Survival of the fittest

Von Gesine Dornblüth · 07.11.2011
Junge Leute ohne Aufenthaltsgenehmigung bestechen Ärzte - sonst werden sie nicht behandelt. 70-Jährige, deren Rente nicht ausreicht, arbeiten einfach weiter. Wer in der russischen Hauptstadt überleben will, braucht Ellenbogen.
Ein Selbstbedienungsrestaurant in einem Moskauer Außenbezirk. Es ist Mittagszeit. Köche mit weißen Hauben geben Salate, Suppen, Fleischgerichte aus. Die Töpfe dampfen. Die Kassiererin überreicht jedem Kunden mit dem Kassenzettel einen Sahnebonbon. An einem der Tische trinkt Leonid Sergewitsch ein Glas Saft. Seine Brille sitzt etwas schief auf der Nase. Er geht oft hier Mittagessen, denn er hat wenig Zeit.

"Vormittags unterrichte ich am Institut. Nachmittags gebe ich Nachhilfestunden für Schüler und Studenten."

Leonid Sergejewitsch ist siebzig Jahre alt und eigentlich längst in Rente. Er war Professor für Physik und Mathematik. Jetzt ist er krank, braucht Medikamente, und die sind teuer. Teurer, als seine Rente es erlaubt. Deshalb arbeitet er einfach weiter.

"Viele meiner Kollegen geben Nachhilfe. Einige sind sogar noch älter als ich und unterrichten von morgens bis abends. Solange meine Gesundheit es zulässt, werde ich das auch tun."

Wer in Moskau leben will, und nicht nur überleben, muss sich anstrengen. Die Metropole ist teuer. Für Touristen und Geschäftsreisende besonders, denn Hotels und Restaurants verlangen vergleichsweise astronomische Preise. Aber auch Einheimische benötigen ein dickes Portemonnaie. Denn Lebensmittel, öffentliche Verkehrsmittel, Friseurbesuche – der ganz normale Alltag kostet in der Hauptstadt 50 Prozent mehr als im Rest Russlands. Viele Moskauer haben deshalb zwei Jobs. Rentner vermieten ihre Wohnungen im Stadtzentrum und ziehen zu den Kindern oder in billige Absteigen am Stadtrand. Viele dieser Nebenverdienste laufen am Fiskus vorbei. Leonid Sergejewitsch nimmt für eine Nachhilfestunde umgerechnet 25 Euro. Davon kann er sich sogar ein teures Hobby leisten.

"Ich reise gern. Das war schon zu Sowjetzeiten mein Hobby. Damals war ich ständig auf Konferenzen. So habe ich die ganze Sowjetunion gesehen. Jetzt muss ich die Reisen selbst bezahlen. Diesen Sommer war ich zwei Wochen auf der Krim. Im Januar war ich in Israel. Im Herbst davor in der Türkei. Demnächst will ich noch einmal nach Israel. Dort ist das Klima paradiesisch. Und die Leute sind so lebensfroh."

Der Luxus hat seinen Preis. Der Professor lebt seit dreißig Jahren in einer Einzimmerwohnung in einem Plattenhochhaus. Er hat kein Auto und trägt keine teure Kleidung. Seine Schüler besuchen ihn zuhause.

"Meine Schüler kommen meist aus wohlhabenden Familien: Die Eltern haben entweder eigene Firmen oder sind Topmanager in großen Unternehmen. Die Kinder sind stolz darauf und erzählen oft von zuhause. Daraus schließe ich, dass ihre Familien ein Budget von mehreren zigtausend Euro im Monat haben. Trotzdem habe ich noch nie erlebt, dass sich die Schüler über meine bescheidenen Lebensumstände äußern. In unserem Land sind die Unterschiede im Lebensstandard so groß, dass die Leute nichts mehr erschüttert. Die Schüler reagieren gar nicht darauf. Ich lasse sie aber auch spüren, dass sie nichts wissen. Dann haben sie keinen Grund, hochnäsig zu sein. (lacht)"

Nach Angaben der US-amerikanischen Zeitschrift "Forbes" leben in Moskau 79 Dollar-Milliardäre. Die Zahl stammt vom Frühjahr 2011. Zugleich leben elf Prozent der Moskauer unterhalb der Armutsgrenze. Dabei gibt die Stadt ein Fünftel des Haushalts für soziale Zwecke aus. Moskauer Rentner erhalten jeden Monat eine Zulage aus dem Stadtsäckel, weil die reguläre russische Rente nicht ausreicht, um das Existenzminimum in der Hauptstadt zu decken. Gäbe es diese Zulage nicht, wäre die Zahl der Armen noch viel höher, so hoch vermutlich wie in manchen russischen Regionen. Vladimir Petrosjan ist der Sozialminister von Moskau. Seine Behörde ist gerade in ein größeres Gebäude umgezogen. Auf den Fluren riecht es nach Farbe.

