, der Westen solle mit Russland eine große Allianz eingehen, um den Syrienkrieg zu beenden. Inzwischen ist Moskau militärisch aktiv in der Region, aber wohl nicht so, wie man sich das wünscht. Präsident Putin lässt nicht nur die Terrororganisation IS, also den Islamischen Staat, mit Luftschlägen attackieren, er greift auch syrische Rebellen an, die von den USA unterstützt werden.
Halten Sie es gleichwohl noch für möglich, mit Russland eine Allianz einzugehen in Syrien?
Harald Kujat: Ich halte es für möglich. Ich hoffe es auch, dass letzten Endes sich alle darüber im Klaren sind, dass man nur gemeinsam ein gemeinsames Ziel auch erreichen kann. Dieses gemeinsame Ziel ist ja, den Bürgerkrieg zu beenden, diesen furchtbaren Krieg, der nun seit über vier Jahren dort tobt und der auch zu diesen Flüchtlingsbewegungen geführt hat - ein Problem, das uns alle in Deutschland bewegt. Und das Zweite ist, dass wir den IS zumindest aus Syrien vertreiben, wir werden IS nicht vollständig besiegen, aber aus Syrien vertreiben, und dass langfristig dort eine politische Stabilisierung eintritt.
"Ich würde mehr Gelassenheit empfehlen"
Das heißt also, dieses Ziel - habe ich jedenfalls den Eindruck, Putin hat das ja auch so erklärt - ist das Ziel Putins. Und das ist auch das Ziel des Westens. Die Frage ist also: Kann man sich über den Weg zu diesem gemeinsamen Ziel verständigen? Und das ist bisher leider nicht der Fall.
Deutschlandradio Kultur: Im Augenblick ist es ja eher so, dass die Nato Russlands Syrien-Offensive scharf kritisiert. Zugleich hat die Nato der Türkei demonstrativ ihren Beistand zugesichert. Und sie denkt auch über Aufrüstung nach, über die Schnelle Eingreiftruppe beispielsweise.
Für wie gefährlich halten Sie diese Entwicklung? Oder ist das gar nicht so gefährlich, ist das eher ein Schaulaufen, dass da stattfindet?
Harald Kujat: Ich würde hier mehr Gelassenheit empfehlen. Natürlich ist es immer kritisch, wenn zwei verschiedene Streitkräfte zusammen operieren dort in einem gemeinsamen Luftraum, wie das im Augenblick der Fall ist. Und da kann es natürlich auch passieren, dass es zu Grenzverletzungen kommt. Wenn es zutrifft, dass das russische Flugzeug sogar das Zielradar eingeschaltet hatte, ist das natürlich ein sehr kritischer Vorgang mit dem türkischen Jet.
Aber grundsätzlich empfehle ich Gelassenheit. Ich empfehle, nicht zu eskalieren – weder verbal, noch militärisch. Und wir haben das in der Vergangenheit gesehen: Insbesondere die Türkei neigt dazu, die Nato immer wieder in eine solche Situation zu bringen, dass die Nato erklären muss, wir sind solidarisch mit der Türkei, wir werden die Türkei verteidigen. – Das war 2003 so, als der zweite Irakkrieg stattfand. Das war danach so, als wir unsere Patriot-Systeme in die Türkei verlegt haben. Ich denke, man sollte vorsichtig sein mit solchen Äußerungen. Wie gesagt, verbal abrüsten, das ist im Augenblick das Gebot der Stunde.
Deutschlandradio Kultur: Die allermeisten unserer Hörer werden genau wie ich militärische Laien sein. Geben Sie doch mal kurz eine Einschätzung: Es war jetzt zu hören, das könnte ganz gefährlich werden, wenn da Jets aufeinander zu fliegen mit dem Zielradar. Das könnte eine nicht mehr kontrollierbare Eskalationskette in Gang bringen. – Ist das Alarmismus oder könnte es wirklich passieren?
