Syrien

"Der Westen ist im Prinzip am Ende"

Eine Frau mit ihrem Kind im zerstörten Kobane (Syrien).
Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 wurden dort mehr als 240.000 Menschen getötet. © Sedat Suna, dpa picture-alliance
Johannes Varwick im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 29.09.2015
Der UNO-Sicherheitsrat soll einen Beschluss zu Syrien fassen, schlägt der russische Präsident Wladimir Putin vor. Das sei ein erster wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges, sagt der Politologe Johannes Varwick. "Ein Konsens im Sicherheitsrat ist Schlüsselvoraussetzung für eine Konfliktlösung".
Die westlichen Ansätze in Syrien seien alle "komplett gescheitert", so Johannes Varwick weiter. Der Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg findet:
"Der Westen ist im Prinzip am Ende in Syrien."
Er müsse sich mit Russlands Ansinnen anfreunden, dass der syrische Machthaber Assad weiter eine wichtige Rolle spiele: "Das ist schmutzig, das ist unappetitlich und vielleicht auch falsch. Aber es gibt da nicht richtig oder falsch, sondern es gibt nur schlechte und noch schlechtere Lösungen", sagte Varwick.
"Speed-Dating-Format für diplomatische Kontakte"
Wenn so viele Akteure wie jetzt bei der UNO-Generaldebatte miteinander redeten, sei die Chance größer, dass etwas Besseres als bisher in der Syrien-Frage herauskomme.
Die UNO biete ein Forum zum Verhandeln. So seien Treffen wie das zwischen US-Präsident Obama und seinem russischen Kollegen Putin sehr nützlich:
"Man könnte das auch als Speed-Dating-Format für diplomatische Kontakte bezeichnen."
Es gebe dazu keine bessere Alternative, zeigte sich Varwick überzeugt.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Seit gestern läuft sie wieder in New York, die Generaldebatte der Vereinten Nationen, und um die Frage, die dort auch im Mittelpunkt steht, nämlich die mit oder ohne Syriens Machthaber Assad, haben sich gestern nicht nur Obama und Putin ein Rededuell geliefert. Kann die UNO dabei helfen, solche komplexen, schwierigen Situationen wie den Krieg in Syrien zu lösen?
Darüber wollen wir heute sprechen und die Frage stellen, ob die Vereinten Nationen tatsächlich eine Art Weltregierung sind oder längst nur noch Nebendarsteller des Weltgeschehens. Und die Fragen richten sich an Johannes Varwick, er ist Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Uni Halle-Wittenberg und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Johannes Varwick: Einen schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Da hat man nun das Bild Putin und Obama – was bringen solche Treffen, sind das mehr als Showauftritte, um Bilder zu erzeugen, oder geht es da um wirklichen Dialog?
Varwick: Ich denke schon, es geht um einen Dialog, es geht um diplomatische Verhandlungen, und insbesondere geht es darum, dass man eine Gelegenheit schafft, dass man eine solche Debatte führen kann. Diese Treffen der UNO-Generalversammlung sind sicherlich ein bisschen ritualisiert, und die fünf Minuten, die die Staats- und Regierungschef da reden dürfen, die sind nicht das Entscheidende, aber man könnte das auch als Speed-Dating-Format für diplomatische Kontakte bezeichnen. Und wenn man das so sieht, dann ist das alles sehr, sehr nützlich, zumindest gibt es gar keine bessere Alternative dazu.
"Die UNO ist nicht als Weltregierung gegründet worden"
von Billerbeck: Nun wird ja derzeit heftig gestritten und auch öffentlich in der Generaldebatte der Vereinten Nationen um die Rolle, die man Syriens Machthaber Baschar al-Assad zubilligen oder absprechen will. Zum Beispiel heißt es: In den Vereinten Nationen geht es wieder darum, die Rolle als Weltregierung wahrzunehmen. Werden die Vereinten Nationen dieser Rolle vielleicht wieder mehr gerecht?
Varwick: Nein, das wäre völlig missverständlich, das wäre eine völlig falsche Erwartung an die Rolle der Vereinten Nationen. Die UNO ist nicht als Weltregierung gegründet worden, sie wird es auch nie werden, das kann nicht so sein. In der internationalen Politik handeln souveräne Staaten, und die wollen sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu tun und zu lassen haben. Aber die UNO kann ein Forum bereitstellen, wo man verhandelt, und im Übrigen ist die UNO ja auch mehr, als sich mit Krieg und Frieden zu beschäftigen, sondern sie hat ein riesiges Aufgabenspektrum.
193 Staaten arbeiten in ganz verschiedenen Politikbereichen zusammen. Das geht von der Welternährungsorganisation bis zum Umweltprogramm der Vereinten Nationen, also es gibt da ein riesiges Spektrum an Aufgaben. Und man darf das nicht nur an so Grundfragen wie Krieg und Frieden festmachen – da hat die UNO auch eine wichtige Rolle, aber da versagt sie regelmäßig –, aber die andere UNO gewissermaßen, die ist genauso wichtig, und die tut gute Arbeit und wir sind gut beraten, da nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu sagen, die UNO spielt in Syrien keine Rolle und deswegen ist sie wertlos. Nein, das ist sie nicht, sie kann eine ganze Menge in anderen Fragen erreichen.
von Billerbeck: Trotzdem, Sie sagen, gerade in solchen Dingen versagt die UNO regelmäßig. Hat sie denn überhaupt die Macht, die Mittel und die Möglichkeiten, eben solche komplexen Konflikte wie den Krieg in Syrien zu lösen oder bei der Lösung mitzuhelfen?
