"Syrer sollten ihre verfolgten Verwandten nach Deutschland holen können"

Moderation: Patrick Garber und Michael Groth · 22.12.2012
Er habe in seinen Abgeordneten-Sprechstunden in Münster viele Syrer kennengelernt, die Verwandte nach Deutschland holen möchten. Das sei derzeit aber nicht möglich, obwohl die Familien für ihre geflüchteten Verwandten sorgen würden, sagt Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Polenz, wir wollen mit Ihnen eine außenpolitische Bilanz des vergangenen Jahres ziehen. Was hat Sie unter deutschem Blickwinkel besonders erfreut? Was macht Ihnen heute am Ende des Jahres die größten Sorgen?

Ruprecht Polenz: Ich fange mal mit den Sorgen an. Die sind natürlich beim Blick in den Nahen Osten, vor allen Dingen auf Syrien, täglich wachsend. Die Flüchtlingszahlen nehmen zu und wir stehen vor der Frage: Wie verhält sich Europa auf Sicht? Denn es ist kein Ende absehbar.

Und die besonderen Freuden? Ich habe wahrscheinlich zu den Deutschen gehört, die sich über den erneuten Wahlsieg von Obama gefreut haben, und hoffe, dass er in seiner zweiten Amtszeit außenpolitisch mehr von dem umsetzen kann, was er sich in der ersten Amtszeit vorgenommen hat.

Deutschlandradio Kultur: Etwas anderes ist uns ganz neu vorgekommen in 2012. Wir können uns jedenfalls nicht daran erinnern, dass es in den letzten Jahrzehnten so viele antideutsche Demonstrationen gegeben hat wie in diesem Jahr, vor allem in südeuropäischen Ländern. Ist das ein Zeichen unseres wachsenden internationalen Gewichts, dass wir manchmal eben auch als "ugly Germans" angesehen werden?

Ruprecht Polenz: Das ist, glaube ich, in diesem speziellen Fall eher ein Ergebnis des innenpolitischen Klimas in diesen Ländern, wo die Regierungen jetzt endlich die notwendigen Haushaltskonsolidierungs- und Sparmaßnahmen durchführen. Die sind natürlich bei den Menschen nicht beliebt. Und als Grund dafür, dass das jetzt endlich gemacht wird, wird auf Deutschland verwiesen, weil wir sagen, wir wollen helfen, aber wir können diese Hilfe nicht in ein Fass ohne Boden geben, sondern es muss im Ergebnis auch so sein, dass die Hilfe eine Hilfe zur Selbsthilfe ist und ihr eure Haushalte konsolidiert.

Deutschlandradio Kultur: Unmut macht sich gegen die deutsche Politik in der Eurokrise ja nicht nur auf der Straße breit. Auch auf Regierungsebenen knirscht es, sogar zwischen Berlin und Paris. Wie ernsthaft sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Frankreich?

Ruprecht Polenz: Dass Deutschland und Frankreich der Motor für die Europäische Union sind, liegt ja auch sonst nicht daran, dass es beide große Länder sind und beide in der Mitte Europas liegen. Das ist zwar wichtig, aber der Kern ist eigentlich auch immer gewesen, dass wir so verschieden sind – Frankreich mehr zentralistisch organisiert, Deutschland föderal, Frankreich ein anderes Verständnis von der Rolle des Staates in der Marktwirtschaft als wir und so weiter – so, dass eigentlich diese Verschiedenheit in den Auffassungen immer da gewesen ist.

Aber es war eben auch immer da die Fähigkeit, sich zu einigen. Dass das im Augenblick mit einer sozialistischen Regierung in Frankreich und einer christlich-liberalen Regierung in Berlin etwas schwerer wird, dass man sich auch noch etwas aneinander gewöhnen muss, finde ich, liegt auch in der Natur der Sache. Aber auch dafür gibt es Beispiele in der Vergangenheit, dass das klappt. Und ich bin auch zuversichtlich, das wird auch jetzt der Fall sein.