Harald Kujat: Ja, da ist schon richtig, insbesondere wenn eine Situation so entsteht, immer vorausgesetzt, sie ist uns richtig berichtet worden, dass ein Flugzeug der anderen Partei das Flugzeug der eigenen Partei mit einem Zielradar beleuchtet. Das ist in der Nato-Terminologie ein sogenannter hostile act, also eine feindliche Handlung bereits. Und nach den Nato rules of engagement, also den Einsatzregeln, wäre in einer solchen Situation eine Gegenreaktion durchaus möglich. - Also, für sich genommen ist diese Situation in der Tat eine gefährliche Situation.
Wenn man aber die Gesamtlage betrachtet und sieht, dass die russischen Luftstreitkräfte dort überhaupt kein Interesse haben, die Türkei anzugreifen, das ist nicht das Ziel dieser Operation, und sie sind auch gar nicht dazu in der Lage, das zu tun - es kann sich also im Grunde genommen nur um ein Versehen handeln oder um eine Überreaktion eines russischen Piloten. Deshalb fordere ich eben alle Beteiligten auf, Gelassenheit zu bewahren, abzurüsten und nicht aufzurüsten – auch verbal nicht.
Deutschlandradio Kultur: Gelassenheit ist das eine, Interessen sind das andere. Die strategischen Ziele in Syrien könnten meines Erachtens unterschiedlicher kaum sein: Die USA wollen den IS, den Islamischen Staat zurückschlagen und den syrischen Präsidenten Assad aus dem Amt haben. Die Russen wollen den Islamischen Staat ebenfalls vernichten, aber den verbündeten Assad stützen. Und wir Deutschen, wir halten es mit den USA und hoffen, dass demnächst weniger syrische Flüchtlinge zu uns kommen. – Lassen sich diese höchst heterogenen Interessen überhaupt zusammenführen?
Harald Kujat: Ich denke schon. Es ist immer möglich, wenn die Ziele weitgehend identisch sind – und das sind sie in diesem Fall –, sich über den Weg zu diesen Zielen zu verständigen. Die Frage ist also: Welche Rolle spielt Assad in diesem Spiel?
Ich persönlich habe den Eindruck, dass Russland an Assads Schicksal überhaupt nichts gelegen ist. Aber Russland braucht im Augenblick Assad. Jeder bräuchte ihn eigentlich, wenn er keine Bodentruppen einsetzen will. Denn nur mit Bodentruppen wäre der IS zu besiegen. Der Einsatz von Luftstreitkräften hat natürlich einen gewissen Abnutzungseffekt. Er reduziert die militärischen Fähigkeiten, aber er ist nicht entscheidend. Das heißt, man braucht Bodentruppen.
"Die Europäer hatten keine Vorstellung von dem, was in Syrien entstand"
Und da niemand dazu bereit ist, weder Russland, noch die Vereinigten Staaten, sagt Russland: Dann nutzen wir eben für eine Übergangszeit die syrischen Bodentruppen, die dort vor Ort sind. Das setzt voraus, dass das Assad-Regime zunächst mal, zumindest für eine Übergangszeit gestützt und sogar gestärkt werden muss.
Aber, ob Assad am Ende dieses Prozesses noch im Amt ist oder nicht, darüber sagt das überhaupt nichts aus. Das heißt, man könnte sich durchaus, und das wäre im Grunde genommen mein Vorschlag gewesen, meine Bitte gewesen an die Beteiligten, man hätte sich darüber einigen können, verständigen können, dass zunächst eine Übergangsregierung gebildet wird und dass es am Ende zu freien Wahlen kommt und dabei natürlich Assad keine Rolle mehr spielt.
Im Übrigen noch ein Satz dazu: Das war eine Position, auf die man sich 2012 schon weitgehend verständigt hatte. Also, es ist überhaupt keine völlig neue Situation. Man muss eigentlich nur zurückgehen zu dem, was damals vernünftigerweise verabredet war. Gescheitert ist es daran, dass die syrische Opposition, die sich außerhalb des Landes befindet, nicht bereit war, Assad in einer Übergangsregierung zu akzeptieren. Und darüber, denke ich, müsste man reden und darüber müsste man sich auch im Grunde genommen verständigen können.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kujat, teilen Sie die Auffassung, dass der Westen im Grunde genommen über Jahre in Syrien zu zögerlich war und Russland jetzt sehr geschickt in dieses Vakuum gestoßen ist?