"Wir hier in Moskau wollen die Zahl der Armen verringern. Unsere Regierung will das Existenzminimum für alle Moskauer sichern. Und das schaffen wir auch."

Petrosjan verweist auf ein neues Sozialprogramm der Stadt Moskau. Es ist auf fünf Jahre angelegt, wie zu Sowjetzeiten, und richtet sich an Rentner, Behinderte und kinderreiche Familien.

"Und das, obwohl die Wirtschaftskrise noch nicht vorbei ist. Sie müssen meine Unbescheidenheit entschuldigen, aber das zeugt wirklich von der hohen sozialen Verantwortung der Moskauer Regierung für ihre Bevölkerung. Wir haben fünf Jahre im Voraus für soziale Sicherheit gesorgt. Und alle Maßnahmen sind finanziell abgesichert: Das kostet 2,1 Billionen Rubel, das sind fast 52 Milliarden Euro. Milliarden!"

Moskau kann sich das leisten, weil die Stadt enorme Steuereinnahmen hat. Hier befinden sich so gut wie alle Konzernzentralen. Schon jetzt gibt es in Moskau Sozialeinrichtungen, von denen die Menschen in anderen Regionen nur träumen können.

Eine Altentagesstätte im zentralen Stadtbezirk Taganka. Das zweistöckige Gebäude ist frisch renoviert. Eine Rampe führt zur Eingangstür, auch der Aufzug ist behindertengerecht.

Der Chor probt im Erdgeschoss: neun Frauen, drei Männer. Die Musik kommt aus einem Kassettenrekorder. Boris Pomeranzew ist 83 Jahre alt und singt das Solo. Er trägt ein kariertes Sakko und eine Krawatte mit aufgedruckten kleinen Autos.

"Ich würde hier am liebsten auch noch übernachten. Aber es gibt keine Betten. (Gelächter) Wenn ich hier bin, fühle ich mich nur halb so alt. Draußen altere ich dann um das Dreifache."

Seine Partnerin Galina Timochina hat ein blaues Häubchen keck aufs Haar gesteckt. Sie kommt vier Mal die Woche, singt und tanzt.

"Wir treten auch auf, in zehn Tagesstätten. In jeder ist es schön. Meine Freundin wohnt in einem anderen Bezirk und geht dort zur Betreuung. Sie kommt aber zu uns zu den Englischkursen, denn dort gibt es keine."

Englischkurse, Computerkurse, Aquarell- und Ölmalerei. Noch vor wenigen Jahren waren solche Angebote der Stadt für alte Leute in Moskau undenkbar. In den 90er-Jahren waren die Rentner dankbar, wenn sie etwas zu essen bekamen. Das hat sich geändert.

Im Keller geht ein Tai Chi-Kurs zu Ende. Sechs alte Damen folgen den fließenden Bewegungen des Trainers. Polina Burtsova trägt einen schwarzen Seidenanzug. Sie ist seit drei Jahren dabei.

"Ich bin 78 Jahre alt. Seit ich Tai Chi mache, fühle ich mich mit jedem Tag besser. Es ist wirklich toll, dass wir hier in diesem Saal trainieren können. Ich habe zwei Söhne, vier Enkel und vier Urenkel. Mein Alltag ist komplett verplant. Aber das Training ist mir heilig."

Der Trainer, Alexander Sosenko, verbeugt sich.

"Ich bin schon mein ganzes Leben lang damit beschäftigt, zu überleben. Hier helfe ich anderen, das auch zu tun. Draußen ist eine andere Welt. In Moskau kommen die Probleme des ganzen Landes zusammen: Lärm und schlechte Luft, Wohnraum, die Preise. Es sind die typischen Probleme jeder Metropole. Wenn ich alles aufzähle, brauche ich einen ganzen Tag."

Trotz dieser Probleme zieht es mehr und mehr Menschen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt, auf der Suche nach Geld oder Glück. 12 Millionen Einwohner hat Moskau offiziell. Weitere drei Millionen leben ohne Registrierung in der Stadt, quasi illegal. Vor allem junge Leute bleiben nach dem Studium einfach in Moskau.