Deutschlandradio Kultur: War es denn vielleicht nicht ganz klug von Frau Merkel, vor der Wahl in Frankreich so stark auf Sarkozy zu setzen?

Ruprecht Polenz: Nun, das ist ein Ergebnis eines enger werdenden Europas, dass die Frage, aus welchem Land kommt jemand, hinter die Frage immer mehr zurücktritt, zu welcher politischen Richtung gehört man. Sie sehen das ja auch schon bei Abstimmungen im Europäischen Parlament, wo längst nicht mehr so stark nach der Frage abgestimmt wird, aus welchem Land komme ich, sondern bin ich Sozialist, bin ich Liberaler, gehöre ich der Europäischen Volkspartei an.

Deutschlandradio Kultur: Aber ist das Bild vom deutsch-französischen Motor, das Sie gerade benutzt haben, nicht sowieso schon ein bisschen überholt, wenn man bedenkt, dass die EU immer mehr zerfleddert in verschiedene Grüppchen – die Euro-Staaten, die Nicht-Euro-Staaten, Schengenland und der Rest von Europa, Europa Nord, Europa Süd?

Ruprecht Polenz: Es ist sicherlich so, dass schon nach der großen Erweiterung im Jahre 2004 klar war, dass dieser Grundsatz, wenn sich Deutschland und Frankreich auf etwas geeinigt haben, dann ist wegen der Verschiedenheit der beiden Länder das eine gute Grundlage für die anderen, die einen, die mehr Deutschland zuneigen, die anderen, die mehr dem französischen Verständnis zuneigen – das als Basis für einen endgültigen Kompromiss zu sehen, den man dann nur noch ein bisschen verändern muss, dann kann man zustimmen, das hat nach der großen Osterweiterung schon nicht mehr ganz ausgereicht.

Deshalb ist es so wichtig, dass etwa das Weimarer Dreieck mit Deutschland, Frankreich und Polen diese Aufgabe übernimmt. Und was jetzt die verschiedenen Geschwindigkeiten angeht, Schengenraum, Euro-Raum, das gehört zur europäischen Entwicklung, ist in dem Lissabon-Vertrag jetzt ja auch grundgelegt als eine Möglichkeit der Weiterentwicklung. Man kann vorangehen mit der Zustimmung der anderen, wenn es offen bleibt für die anderen, später dazuzustoßen. Und das ist bei Schengen so. Das ist beim Euro so. Und das wird auch bei den anderen Vertiefungsinitiativen so sein.

Also, die Europäische Union wird Zonen verschieden tiefer Integration haben, hatte sie ja auch bisher schon.

Deutschlandradio Kultur: Ein anderes Sorgenkind haben wir noch nicht mit Namen erwähnt. Ich spreche von Großbritannien. Wie lange bleiben die noch dabei?

Ruprecht Polenz: Ich hoffe, auf Dauer, aber ich bin mir nicht sicher, muss ich ehrlich sagen, weil in Großbritannien kontinuierlich ein europakritisches, europaskeptisches Klima herrscht und die Regierungen zu wenig getan haben, dagegen anzugehen. Die tatsächlichen Fakten der Abhängigkeit Großbritanniens von Europa, wie sehr Großbritannien von der Integration in den europäischen Binnenmarkt profitiert, das ist auf der Insel nicht in gleicher Weise präsent, wie vielleicht in manchen Ländern auf dem Kontinent, wie die Briten ja selber auch sagen.

Speziell die Konservative Partei hat sich jetzt in eine Lage manövriert, wo sie wohl kaum noch an einem Referendum vorbeikommt. Und wie Referenden ausgehen, das ist sehr schwer vorhersehbar.

Deutschlandradio Kultur: Kann denn eine EU in diesem Zustand, wie wir ihn jetzt gerade besprochen haben, noch ernsthaft bereit sein, auf Sicht weitere Mitglieder aufzunehmen? Auf dem Balkan stehen ja einige bereit, Kroatien zum Beispiel.