Harald Kujat: Absolut. Es ist ganz eindeutig, dass die Europäer überhaupt keine Vorstellung von dem hatten, was dort entstehen könnte, auch vier Jahre lang zugesehen haben, wie die Dinge sich entwickelt haben. Es ist auch völlig richtig, dass die Amerikaner keine Strategie, zumindest keine Strategie, die einen Erfolg verspricht im Hinblick auf die Beendigung des Bürgerkrieges und die Bekämpfung des IS, hatten. Das ist die Situation gewesen. Und Russland ist in dieses Vakuum hineingestoßen.
Man muss sagen, das wird ja immer wieder diskutiert, welches sind die Ziele Putins, aber natürlich will Russland seinen Einfluss in dieser Region festigen und Zugang zum Mittelmeer haben. Man sieht ja auch den Zusammenhang zum Beispiel mit dem Konflikt in der Ukraine. Nur die Krimhalbinsel garantiert den Russen eine Seebasis, die es ihnen erlaubt, den Zugang zum Mittelmeer zu haben. Und nur eine logistische Basis im Mittelmeerraum, in diesem Fall in Syrien, erlaubt es den Russen, diese Präsenz im Mittelmeer aufrecht zu erhalten. Also, hier kommen strategische Ziele und die Ziele, die mit diesen Krisen, mit diesem Krisengürtel muss man schon sagen, der sich von Libyen über den Irak bis nach Syrien und sogar bis in den südlichen Kaukasus erstreckt, zusammen. Also, das ist das Ziel, das Russland verfolgt, hier Einfluss zu halten und im Grunde genommen auch die südliche Krisenregion südlich von Russland abzuschirmen gegen den Einfluss terroristischer und islamistischer Kräfte. Das ist es, was sie verfolgen.
Deutschlandradio Kultur: Ist der IS zu besiegen oder kann man seinen Einfluss nur eindämmen und ihn zurücktreiben, wohin auch immer?
Harald Kujat: In Syrien kann man den Einfluss sicherlich zurückdrängen. Man kann den IS aus Syrien vertreiben. Aber es ist nicht so, dass damit die Wirkungsmöglichkeiten des IS an anderer Stelle im Irak oder sonst wo ausgeschaltet werden.
Das eigentliche Problem mit diesem Terrorismus ist, dass immer wieder Metastasen, neue Organisationen entstehen. Es gibt ja hier keine einheitliche Organisationsform, die zentral geführt wird, sondern wir haben Al-Qaida. Aus Al-Qaida ist Al-Nusra entstanden. Wir haben die Taliban. Wir haben Boko Haram in Afrika. Das sind alles völlig unterschiedliche Organisationsformen, aber letztlich vereint in einem, in dem gleichen Ziel, nämlich Terrorismus zu verbreiten, islamistische Staaten aufzubauen, ein islamisches Kalifat aufzubauen sogar. Das verbindet sie, dieser gemeinsame Grundgedanke.
Aber sie sind sehr unterschiedlich und sie bewegen sich wie fließendes Wasser. Selbst wenn es uns gelänge, den IS aus Syrien zu vertreiben, würde er sozusagen woanders hingehen, würde dort sein teuflisches Werk fortsetzen im Irak oder sonst wo. Also, den Terrorismus grundsätzlich zu besiegen, das ist eine Aufgabe, die uns noch viele Jahre beschäftigen wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kujat, ich nehme Ihr Bild mal auf von den Metastasen. Würden Sie empfehlen oder es begrüßen, wenn in irgendeiner Weise sich die Bundeswehr daran beteiligen würde, wo auch immer dieses Krebsgeschwür zu besiegen?
Harald Kujat: Nun, es hängt von der Situation ab und es hängt von den Fähigkeiten ab, über die die Bundeswehr verfügt. Und es hängt von dem politischen Willen der Bundesregierung ab.