Varwick: Nein, das Grunddesign ist in der Frage ganz einfach: Es gibt einen Sicherheitsrat, in dem fünf Staaten ein Vetorecht haben, das sind Großbritannien, Frankreich, China, Russland und die USA, und wenn sich diese Staaten nicht einig sind, sprich, wenn einer ein Veto einlegen möchte oder damit droht, dann kann die gesamte UNO in diesen Fragen nicht handeln. Und das kann man jetzt schlecht finden und sagen, wir müssen doch dazu kommen, dass das Vetorecht abgeschafft wird oder Mehrheitsentscheidungen eingeführt werden oder solche Sachen, das geht aber wie gesagt an der Realität der internationalen Politik vorbei, weil natürlich dieses Vetorecht deshalb erfunden wurde, damit die wichtigen Staaten ihre Kerninteressen auf den Tisch legen können und nichts gegen diese Kerninteressen geht.
Und noch mal: Damit kommt man manchmal sehr weit, aber manchmal eben nicht sehr weit. Wenn es keinen Konsens gibt, kann die UNO nicht handeln. Das ist aber systemimmanent und das können nur diejenigen kritisieren, die nicht verstehen, wie die UNO arbeitet.
"Es gibt nur schlechte und noch schlechtere Lösungen"
von Billerbeck: Putin hat ja gestern in der UN vorgeschlagen, einen Beschluss im UN-Sicherheitsrat zu Syrien zu fassen, den haben Sie ja gerade erwähnt – wäre das der erste Schritt, dass man es schafft, eben diese fünf Mächte zusammenzubringen und vielleicht den Krieg in Syrien oder die Beendigung des Krieges in Syrien einen Schritt weiterzubringen?
Varwick: Ja, das wäre der erste wichtige Schritt. Die Staaten müssen einen Konsens finden, und da wird niemand seine Maximalinteressen durchsetzen können, das heißt, man braucht Kompromisse. Der Westen wird sich damit anfreunden müssen, dass Russland darauf besteht, dass Assad weiterhin eine Rolle spielt. Und das ist schmutzig, das ist unappetitlich und vielleicht auch falsch, aber es gibt da nicht falsch oder richtig, sondern es gibt nur schlechte und noch schlechtere Lösungen.
Und wenn es jetzt gelingen würde, dass durch die neue russische Initiative ein breiterer Konsens im Sicherheitsrat entstünde – ich hab da noch große Fragezeichen und ich glaube kaum, dass das erreichbar ist, aber man muss es versuchen –, und wenn es gelingen würde, dann wären bessere Chancen, diesen Konflikt in Syrien zu lösen. Dann müsste man natürlich immer noch andere wichtige Staaten einbinden – Saudi-Arabien, Iran und andere mehr in der Region –, aber der Konsens im Sicherheitsrat wäre Schlüsselvoraussetzung für eine Konfliktlösung.
Der Westen hat keine besseren Antworten als Putin
von Billerbeck: Nun hat ja gestern Barack Obama Assad einen Tyrannen genannt und hat gesagt, langfristig werde man mit ihm nicht zusammenarbeiten – war das schon die Hintertür, dass also dieses Wörtchen langfristig da drin war, dass man sagt, also kurzfristig vielleicht doch?
Varwick: Ich denke schon, dass das eine Hintertür sein könnte, weil wir müssen ja sehen, dass die westlichen Ansätze in Syrien alle komplett gescheitert sind. Das heißt, das, was Russland jetzt vorschlägt, das mag man schlecht finden und mag man auch als sehr, sehr einseitig interessengeleitet verstehen und das ist es auch, aber der Westen hat auch keine besseren Antworten.
Es gibt seit vier Jahren einen schrecklichen Krieg, der die ganze internationale Politik inzwischen berührt – Flüchtlingsströme, Radikalisierung, Islamischer Staat und anderes mehr –, das heißt, der Westen ist im Prinzip am Ende in Syrien und jetzt müssen neue Initiativen und Vorschläge auf den Tisch. Und es ist gut, dass jetzt auf der Generalversammlung dieses Thema im Mittelpunkt steht, weil wenn so viele Akteure jetzt ihre Energie darauf verwenden und einfach wieder miteinander reden und verhandeln, dann ist die Chance, dass was Besseres rauskommt, sehr viel größer, als das vorher noch war. Insofern gibt es schon ein bisschen Anlass für Optimismus.
von Billerbeck: Und der Optimismus bezieht sich auch auf die Rolle der UN oder des UN-Sicherheitsrats?
Varwick: Ich denke schon, dass die UNO auch in Syrien eine Rolle spielen werden müssen, weil es wird irgendwann eine Absicherung geben müssen für einen dann erreichten Waffenstillstand oder eine politische Lösung, und da wird es auch um Bodentruppen gehen. Das werden nicht einzelne Staaten alleine machen und das wird bestimmt auch nicht die NATO dort machen können, weil sie einfach da nicht akzeptiert wird, und die Russen alleine werden das auch nicht machen können.
Das heißt, ich erwarte, dass es früher oder später, wenn eine politische Lösung entstanden ist, dass es dann auch darum geht, dass man das mit UN-Friedenstruppen absichert. Und daran zeigt sich, dass es wichtig ist, dass man ein solches Instrumentarium in der Hinterhand hat. Es wird nicht immer angewendet und manchmal scheitert es auch, aber wir haben es in der Hinterhand und können dann die Mechanismen und Verfahren wirksam einsetzen, die die UNO vorsieht. Und eines Tages wird es wieder so weit sein, denke ich.
von Billerbeck: Einschätzungen des Hallenser Politologen Johannes Varwick von der Uni Halle-Wittenberg. Ich danke Ihnen!
Varwick: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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