Ruprecht Polenz: Ich habe gerade im letzten Jahr sehr viele Delegationen aus dem Westbalkan in Berlin begrüßen dürfen, und eins ist mir dabei sehr deutlich geworden: Wenn das Versprechen, das die Europäische Union 2003 in Tessaloniki gegeben hat im Stabilitätspakt für den Balkan, nämlich, ihr alle könnt Mitglied der Europäischen Union werden, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt, wenn ihr euch vertragt, wenn ihr euch versöhnt, wenn ihr die regionale Zusammenarbeit stärkt und die Beitrittskriterien erfüllt, wenn wir dieses Versprechen infrage stellen würden, würde der Balkan zurückfallen in alte Zersplitterungen, in eine stärkere Nationalisierung.

Und natürlich würde dann nicht mehr die Europäische Union einen maßgebenden Einfluss in dieser schwierigen Region haben, sondern es wären andere Player: Es wäre Russland, es wäre möglicherweise die Türkei. Also, es würde sehr, sehr viel schwieriger. Ich kann nur davor warnen, dieses Versprechen infrage zu stellen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs Syrien als Ihre größte Sorge bezeichnet. Sie haben gesagt, Sie fürchten, das dauert noch. Worauf bezog sich das, auf Baschar al-Assad? Also, bleibt der noch lange, muss er noch lange ertragen werden? Oder bezog sich das auf das, was wir ja alle nicht wissen, nämlich: Wie ist die Lage, wenn Assad erstmal weg ist?

Ruprecht Polenz: Zunächst einmal stehe ich durchaus noch unter dem Eindruck eines Gesprächs mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der vor wenigen Wochen mir gesagt hat, damals gab es etwa 350.000 Flüchtlinge außerhalb des Landes in Nachbarländern, dass sich die Zahl bis zum Jahresende auf 700.000 erhöhen würde. Und das, was wir seit der Zeit gesehen haben, bestätigt diese Befürchtung.

Die Nachrichten aus Syrien sind ja nach wie vor nicht ermutigend. Und selbst wenn ein Prozess beginnt, der wenigstens die Gewaltanwendung reduziert, sie vielleicht stoppen kann, dass man zu einer Waffenruhe käme, wird es eine lange, lange Zeit dauern, bis Syrien ein stabiles Land geworden ist. Also, da sind ganz viele Fragezeichen. Und in der Zwischenzeit wird man mit den Menschen, die Syrien verlassen haben, irgendwie umgehen müssen.

Deutschland gehört zu den größten Geberländern. Das finde ich gut. Wir helfen Jordanien, wir helfen dem Libanon, wir wollen auch der Türkei helfen, die bisher gesagt hat, wir können das eigentlich alleine bewältigen, dass sie mit den großen Flüchtlingszahlen, es sind jeweils über 100.000 in diesen drei Ländern, zurechtkommen. Aber das wird wahrscheinlich nicht ausreichen.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das auch, syrische Flüchtlinge dann in der Konsequenz auch in Deutschland aufzunehmen?

Ruprecht Polenz: Ich habe aus meiner ganz normalen Praxis als Abgeordneter in meinen regelmäßigen Sprechstunden hier in Münster inzwischen eine ganze Reihe Syrer kennengelernt, die zu mir in die Sprechstunde gekommen sind und gesagt haben: Mein Vater, meine Eltern, meine Geschwister haben sich in die Türkei oder nach Jordanien in Sicherheit bringen können. Kann ich die nicht nach Deutschland holen? Ich bin hier Arzt. Ich bin hier Anwalt. Die Wohnung ist groß genug, wir können für sie sorgen. – Und ich hab mich dann erkundigt und bin leider mit der Antwort konfrontiert worden, dass das bisher nicht geht. Also, bisher erlauben wir diese Möglichkeit nicht.