Die Bundeswehr ist schlecht ausgerüstet und hat Personalmangel
Also, ich könnte mir durchaus vorstellen: Wenn es gelänge, beispielsweise wenn man den IS besiegt hat, wenn man ihn vertrieben hat aus Syrien und man versucht dort eine Stabilisierung wieder zu erreichen – politisch und sozial –, das könnte eine Aufgabe für eine internationale Organisation sein, nicht für Deutschland allein oder für wenige Staaten. Ich bin immer dafür, dass man hier ein Mandat der Vereinten Nationen erwirkt, das wäre zum Beispiel mit Russland möglich, ein Mandat für eine humanitäre Intervention, und dass man dann für einen gewissen Zeitraum dort versucht die Dinge zu stabilisieren. Das wäre auch in unserem eigenen Interesse.
Die Frage ist natürlich, wie die Situation dann aussieht. Und darüber hinaus: Ist die Bundesregierung wirklich dazu bereit? Und sind die Streitkräfte dazu fähig?
Deutschlandradio Kultur: Sind sie das?
Harald Kujat: Ich habe erhebliche Zweifel daran. Ich denke, wir haben immer noch einen Zustand in der Bundeswehr, der es uns nicht erlaubt, die gesamte Bandbreite an Fähigkeiten aufzubringen, die für solche Operationen benötigt werden. Das hängt mit der sehr schlechten Ausrüstung der Bundeswehr zusammen. Das hängt auch mit dem geringen Personalumfang als Folge der Reform von 2011 zusammen. Also, man muss das sehr, sehr sorgfältig prüfen. Ich würde also nicht ad hoc sagen, wir sollten das machen oder wir sollten das nicht machen. Denn es müssen, wie bei jeder Operation, zuvor zwei Fragen beantwortet werden.
Die erste Frage ist: Sind wir in der Lage, eine solche Operation erfolgreich durchzuführen, ja oder nein? Und: Sind wir in der Lage, unseren Soldaten ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten? Nur wenn man diese beiden Fragen mit Ja beantworten kann, kann man guten Gewissens auch sagen, okay, wenn der politische Wille da ist, dann sollten wir das tun.
Deutschlandradio Kultur: In den letzten Wochen und Monaten haben sich viele hierzulande gefragt, warum neben Syrern und Irakern auch zehntausende afghanische Flüchtlinge nach Europa beziehungsweise nach Deutschland strömen. Inzwischen kennt man die Antwort: In Afghanistan herrschen längst wieder Chaos und Anarchie. Die Taliban, der dort inzwischen auch aktive IS sowie einzelne Warlords terrorisieren die Bevölkerung.
Seit gut einer Woche gibt es auch in Kundus heftige Kämpfe, dort, wo die Bundeswehr über ein Jahrzehnt lang bemüht war, das Land zu stabilisieren und einen demokratischen Staat aufzubauen.
Herr Kujat, war der Einsatz der Bundeswehr, war der internationale Einsatz insgesamt vergeblich?
Harald Kujat: Diese Frage ist sehr, sehr schwer zu beantworten. Es hängt immer davon ab, mit welchen Zielen man diesen Einsatz begonnen hat. Nach meiner Auffassung waren es zwei Ziele. Das erste Ziel war, nach dem Angriff auf die Vereinigten Staaten mit über 3.000 Toten - Stichwort New York, Stichwort Washington, 9/11 - Solidarität mit unserem engsten Verbündeten zu demonstrieren. Ich glaube, wenn man dieses Ziel an den Anfang stellt, und das war es zu der Zeit, dann ist dieser Einsatz gelungen.
