Sympathische Verlierer

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 02.12.2005
Ödön von Horváths erster Roman "36 Stunden" spielt im Sommer 1928 in München. Die Geschichte von der arbeitslosen Näherin Agnes Pollinger und dem Kellner Eugen Reithofer ist ein Spiegel der zwanziger Jahre mit ihrem neuen Lebensgefühl, das von Technik, Sport, politischer Dauerkrise und illusionsloser Erotik geprägt wurde. Ulrich Tukur hat Horváths kleinen Roman als Hörbuch gesprochen.
Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Brechts Dreigroschen-Motto gilt auch für Ödön von Horvaths zur gleichen Zeit entstandenen Roman "Sechsunddreißig Stunden - Die Geschichte vom Fräulein Pollinger". Auch wenn Horvath ihn nie publizierte, sondern bloß als Steinbruch für den nachfolgenden "ewigen Spießer" nutzte - er gehört zum Besten, was der Dramatiker in Prosa geschrieben hat.

Zwei attraktive Arbeitslose sind die Hauptfiguren der im Sommer 1928 spielenden Geschichte: die "gut gebaute" achtzehnjährige Näherin Agnes Pollinger aus der Münchner Schellingstraße und der gebürtige Österreicher Eugen Reithofer, ein Kellner und notorischer Frauenheld. Man begegnet sich zeitgemäß vor dem Arbeitsamt und kommt sich rasch näher. Aus der Verabredung am nächsten Tag wird jedoch nichts.

Agnes versetzt Eugen ziemlich skrupellos zugunsten des Eishockeystars Harry Priegler. Den hat sie am Nachmittag im Atelier eines wichtigtuerischen Künstlers kennen gelernt, wo sie für zwanzig Pfennig nackt Modell steht. Harrys Sportwagen gibt den Ausschlag. Es folgt ein flotter Ausflug an den Starnberger See; auf dem Rückweg fällt der fiese Playboy über Agnes her, findet aber, dass sie es an Hingabe fehlen lasse. Wozu hat er ihr ein Schnitzel mit Gurkensalat spendiert? Kurz entschlossen braust Harry ohne sie ab.

Sieben Stunden marschiert Agnes nun durch die Nacht, und dann passiert ein kleines Wunder. Als sie mit kaputten Schuhen in der Schellingstraße eintrifft, wartet Eugen dort nämlich schon auf sie:

"Doch er fragte sie nicht, woher sie komme, was sie getan und warum sie ihr Wort gebrochen und ihn versetzt hätte. Sondern er teilte ihr lediglich mit, dass er für sie eine Stelle fand. (...) Sie starrte ihn an und sagte, er solle sich doch eine andere Agnes aussuchen für seine blöden Witze, und sie bitte sich diese Frotzelei aus und überhaupt diesen ganzen Hohn. (...) Das Mistvieh murmelte noch etwas von Rohheit und dann weinte es. (...) Das könne es ja gar nicht geben, dass ihr ein Mensch eine Stelle verschafft, nachdem sie den Menschen versetzt hatte.
"Wissens, Fräulein Pollinger", meinte der Herr Reithofer, "es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraus, was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört, und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiß, wo ein Mensch wohnt." "

So triumphiert am Ende aller Gemeinheiten auf mehr als einer halben Seite die Selbstlosigkeit. "Sechsunddreißig Stunden" bietet nicht nur viel Geschlechterkampf (der Horvath immer mehr als der Klassenkampf interessierte), sondern auch ein beeindruckendes Panorama der zwanziger Jahre, in denen Technik und Sport ein neues Lebensgefühl schufen. Wie in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" ist der Weltkrieg und das nachfolgende Elend noch in allen Biographien präsent.

Ulrich Tukur ist der ideale Vorleser dieses Buches: Seine helle, etwas angeraute Stimme hält den lakonischen Grundton, lässt zwischendrin aber auch die Gefühle aufwallen. Unvermittelt bricht dann der Dialekt durch, Süddeutsches, Wienerisches.

Vor allem trifft Tukurs Mischung aus Biss und Schlaksigkeit Horvaths Entlarvungspsychologie, die in der Darstellung der Figuren jederzeit mit niederen Beweggründen aufwartet. Oft bringt Horvath die "wahren" Motive durch komische Verschiebungen der Logik zum Ausdruck. Da heißt es über einen der von Agnes verlassenen Männer, einen Musiker:

"Er schrieb ihr dann einen Brief, nun werde er sich vergiften, denn ohne ihr Mitleid könne er nicht leben, da sie so angenehm gebaut wäre. Aber er vergiftete sich nicht, sondern lauerte ihr auf der Straße auf und hätte sie geohrfeigt, hätte sie nicht der Brunner Karl aus der Schellingstraße beschützt, indem dass er dem Virtuosen das Cello in den Bauch rannte. Da begann ihre Liebe zu Brunner Karl. Eine richtige Liebe mit fürchterlicher Angst vor einem etwaigen Kinde."

Hier wie an vielen anderen Stellen betont Tukur - gegen die gewohnte Sprachmelodie - die Satzenden. Eine sehr effektvolle Manier, die zugleich nach Lässigkeit, Überdruss und Trotz klingt.

Horvaths "Volkstümlichkeit" ist das Gegenteil einer verlogenen Idealisierung der "kleinen Leute": Nähe zu den allzumenschlichen Motiven und zur Triebstruktur. Und Sympathie mit Verliererschicksalen. So bekommt der modische Zynismus der Neuen Sachlichkeit etwas geradezu Schlawinerhaftes:

"Seine zweite Liebe war das Wirtshausmensch in seinem Heimatdorf fern in Niederösterreich, nahe der ungarischen Grenze. Sein Vater war Lehrer, er war das neunte Kind und damals fünfzehn Jahre alt, und das Wirtshausmensch gab ihm das Ehrenwort, dass er es um acht Uhr abends in den Maisfeldern treffen wird. Und dass es nur zwei Kronen kostet. Aber als er hinkam stand ein Husar bei ihr und wollte ihn ohrfeigen. Vieles ist damals in seiner Seele zusammengebrochen und erst später hat er erfahren, dass das seiner Seele nichts geschadet hat."

Der Roman wurde für die Lesung um einige schwächere Passagen gekürzt. So bekommt die Geschichte der beiden Hauptfiguren dramatische Qualität. Agnes Pollinger, Opfer männlicher Gier und Anmaßung und selbst doch alles andere als ein Unschuldslamm, ist vielleicht die gelungenste Figur in Horvaths erzählerischem Werk. Und diese Doppel-CD nicht nur etwas zum Hören, sondern zum Wiederhören.


Ödön von Horváth: "36 Stunden. Die Geschichte vom Fräulein Pollinger"
Gelesen von Ulrich Tukur.
2 CDs, Tacheles/Roof Music, 2005,
118 Minuten, 22,90 Euro