Und ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir das ändern. Es leben in Deutschland etwa 50.000 Syrer. Und ich denke, eine ganze Reihe von denen hat ähnliche Absichten, würde Ähnliches tun. Und das wäre dann schon eine Linderung für die Flüchtlingsproblematik, sicherlich keine Komplettlösung, aber das wäre ein Beitrag, den Deutschland leisten könnte. Vor allen Dingen hätte es den Vorteil, dass man sich in Deutschland dann um diese Menschen gleich sehr eng kümmern würde. Wir hätten keine Sprachprobleme beispielsweise.

Deutschlandradio Kultur: Wie es in Syrien weitergeht, wissen wir nicht. Das hängt an vielen Faktoren, auch an Akteuren, die von außen Einfluss nehmen, zum Beispiel Saudi-Arabien, zum Beispiel Katar. Die unterstützen vor allem islamistische Gruppen, wie die Muslimbrüder oder Salafisten, und das nicht nur in Syrien. Mündet das, was mal als Arabischer Frühling begonnen hat, in den Vormarsch einer besonders konservativen Spielart des Islam – von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien oder weiter?

Ruprecht Polenz: Also, wenn wir uns jetzt die ganze Region anschauen von Marokko bis in die Golfregion, dann empfehle ich, dass wir uns wirklich jedes Land sehr genau für sich anschauen. Die Entwicklungen sind durchaus unterschiedlich.

In Tunesien, denke ich, ist die Revolution am weitesten gekommen. Und die Auseinandersetzung zwischen den säkularen Kräften mit islamischen Parteien, aber auch unter den islamischen Gruppierungen – etwa zwischen Moslembrüdern und Salafisten –, zeigt, dass sich das Spektrum ausdifferenziert. Natürlich gibt es in revolutionären Situationen, und das ist das, was wir in der Region erleben, keine gradlinige Entwicklung. Es gibt Rückschläge. Aber ich wäre vorsichtig, hier voreilige Schlüsse zu ziehen. Ich finde immer noch die Anekdote von einem chinesischen Diplomaten der schön, der gefragt wurde: Wie beurteilen Sie eigentlich die Auswirkungen der Französischen Revolution? Da hat der gesagt: Das ist viel zu früh, das zu sagen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Polenz, in Israel beziehungsweise in den besetzten Gebieten sollen weitere jüdische Siedlungen gebaut werden, im Westjordanland zum Beispiel. Kann man das anders bezeichnen als einen Anschlag auf die Zweistaatenlösung?

Ruprecht Polenz: Das Besondere an den jetzigen Siedlungsplänen ist ja, dass rund um Jerusalem gesiedelt werden soll und dass dadurch einerseits Ost-Jerusalem immer stärker von der Westbank abgeschnitten wird, rein räumlich, durch israelische Siedlungen, und dass auch die Westbank in Nord- und Südhälfte immer mehr geteilt wird, so dass also ein lebensfähiger palästinensischer Staat immer schwerer vorstellbar ist.

Und ein palästinensischer Staat, ohne dass ein Teil von Jerusalem auch als Hauptstadt dieses Staates fungieren kann, der wird die Zustimmung der Palästinenser nicht bekommen. Insofern fürchte ich auch, dass es die Regierung Netanjahu-Lieberman sein könnte, die das Ende einer möglichen Zweistaatenlösung einläutet – Haus für Haus sozusagen. Das wäre aus meiner Sicht tragisch.

Denn dann wäre ein Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan das, was dann entsteht. Aber das wäre ein binationaler Staat. Und das ist nicht das, was sich die Israelis vorgestellt haben. Die Israelis wollten, das ist der große Traum, ein demokratischer jüdischer Staat sein. Aber in einem binationalen Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan könnten sie eben entweder demokratisch sein oder aber aus demographischen Gründen dann nicht mehr ein jüdischer Staat. Das ist das Dilemma. Deshalb finde ich die Politik, die Netanjahu-Lieberman hier mit der fortgesetzten verschärften Siedlungspolitik betreiben, tragisch für Israel.

Deutschlandradio Kultur: Angesichts dieser Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung, wie Sie sie charakterisiert haben, ist es da hilfreich, dass die Kanzlerin gerade wieder betont hat, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsraison?