Das zweite Ziel war, den Terrorismus an seinen Wurzeln zu bekämpfen, dort, wo er entsteht. Richtig ist, Al-Qaida ist weitgehend ausgeschaltet in Afghanistan, aber die Taliban sind immer stärker geworden in den vergangenen Jahren. Und inzwischen muss man wirklich sagen, es besteht durchaus die berechtigte Befürchtung, dass in nicht allzu langer Zeit die Taliban die Macht in Afghanistan übernehmen werden. Ich halte es für ein Menetekel, dass es ihnen gelingt, ohne größere Probleme eine Stadt mit 300.000 Einwohnern einzunehmen, noch dazu eine Stadt, die auch für uns Deutsche insbesondere eine enorme Symbolkraft hat. Denn hier haben deutsche Soldaten gekämpft. Hier haben deutsche Soldaten ihr Leben eingesetzt für dieses Land und für die Menschen in diesem Land. Das ist eine schwere, schwere Bürde, die wir da auf uns genommen haben. Und es ist uns nicht gelungen, das wirklich zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Deutschlandradio Kultur: Dann frage ich mal sehr salopp trotz des sehr ernsten Themas: Was ist schief gelaufen?
Harald Kujat: Es ist viel schief gelaufen, aber nicht primär im militärischen Bereich. Die militärische Operation kann im Grunde genommen nur die Voraussetzung schaffen dafür, dass die politischen, die wirtschaftlichen und die sozialen Maßnahmen greifen.
Und wir sind vor allen Dingen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet gescheitert. Das muss man so feststellen. Wir haben auch militärisch Fehler gemacht. Denken Sie nur daran, dass die Vereinigten Staaten am Anfang mit ihrem Krieg im Irak beschäftigt waren und relativ halbherzig den Einsatz dort geleistet haben.
Wir haben den Einsatz zunächst nur auf Kundus beschränkt. Und ISAF heißt hier International Security Assistance Force. Wir wollten eigentlich nur unterstützend tätig sein. Und es hat einige Jahre gebraucht, bis die Taliban wieder an Stärke gewonnen hatten, nachdem wir sie eigentlich schon als besiegt betrachtet hatten. Sie haben wieder an Stärke zugenommen. Sie haben ihre Aktivität auf das ganze Land ausgedehnt. Und aus diesem Stabilisierungseinsatz, diesem Unterstützungseinsatz, Assistance ist ein Krieg geworden über die Jahre.
Und wir haben, glaube ich, nicht in dem Maße schnell und zügig darauf reagiert, wie die strategische Lage sich verändert hat. Wir haben über lange Zeit daran festgehalten, dass es ein Einsatz ist, in dem wir sozusagen militärische Entwicklungshilfe leisten. Wir haben auch unseren Soldaten nicht das Gerät gegeben, was sie eigentlich benötigten, um einen wirklichen Krieg zu führen. Das sind die militärischen Fehler.
"Der Afghanistan-Einsatz war für die Bundeswehr eine Zäsur"
Aber, wie gesagt, die politischen Fehler wiegen schwer. Das hängt auch damit zusammen, dass wir unseren Einsatz politisch zersplittert haben. Wir haben sogenannte lead nations eingesetzt. Deutschland beispielsweise war verantwortlich für die Ausbildung der Polizei, die Italiener für den Aufbau eines landesweiten Justizsystems usw. Das alles hat dazu beigetragen, dass wir mit großen Problemen dort nach wie vor konfrontiert sind und dass das Land im Grunde genommen fragil ist – politisch, wirtschaftlich, sozial fragil ist. Und ein leiser Windhauch nur, ein Ansturm, wie wir ihn jetzt erlebt haben in Kundus, kann dazu führen, dass dieses Gebilde in sich zusammenbricht.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kujat, in Afghanistan fand ja ab 2002 der Kampfeinsatz der Bundeswehr statt. Mehr als 5.000 deutsche Soldaten waren zeitgleich immer im Einsatz. Insgesamt rund 130.000 Bundeswehr-Angehörige haben dort im Rahmen der von der Nato geführten ISAF-Mission gekämpft. Mehr als 50 deutsche Soldaten sind in Afghanistan gefallen. Tausende sind verletzt an Körper und oder Seele heimgekehrt.
Und nun, so scheint es, war vielleicht nicht alles, aber doch vieles umsonst und vergeblich. Was bedeutet das nach Ihrer Einschätzung für die Moral der Truppe?
