Südafrika

Frei geboren und doch verarmt

Die südafrikanische Flagge
Die südafrikanische Flagge © dpa / picture alliance / Steffen Trumpf
Von Leonie March  · 16.04.2014
Südafrikaner, die nach den ersten freien Wahlen nach dem Apartheitsregime auf die Welt gekommen sind, werden "Born Free" genannt. Doch vor allem schwarze "frei Geborene" sind mit den Altlasten der Vergangenheit beladen.
So stellt man sich die Regenbogennation vor: Dunkel- und hellhäutige Südafrikaner sitzen fröhlich beisammen. Junge Männer und Frauen unterschiedlichster Herkunft, Christen, Muslime, Hindus. Alle verstehen sich blendend; die Hautfarbe scheint für die Post-Apartheid-Generation keine Rolle mehr zu spielen.
Im schattigen Innenhof einer Johannesburger Privatuniversität macht Shivari Singh gemeinsam mit ihren Kommilitonen Mittagspause. Eine schlanke 19-jährige Designstudentin mit dem dunklen Teint vieler indisch-stämmiger Südafrikaner.
"Ich liebe unterschiedliche Kulturen und Religionen. Mein Freundeskreis ist sehr vielfältig. Was zählt ist, ob man die gleiche Musik hört, ähnliche Interessen hat und gern zusammen ist. Ich habe sowohl schwarze als auch weiße Freunde und fühle mich von allen akzeptiert. Es ist mir noch nie passiert, dass jemand gesagt hat, ich dürfe mich nicht dazu setzen, weil ich indisch aussehe. Die Hautfarbe ist ja rein genetisch, eine Frage des Melanin-Anteils. Sie sagt rein gar nichts über die Persönlichkeit und die Familienverhältnisse aus. Für mich ist sie deshalb vollkommen irrelevant."
Knapp 600 Kilometer südlich in der Hafenstadt Durban. Auch auf der palmengesäumten Strandpromenade tummeln sich Südafrikaner aller Hautfarben. Einige picknicken, andere sind zum Sonnenbaden oder Wellenreiten hier.
Luftaufnahme der Stadt Durban
Luftaufnahme der Stadt Durban© picture alliance / dpa / Ralf Krüger
Kaum vorstellbar, dass dieser Strand während der Apartheid nur für die weiße Minderheit vorbehalten war, meint Patrick Cornelius kopfschüttend. Wie Shivari ist auch er 1994 geboren, im Jahr der ersten demokratischen Wahlen in Südafrika, die das Ende der staatlichen Rassentrennung markierten. Für ihn ist ein multikultureller Freundeskreis ebenso selbstverständlich; die Hautfarbe spiele allerdings hin und wieder eine Rolle, fügt er hinzu.
"Es gab ein paar Jungs in meiner Schule, die immer von der rechtsextremen Burenbewegung AWB sprachen, nur um unsere schwarzen Mitschüler zu provozieren. Wenn sich ein weißer und ein schwarzer Junge auf dem Schulhof prügelten, dann wurden immer gleich rassistische Motive vermutet, auch wenn es um etwas ganz anderes ging. Viele schwarze Kumpel begrüßen mich mit: "Wie geht's Mlungu." "Mlungu" bedeutet Weißer. Sie könnten auch einfach nur sagen "wie geht's", aber sie bringen die Hautfarbe ins Spiel. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und bin nicht beleidigt. So nennen sie uns eben."
Hütten aus Blech, Sperrholz und Pappe
"Mlungus" sieht man in Vierteln wie Cato Manor bis heute selten, dabei liegt es nur ein paar Kilometer von der multikulturellen Strandpromenade entfernt. Die Nähe zur Innenstadt war ein Grund, warum das Apartheid-Regime indisch-stämmige und schwarze Südafrikaner gewaltsam in die weiter entfernten Townships umsiedelte. Heute jedoch sind viele Familien zurück.
Über 90.000 Menschen leben hier dicht an dicht, in kleinen Häusern oder selbstgebauten Hütten aus Blech, Sperrholz und Pappe. Thando Manzi ist hier aufgewachsen. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, seine Mutter ist HIV-positiv, flüchtete sich in Drogen und war wenig zuhause. Die Großmutter nahm den Jungen auf. Ein typisches Schicksal in Vierteln wie diesem. Im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen hat Thando jedoch durch gute Noten erst ein Stipendium für die Schule und jetzt eines für die Universität halten. Nun fühlt er sich oft wie ein Wanderer zwischen zwei Welten.
"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir versuchen den Rassismus zu verstecken, aber dass er trotzdem noch da ist. In angespannten Situationen kommt er raus. Das ist noch eine Altlast der Apartheid. An der Uni ist es leicht, Kontakte zu Leuten mit anderer Hautfarbe zu knüpfen, wir beginnen einander zu verstehen und genießen die Vielfalt. Trotzdem bleibt die Regenbogennation leider noch ein Mythos. Denn wenn wir zurück in die Townships fahren, dann sind wir doch wieder nur von schwarzen Leuten umgeben. Wer nichts anderes kennt, dem fällt es schwer diese Hürde zu überwinden. Denn das Township schränkt die Sicht auf Leute mit anderer Hautfarbe ein."