Ruprecht Polenz: Ich glaube, man muss hier sehr genau differenzieren. Selbstverständlich – und da würde ich mich auch voll dazu zählen – ist die jetzige Bundesregierung wie alle Vorgängerregierungen in dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht neutral. Wir stehen an der Seite Israels und wir setzen uns für das Existenzrecht Israels ein und dafür, dass Israel in gesicherten Grenzen und in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann.

Aber der Weg dafür, den sehen wir mit der internationalen Staatengemeinschaft, mit den USA, mit Russland, mit der Europäischen Union, mit den Vereinten Nationen in einer Zweistaatenlösung. Deshalb kritisiert die Kanzlerin ja im gleichen Atemzug – sehr scharf inzwischen – auch die israelische Siedlungspolitik.

Deutschlandradio Kultur: Nun hat sich Deutschland in einer Abstimmung der Vereinten Nationen enthalten, bei der es um eine internationale Aufwertung der Palästinenser ging. Man hätte ja auch nein sagen können, wie die USA zum Beispiel.

Ruprecht Polenz: Ja, aber Deutschland hatte sich am Anfang dieses Abstimmungsprozederes sehr für eine gemeinsame Stimmabgabe der Europäischen Union eingesetzt. Das konnte nach Lage der Dinge nur eine Enthaltung sein. Warum? Zum einen war in der Tat der Zeitpunkt für den Vorstoß nicht besonders glücklich gewählt. In Israel ist Wahlkampf. Und in Amerika wird die neue Regierung gerade gebildet.

Auf der anderen Seite steht aber in dem von den Palästinensern eingebrachten Resolutionstext die Anerkennung Israels drin, der Wunsch zu verhandeln. Und die offenen Fragen, über die verhandelt werden soll, sind dort benannt. Also, im Grunde ist ein wichtiger Teil des Inhalts der Resolution, die die Palästinenser eingebracht haben, exakt das, was wir wollen. Deshalb kann man da nicht dagegen stimmen.

Deutschlandradio Kultur: Aber die gemeinsame europäische Linie kam ja auch nicht zustande. Frankreich hat ja mit Ja gestimmt.

Ruprecht Polenz: Leider ist Frankreich kurz vor der Abstimmung ausgeschert. Es wäre für das europäische Gewicht sicherlich besser gewesen, man hätte sich gemeinsam, alle EU-Mitglieder, bei der Abstimmung enthalten. Aber es wäre deshalb trotzdem nicht richtig gewesen, weil Frankreich jetzt Ja sagt, dass Deutschland dann Nein sagt, um da quasi wieder ein Gegengewicht herzustellen. Sondern ich finde, Deutschland hat aus guten Gründen, auch aus inhaltlichen Gründen, begründet sich enthalten.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben schon darüber gesprochen, Sie haben es schon angedeutet: Wir haben den alten, neuen US-Präsidenten Obama im Amt bestätigt. Erwarten Sie, dass die USA sich nun noch mehr dem Pazifik zuwenden wird? Dort gibt es ja nicht nur aufstrebende Wirtschaftsmächte, sondern auch einiges an Konfliktpotenzial – Stichwort Nordkorea, Stichwort die chinesischen Ansprüche im Süd- und Ostchinesischen Meer.

Ruprecht Polenz: Die USA haben sich immer auch als pazifische Macht verstanden. Wenn Sie sich die Lage in Südostasien anschauen, dann ist es auch dringend erforderlich, dass sich die USA dieser Region zuwenden. Denn die ganzen Sicherheitsstrukturen, die wir im nordatlantischen Raum generell, aber besonders eben in Europa in den letzten 60 Jahren geschaffen haben, die fehlen in Asien nahezu völlig.