Harald Kujat: Nun, der Einsatz war für die Bundeswehr eine Zäsur. Aus der Armee, die in erster Linie, wo wir als Nato-Mitgliedsstaat für die Sicherheit unseres Landes und unserer Verbündeten zuständig waren, wo wir in erster Linie auf Abschreckung gesetzt haben, ist eine Armee für den Einsatz geworden. Das heißt, die Bundeswehr musste sich im Einsatz bewähren und hat das, glaube ich, auch sehr gut getan. Auch unser Führungssystem, die innere Führung, das Führen nach Auftrag haben sich in diesem Einsatz außerordentlich bewährt. Und wir haben eine Generation von militärischen Führern, die in diesem Einsatz waren, die gelernt haben und die auch für die Zukunft, glaube ich, sehr viel mitbringen für die Bundeswehr, sehr viel Erfahrung, die wir auch in die Ausbildung mit einbringen können. Insofern muss man diesen Wandel, der da entstanden ist, glaube ich, auch richtig einordnen.
Das andere ist natürlich, dass wir auch erhebliche Einbußen erlitten haben. Wir haben, wie Sie schon sagten, 54 Soldatenleben zu beklagen in diesem Einsatz, viele Verwundete an Leib und Seele. Und das hat natürlich seine Wirkung auch in unserer Bevölkerung hinterlassen. Und die Tatsache - wenn Sie eine Umfrage starten zu einem Einsatz der Bundeswehr -, dass Sie überwiegend auf Ablehnung in der Bevölkerung stoßen, hängt natürlich auch mit dieser Erfahrung zusammen.
Das muss die Politik berücksichtigen. Und wenn es jetzt um die Frage geht, wie geht es eigentlich weiter in Afghanistan, dann spielt das natürlich eine ganz entscheidende Rolle.
Deutschlandradio Kultur: Nach Abschluss des Kampfeinsatzes sind jetzt noch rund 800 Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Ausbildungsmission Resolute Support in Afghanistan. Die Amerikaner nehmen mit ihrem auf rund 10.000 Soldaten geschrumpften Kontingent allerdings noch immer an Kampfhandlungen an der Seite der regulären afghanischen Armee teil. Noch ist geplant, ich betone noch, dass der internationale Einsatz Ende nächsten Jahres seinen Abschluss findet. Doch angesichts der aktuellen Entwicklung erwägt die Nato inzwischen, länger in Afghanistan zu bleiben. – Sollte sie länger bleiben?
Harald Kujat: Es ist keine Frage der Dauer, denke ich, sondern es ist eine Frage, wie man diesen Einsatz gestaltet.
Sie haben mit Recht gesagt, die Amerikaner sind dort nach wie vor mit der Ausbildung beschäftigt, aber sie haben auch Kampftruppen noch im Lande stationiert. Ich hätte mir gewünscht, dass man den Übergang anders gestaltet, als wir das getan haben, nicht abrupt von einem Kampfeinsatz zu einem Ausbildungseinsatz übergehen, sondern vielleicht für einen Zeitraum von zwei Jahren eine Kombination aus Ausbildung, natürlich, das ist nach wie vor wichtig, aber eben auch Kräfte dort zu haben, weniger Kräfte, hoch mobile, sehr kampfstarke Kräfte, mit denen man in der Lage ist, in einer Notlage dann einzugreifen, wenn die afghanische Armee nicht mehr weiter weiß, nicht mehr weiter kann – entweder, weil sie moralisch nicht dazu in der Lage ist oder weil ihre Ausbildung das nicht zulässt.
"Pakistan ist strategisch ein wichtiger Staat. Und es ist ein Nuklearstaat"
Und dann muss man aber, und das ist eigentlich das Entscheidende dabei, alle Maßnahmen, die wir ergreifen dort militärisch, auch die Ausbildungsmission ist ja nur ein Vehikel sozusagen, um sicherzustellen, dass wir politisch dort Fortschritte machen, dass wir wirtschaftlich Fortschritte machen, dass wir der Bevölkerung eine Zukunftsperspektive geben.