Menschen vor dem Township Khayelitsha an den Rändern von Kapstadt
Menschen vor dem Township Khayelitsha an den Rändern von Kapstadt© AP
Theoretisch könnte heutzutage jeder Südafrikaner leben, wo er möchte, sagt Thando Manzi. Doch in der Realität bleibt dieser Traum für viele Jugendliche unerreichbar. Armut, Arbeitslosigkeit und die schlechte Ausstattung staatlicher Schulen in den Townships begrenzen ihre Wahlmöglichkeiten auf ein Minimum. Privatschulen und Universitäten sind zu teuer. Seine Generation sei zwar in der demokratischen Ära geboren und würde deshalb als "Born Free" bezeichnet, sagt Thando, frei seien allerdings die wenigsten.
"Wir werden erst frei sein, wenn die Regierung allen eine freie also kostenlose Bildung ermöglicht. Wir haben vielleicht politische Freiheit errungen, aber von sozialer und wirtschaftlicher Freiheit ist die heutige Jugend in Südafrika noch immer weit entfernt."
Es sei eine neue Form der Apartheid entstanden, in der die Bevölkerung nicht mehr nach rassistischen, sondern nach sozioökonomischen Kriterien getrennt werde. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Südafrika 20 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt. In gewisser Weise setze sich damit die Vergangenheit fort, betont Georgina Alexander. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet am "Institute for Race Relations", das sich mit den Beziehungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Südafrika beschäftigt.
Arbeitslosigkeit beschäftigt auch junge weiße Südafrikaner
"Das öffentliche Schulsystem scheint zu kollabieren. Kinder, deren Eltern es sich leisten können, sie auf private Schulen und Universitäten zu schicken, haben gute Aussichten. Die Mehrheit der Bevölkerung – die zu fast 80 Prozent aus schwarzen Südafrikanern besteht – ist jedoch auf das mangelhafte staatliche Bildungssystem angewiesen. Sie haben kaum Chancen auf einem Arbeitsmarkt, der zunehmend Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften hat. Jeder zweite Südafrikaner im Alter zwischen 18 und 24 ist arbeitslos. Viele versuchen, sich selbstständig zu machen, aber auch hierfür fehlen häufig die Voraussetzungen. Während es in der weißen Bevölkerung eine Art historisches Wissen darüber gibt, wie man ein Unternehmen führt - von der Buchführung bis zur Beantragung eines Kredits - mangelt es jungen Schwarzen an diesem Know How. Insofern liegen die Wurzeln vieler Probleme in der Vergangenheit, aber sie werden durch das Bildungssystem und die Arbeitslosigkeit weiter verstärkt."
Arbeitslosigkeit ist ein Thema, das auch junge weiße Südafrikaner wie Patrick Cornelius umtreibt. Seit seinem Schulabschluss jobbt er hier und da, momentan in einer Druckerei. Er stapelt Kartons in einer großen Fabrikhalle. Selbst solche Jobs bekomme man nur, wenn man jemanden im Betrieb kenne, erzählt er. Mit einer klassischen Bewerbung habe man heutzutage in Südafrika keine Chance. Es sei denn, man sei politisch gut vernetzt, oder habe die richtige Hautfarbe. Während der Apartheid bekam jeder Weiße einen Job, heute werden dunkelhäutige Südafrikaner per Gesetz gezielt gefördert, unter anderem mit Quotenregelungen oder bei öffentlichen Ausschreibungen.
"Viele Leute sitzen in Führungsetagen von Unternehmen, obwohl sie eigentlich nicht dafür qualifiziert sind. Manche ihrer Angestellten wissen viel mehr als sie. Sie werden nur eingestellt, weil den Unternehmen sonst ernste Konsequenzen drohen. Natürlich gibt es auch andere Beispiele: So hat der Vater eines Freundes jemanden befördert, weil er zwar einen Schwarzen auf dieser Position brauchte, aber dieser Mann ist wirklich kompetent. Ich finde diese Regelung meiner Generation gegenüber nicht besonders fair. Generell sollte doch der Beste den Job bekommen. Aber ich schätze, dass wir wohl die Vergangenheit wieder gut machen müssen."
Viele weiße Südafrikaner suchen ihr Glück daher im Ausland. Patricks Bruder arbeitet in Neuseeland, sein Vater lebt schon seit Jahren in Schottland. Auch Patrick spielt mit dem Gedanken.