Eine Altbauwohnung nahe der Tverskaja Uliza, einer Prachtstraße im Zentrum. Zum Kreml sind es zehn Minuten zu Fuß. Es ist Abend, und die Bewohner sitzen in der Küche. Zu siebt teilen sie sich fünf Zimmer: Zwei Paare, drei Singles. Sie alle kommen aus anderen Städten und leben erst seit wenigen Jahren in Moskau. Die Wohnung ist möbliert: Alte Sofas, antike Bücherschränke, mächtige Kronleuchter. Auf dem Herd blubbert das Wasser für Kartoffelbrei mit Zwiebeln.

Natascha sitzt mit einem Laptop auf dem Küchensofa. Sie ist 22 Jahre alt und kommt aus Novosibirsk in Sibirien.

"Mir gefällt es, in den alten Möbeln hier zu leben. Keine Ahnung, ob die wirklich antik sind, aber sie sehen so aus. Und die hohen Decken mag ich. Das Parkett. Das ist alles schön. Hier spüre ich, dass ich in der Hauptstadt, in Moskau lebe."

Die Besitzerin der Wohnung nimmt umgerechnet 500 EUR pro Zimmer. Natascha verdient umgerechnet 800 EUR im Monat. Sie ist gerade mit dem Studium fertig geworden und hat ihre erste Stelle in einer Werbeagentur. Ihre Eltern schicken ihr etwas Geld, damit sie in Moskau über die Runden kommt.

"In Moskau musst du selbst dafür sorgen, dass du es zu etwas bringst. Wenn das nicht klappt, ist es deine Schuld. In Novosibirsk dagegen läuft alles über Beziehungen. Wer dort eine gute Arbeit hat, hat sie dank seiner Eltern. Hier ist es ehrlicher. Du siehst, was du kannst. Du musst etwas tun, damit etwas passiert. Hier fühlst du die Freiheit."

Auch Olga kommt aus Novosibirsk. Die 24-jährige teilt sich mit ihrem Freund ein Zimmer. Olga arbeitet bei einem Internetportal und verdient umgerechnet etwa 1.000 Euro.

"In Moskau kannst du sofort einigermaßen viel verdienen. Dazu brauchst du keine Verbindungen und auch kein Geld. Es reicht, wenn du Grips hast. Wenn dein Ehrgeiz mit dir durchgeht, kann es allerdings gefährlich werden. Dann wirst du gewarnt, dann sagen sie dir: Wo du hin willst, ist schon alles aufgeteilt. Entweder du beteiligst uns an deinen Geschäften, oder du mischst dich nicht ein. Aber ich brauche so viel Geld nicht. Ich möchte eine Wohnung und Kinder, dann bin ich schon glücklich."

Für das Privileg, in Moskau zu leben, nehmen die jungen Leute auch Risiken in Kauf. Olga und Natascha leben – wie ihre Mitbewohner auch – ohne Registrierung in Moskau, also eigentlich illegal. Offiziell dürfen sich die jungen Leute immer nur drei Monate in der Hauptstadt aufhalten.

"Wir haben das im Hinterkopf. Ich habe immer ein Flugticket oder eine Bahnfahrkarte dabei, die nicht älter als drei Monate sind."

Die Vermieterin verlangt mehr Geld, wenn sie sich anmelden. Problematisch wird es, wenn einer von ihnen krank wird.

"Wir haben zwar eine normale Krankenversicherung. Damit muss uns jede beliebige Poliklinik kostenlos behandeln. Aber in Moskau heißt es: "Sie haben keine Registrierung? Dann behandeln wir Sie auch nicht." In so einem Fall kannst du natürlich damit drohen, den Chefarzt rufen zu lassen. Aber ehe du dir damit die Nerven ruinierst, gehst du lieber gleich in eine Privatklinik."

Das wiederum kostet Geld. Die Ärzte sind so schlecht bezahlt, dass auch sie, genau wie Lehrer und Hochschulprofessoren, auf Zusatzverdienste angewiesen sind, um sich das Leben in Moskau leisten zu können. Das ist ein eingespieltes Ritual.

"Du gehst normalerweise zu einem Arzt, der dir empfohlen wurde. Es ist üblich, sich dann zu bedanken. Ehe du eine riesige Packung Pralinen mitschleppst, die jeder sieht, fragst du lieber: Bin ich Ihnen irgendetwas schuldig? Er sagt dann eine Summe, und damit ist die Sache erledigt. Dafür musst du dann nicht stundenlang im Wartezimmer sitzen. Das hat seine Vorteile. Da geht es vielleicht um 200 oder 300 Rubel. Nicht viel. Vielleicht 500."

Also umgerechnet zwischen fünf und fünfzehn Euro.

"Das ist natürlich nicht zivilisiert. Du musst dich hier mühen wie ein Hamster im Laufrad."
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