Und ich habe seit Jahren gefordert, dass man das Afghanistanproblem nicht auf Afghanistan beschränken darf, sondern es ist ein regionales Problem.
Deutschlandradio Kultur: Pakistan beispielsweise.
Harald Kujat: Pakistan, Sie sagen es mit Recht. Pakistan ist ein ganz entscheidender Faktor. Solange die Taliban dazu in der Lage sind, sich immer wieder nach Pakistan zurückzuziehen, dort zu regenerieren, ihre Verwundeten zu pflegen und auszubilden, solange kann man das Problem nicht auf Afghanistan beschränken, sondern muss die Region mit einbeziehen, eben auch den Iran. Das dürfen wir nicht vergessen.
Pakistan ist strategisch ein wichtiger Staat. Es ist ein Nuklearstaat. Wir haben dort die Probleme Pakistan/ Indien. Wir haben aber auch unsere Probleme des Westens mit dem Iran. Ich denke aber, all das darf uns nicht daran hindern zu versuchen, eine regionale Stabilisierung in Kraft zu setzen.
Und das Zweite ist: Wir müssen verstärkt auch politisch, sozial, wirtschaftlich dort noch einmal eine Kraftanstrengung unternehmen, um dieses Land von innen zu stabilisieren, aber auch um der Bevölkerung eine Zukunftsperspektive zu geben. Und das alles ist zentral, während der militärische Einsatz im Grunde genommen nur dazu dient, diese Maßnahmen abzusichern. Das ist der entscheidende Punkt.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wenn ich Sie recht verstehe, hielten Sie es für unklug, wenn die westliche Staatengemeinschaft ihren Afghanistan-Kampfeinsatz neu auflegen ließe?
Harald Kujat: Natürlich ist ein Kampfeinsatz wie wir ihn bisher durchgeführt haben, weder möglich, noch erforderlich aus meiner Sicht. Man kann auch das Rad nicht zurückdrehen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass nicht nur die Bundesregierung nicht dazu bereit ist, sondern alle anderen Mitgliedsstaaten auch nicht dazu bereit sind. Und bedenken Sie nur, was das an langer Vorbereitungszeit bedarf.
Aber andererseits muss man eben auch sagen, eine Verlängerung der Ausbildungsmission allein reicht natürlich nicht aus, um die Dinge grundlegend zu ändern. Deshalb ist es wichtig zu sehen, wie erfolgreich die Amerikaner mit ihrem Mischeinsatz jetzt sind. Und dann muss man überlegen, was die Nato darüber hinaus tun kann. Das muss nicht primär militärischer Art sein, sondern das kann auch sich auf den politischen, auf den wirtschaftlichen, auf den sozialen Sektor beziehen. Aber wir sollten weder Afghanistan allein lassen für die Zukunft, noch sollten wir die Amerikaner dort allein lassen, unsere engsten Verbündeten, sondern wir sollten überlegen, was man gemeinsam tun kann, um zu verhindern, dass das eintritt, was sich offensichtlich jetzt als Menetekel abzeichnet, dass die Taliban über kurz oder lang dort die Macht übernehmen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kujat, zu Beginn des deutschen Kampfeinsatzes in Afghanistan, Sie werden diesen berühmten Satz auch noch im Ohr haben, sagte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. – Wird Deutschland unsicherer, wenn Afghanistan nun endgültig zum failed state und erneut zur Heimstatt von Terroristen würde?
Harald Kujat: Nun, ich denke, Herr Struck hat das gesagt, um die Unterstützung der deutschen Bevölkerung zu sichern für diesen Einsatz. In der Substanz ist es natürlich nicht so. Denn wenn es so wäre, dann hätten wir uns niemals aus Afghanistan zurückziehen dürfen. Denn wir würden ja im Grunde genommen die Verteidigung unserer Sicherheit den Afghanen übertragen, sozusagen in unserem Auftrag als Unterauftragnehmer. Das ist es sicherlich nicht.