Sie erinnern sich alle an die durchaus dramatischen Bilder der Fischerboote vor dieser einen umstrittenen Insel im Südchinesischen Meer – Japaner, Taiwanesen und chinesische Boote. Wenn da auch nur aus Zufall die Schiffe sich gerammt hätten, es gibt dort kein rotes Telefon zwischen diesen Hauptstädten und Ländern, wo man sich dann schnell verständigen kann, war das jetzt Absicht, war das Versehen, kann das schlimmer werden – also, alle solche Strukturen fehlen.

Auf der anderen Seite haben wir, auch wegen fehlender Sicherheitsstrukturen, durchaus Wettrüsten in der Region. Neue große Mächte wie die Chinesen, wie die Inder, suchen ihre Positionen abzustecken. Und eigentlich alle erwarten von den Amerikanern, dass sie sich in der Region engagieren. – Übrigens wird das von den asiatischen Staaten auch von Europa erwartet, wenn man sich auch von uns jetzt kein militärisches Gewicht in der Region verspricht.

Deutschlandradio Kultur: Obama war während seiner ersten Amtszeit nicht einmal in Berlin. Und Europa, gerade die Deutschen, sind ja auch mit sich selbst beschäftigt – Stichwort Griechenland, Schuldenkrise. So rum gefragt: Wird der transatlantische Graben nicht doch etwas tiefer? Rückt Europa zurück in der amerikanischen Weltkarte?

Ruprecht Polenz: Nein, das glaube ich nicht. Denn wenn Sie sich Grafiken anschauen, die die Welthandelsströme zeigen, dann wird das ja mit so Balkendiagrammen von Kontinent zu Kontinent verdeutlicht, wie intensiv die Handelsströme sind. Und da sind nach wie vor die dicksten Balken über den Atlantik. Die Balken Richtung Asien nehmen zu. Und relativ schwache Balken verbinden Lateinamerika und noch schwächer den afrikanischen Kontinent mit der globalen Wirtschaft.

Also, die transatlantischen Beziehungen bleiben wichtig, aber ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Wir sollten selber auch etwas dazu tun, um das weiter zu intensivieren. Deshalb finde ich die Vorschläge einer transatlantischen Freihandelszone so bedeutsam. Sie würden beiden Wirtschaften, sowohl auf dem nordamerikanischen Kontinent wie in Europa, einen großen Wachstumsimpuls geben und würden helfen, jetzt auch wirtschaftlich enger zusammenzuwachsen.

Deutschlandradio Kultur: Einer der Balken, der immer dicker wird, ist der bei dem Handel zwischen Deutschland und China. Ist die Bundesregierung da auf dem richtigen Weg – Pflege der Wirtschaftsbeziehungen nach Leibeskräften, auch wenn es bei der Wahrung der Menschenrechte in China doch offensichtlich hapert?

Ruprecht Polenz: Der chinesische Markt ist für alle wichtig. China ist eine wachsende Volkswirtschaft, zwar mit großen inneren Problemen nach wie vor, nicht zuletzt auch bei der Lage der Menschenrechte, aber die große Aufgabe, vor der wir doch alle stehen, ist: Wie wird ein so großes Land, was sich ja unter Mao Tse-tung – Stichwort Kulturrevolution – von der Welt quasi abgekapselt hatte, wie wird es friedlich in die Weltwirtschaft, in die Geflechte dieser Welt integriert?

Und das geht nur durch Engagement und nicht durch Ausgrenzung. Und auf diesem Wege sind wir.

Aber ich stimme Ihnen zu. Wir müssen auch immer wieder die Dinge ansprechen, die uns Sorge bereiten. Und das erfolgt aber auch mit den Chinesen. Die Bundeskanzlerin hat sich bei allen Besuchen in China auch mit Gruppen getroffen, etwa Umweltgruppen, Menschenrechtsgruppen, um dieses Signal zu geben.

Deutschlandradio Kultur: Deutschland ist bereit, sich unter einem entsprechenden UN-Mandat an einem Militäreinsatz in Mali zu beteiligen. Herr Polenz, was haben wir dort zu suchen?