"Die Politik ist überfordert mit den vielen Krisen"
Aber es ist richtig, ich sagte es auch am Anfang, das zweite Ziel war, den Terrorismus sozusagen an der Wurzel zu bekämpfen, dort, wo er entstanden ist, in Afghanistan. Und das ist eine Aufgabe, an der wir über viele Jahre beteiligt waren. Aber diese Aufgabe ist ja nicht gelöst, sondern es ist nach wie vor so, dass dort terroristische Kräfte kämpfen und auch offensichtlich die Oberhand gewinnen über kurz oder lang. Und deshalb ist es eben überlegenswert, insbesondere für die Nato überlegenswert, nicht für Deutschland allein, sondern für die Nato überlegenswert, was kann man eigentlich tun, um dieses Land langfristig zu stabilisieren. Was kann man tun, um zu verhindern, dass hier der Terrorismus die Oberhand gewinnt?
Man darf auch nicht vergessen, unabhängig davon, ob nun eine unmittelbare Bedrohung für unser Land davon ausginge, was ich so nicht nachvollziehen kann, aber man darf nicht vergessen, dass dies ein fatales Signal wäre und anderen Terrororganisationen, wie dem IS beispielsweise, einen enormen Auftrieb verschaffen würde und auch einen enormen Zulauf und unabhängig davon natürlich die Zahl der Flüchtlinge, die aus diesem Land fliehen und die nach Deutschland kommen, vergrößern würde.
Das sind alles Überlegungen, die man in dieses politische Kalkül einbeziehen muss.
Deutschlandradio Kultur: Letzte Frage mit der Bitte, obwohl es eine schwere Frage ist, um eine kurze Antwort: Haben Sie denn den Eindruck, jetzt insgesamt betrachtet, dass die Politik den von Ihnen geforderten, angesprochenen Vorstellungen, Voraussetzungen gewachsen ist?
Harald Kujat: Ich habe den Eindruck, dass unsere Politik überfordert ist mit den vielen Krisen, mit denen wir im Augenblick konfrontiert sind, und dass man natürlich versucht, immer die bedrückendsten, die größten Krisen, die unmittelbarsten Krisen zuerst zu bewältigen.
Aber das ist eben ein Zeichen der Zeit. Es gibt nicht eine Krise, mit der man es zu tun hat. Es gibt viele Krisen. Und sie sind völlig unterschiedlicher Natur. Das ist eine große Herausforderung, eine Herausforderung, wie wir sie in der Vergangenheit noch nicht erlebt haben. ich kann nur hoffen, dass die Politik in diese Aufgabe hineinwächst, dass wir unser politisches Krisenfrühwarnsystem verbessern, dass wir bereit und in der Lage sind, uns früher zu engagieren in Krisen.
Denn je früher man sich engagiert, desto geringer ist der Aufwand und desto größer sind die Erfolgsaussichten, dass wir nicht zuwarten, wie jetzt auch in Syrien vier Jahre, bis die Krise zu uns nach Hause kommt mit den Flüchtlingen, sondern dass wir eher handeln.
Das wäre mein Wunsch und meine Bitte. Und ich hoffe sehr, dass wir das nicht nur national allein, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union und vor allen Dingen auch in der Nato politisch vorantreiben.
Deutschlandradio Kultur: Ganz herzlichen Dank, Herr Kujat.

Harald Kujat, Jahrgang 1942, begann 1959 seine Laufbahn als Berufssoldat bei der Luftwaffe. Zwischen 1965 und 1989 durchlief er alle Offiziersränge vom Leutnant bis zum Oberst. Seit 1992 diente Kujat im Rang eines Generals. Seine Karriere krönte er im Jahr 2000, als er zum Generalinspekteur der Bundeswehr berufen wurde und damit zum höchstrangigen deutschen Soldaten. Dieses Amt bekleidete Kujat bis 2002. Danach hatte er bis 2005 den Vorsitz des Militärausschusses der Nato inne. Harald Kujat wurde während seiner Laufbahn wiederholt an der Schnittstelle zwischen Militär und Politik eingesetzt.

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