Ruprecht Polenz: Mali ist ein schwieriges Land geworden durch den Putsch und durch die faktische Teilung, die wir dort sehen. Frankreich und andere, die sich dort sicherlich zunächst einmal besser auskennen als wir, haben die große Sorge, dass sich der Norden Malis zu einem zweiten Somalia entwickelt als Rückzugsraum für organisierte Kriminalität, aber eben auch für internationalen Terrorismus.

Deshalb beteiligen wir uns an Überlegungen, wie dem entgegengewirkt werden kann, zusammen mit den Afrikanern, mit den westafrikanischen Staaten, und mit der Europäischen Union. Es ist nicht so, dass Deutschland jetzt da irgendetwas alleine vor hätte. Aber es wäre eben auch falsch, wenn Deutschland sagen würde, uns interessiert das alles überhaupt nicht. Denn es kann sich bei einer Destabilisierung von Mali auf Dauer dort ein Krisenherd entwickeln, der große negative Ausstrahlungswirkung hätte auf Nordafrika und darüber hinaus.

Deutschlandradio Kultur: Wir sind also auf immer mehr Schauplätzen der Welt präsent. Und der ehemaligen Bundespräsident Köhler hat kurz vor seinem Ausscheiden 2010 – übrigens in Deutschlandradio Kultur – gesagt, ich zitiere: "Ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit muss wissen, dass im Zweifel im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren." – Hatte er damit Recht?

Ruprecht Polenz: Er hat insofern damit Recht, als in der globalisierten Welt Krisen sehr schnell eine Ausstrahlung entwickeln, weit über den engeren Raum ihres Entstehens hinaus. Und da wir keine Weltpolizei haben, sondern selber, mit einem Mandat etwa der Vereinten Nationen, für Sicherheit sorgen müssen, kann Deutschland nicht nur Konsument internationaler Sicherheit sein, sondern wir müssen auch für die Produktion internationaler Sicherheit uns zuständig fühlen.

Und als großes Land sind wir da natürlich auch gefordert, unsere Beiträge zu leisten. Wir können nicht sagen, also, für Europa agiert mal Malta und Luxemburg und wir anderen schauen zu.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns zum Schluss vielleicht über den Stellenwert der Außenpolitik hierzulande reden. Führen wir überhaupt in Deutschland eine strategische Debatte? Oder ist das alles ein Elitenthema?

Ruprecht Polenz: Ich würde mir schon wünschen, dass außenpolitische Diskussionen aus den Fachkonferenzen und den Leitartikeln der überregionalen Zeitungen und mancher Magazinsendungen in den elektronischen Medien eine größere Breitenwirkung entfalten. Auf der anderen Seite ist es so, und darüber können wir dann auch froh sein, dass die Menschen sich erst dann in der Breite mit Außenpolitik beschäftigen, wenn sie wirklich das Gefühl haben, sie seien unmittelbar davon betroffen.

Also, ein Beispiel: In Israel können Sie in kein Restaurant gehen, ohne – wenn Sie anfangen über Politik zu reden – ganz schnell bei der Außenpolitik zu sein, einfach, weil die Bedrohungslage eine andere ist.

Das ist in Europa glücklicherweise nicht so. Trotzdem brauchen wir natürlich für unsere verantwortungsvolle Rolle in der Welt auch das Verständnis und die Rückendeckung der Bevölkerung. Und dafür werben die aktiven Außenpolitiker. Und da erhoffen wir uns natürlich Aufmerksamkeit und Resonanz.

Deutschlandradio Kultur: Herr Polenz, ein Jahreswechsel ist Anlass nicht nur für Bilanzen, sondern auch für den Ausblick in die Zukunft. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie mit uns in einem Jahr die ersten außenpolitischen Schritte einer schwarz-grünen Bundesregierung besprechen?

Ruprecht Polenz: Die Bundestagswahl ist im September. Die Buchmacher nehmen Wetten entgegen. Ich will mal so sagen: Ich kann mir in jedem Falle sehr gut vorstellen, dass die nächste Bundeskanzlerin wieder Angela Merkel heißt.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.