"Wenn ich mir den Wechselkurs anschaue, dann würde es mir schon sehr helfen dort nur ein paar Jahre lang Regale einzuräumen. Ich hätte genug Geld, um ein Studium zu finanzieren oder mir eine andere Existenzgrundlage zu schaffen. Das Geld ist der einzige Grund. Ich liebe mein Land und möchte eigentlich an keinen anderen Ort ziehen."

Brandgefährlich: Im Township Alexandra stehen die Häuser dicht an dicht
Brandgefährlich: Im Township Alexandra stehen die Häuser dicht an dicht© dpa / picture alliance / Odd_Andersen
An der Privatuniversität in Johannesburg denkt keiner ans Auswandern. Die Studenten haben entweder ein Stipendium oder wohlhabende Eltern, die ihnen das Studium finanzieren, so wie Shivari Singh. Für ihre Familie begann mit der Demokratie auch der wirtschaftliche Aufschwung: Beide Eltern haben gut bezahlte Jobs, ihre vier Kinder wachsen in einem wohlhabenden Vorort auf und gehen auf gute Schulen. Für ihre Zukunft hat Shivari ehrgeizige, aber keine rein egoistischen Ziele.
"Ich interessiere mich sehr für Design und Fotografie und hätte später gern mal meine eigene Firma. Außerdem würde ich gern Kinder unterstützen, die es nicht so gut haben wie ich. Ich könnte ihnen zum Beispiel beibringen, wie man einen Computer benutzt, denn das wird man in Zukunft noch mehr brauchen als heute. Wir haben ein wunderbares Land, aber leider lebt der Großteil der Bevölkerung noch immer in armseligen Verhältnissen. Für mich ist es normal zu Hause einfach den Herd anzuschalten, wenn ich etwas kochen möchte. Andere müssen dazu erst mal Holz sammeln und Feuer machen. Das ist unerträglich. Ich weiß wirklich nicht, wie diese Leute überleben."
"Wir brauchen Häuser, Straßen, Strom, eine Abwasserversorgung"
In Vierteln wie Cato Manor haben sich Wut und Enttäuschung über diese Zustände in den letzten Jahren zunehmend in Protesten entladen. Thando Manzi war oft unter den Demonstranten. Gerade junge Südafrikaner hätten die Nase voll von den Versprechungen der Regierung unter der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC, die gern die Apartheid für alle Probleme des Landes verantwortlich mache.
"Die Apartheid ist vorbei. Wir mögen in vielen Bereichen noch mit den Altlasten zu kämpfen haben, aber wir müssen endlich die Gegenwart in den Griff bekommen. Wir können die Schuld nicht immer nur auf die Vergangenheit schieben. Unsere Regierung lässt uns jetzt im Stich. Wohlgemerkt eine schwarze Regierung. Wir protestieren gegen die aktuelle Situation: Wir brauchen Häuser, Straßen, Strom, eine Abwasserversorgung. Aber die Regierung ist unfähig diese Forderungen zu erfüllen. Wir brauchen endlich Leute, die das Zeug dazu haben, ein Land zu führen, statt solche, die nur an sich selbst denken, sobald sie an die Macht kommen und darüber die Bürger vergessen."
Thando Manzi spricht aus, was viele Südafrikaner seiner Generation denken. Unabhängig von der Hautfarbe. Sie sind wütend, enttäuscht und ernüchtert. Eine Stimmung, die sich auch bei der Parlamentswahl Anfang Mai wiederspiegeln könnte. Wenigstens theoretisch. Erstmals dürfen auch die sogenannten "Born Free" ihre Stimme abgeben. Bislang habe sich jedoch nur ein Bruchteil der 18 bis 20-Jährigen in die Wählerlisten eintragen lassen, erklärt die Politikwissenschaftlerin Georgina Alexander. Die junge Demokratie steckt in der Krise.
"In Umfragen geben viele dieser jungen Südafrikaner an, dass sie nicht zur Wahl gehen wollen. Wenn man sie fragt warum, antworten sie, dass sie mit ihrer Stimme nichts ausrichten könnten, dass sie nichts an den politischen Machtverhältnissen im Land ändern werde. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, dass sie glauben, der ANC werde für immer an der Macht bleiben, oder ob sie generell denken, dass sie keinen Einfluss auf die Politik nehmen können. Sie fühlen sich machtlos. Warum sollten sie wählen, wenn sie sowieso nichts ändern können?"
"Junge Leute wollen für einen Wandel stimmen"
Thando Manzi kennt das Gefühl der Machtlosigkeit. Er ist deshalb noch unentschlossen, ob er wählen gehen soll. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass seine Mutter und Großmutter erst seit 20 Jahren überhaupt ein Wahlrecht haben, das sich dunkelhäutige Südafrikaner lange und bitter erkämpft haben.
"Ältere Leute gehen aus Loyalität zu einer bestimmten Partei wählen. Junge Leute wollen für einen Wandel stimmen. Für mich verkörpert aber momentan keine der Parteien diesen Wandel. Es gibt eine, deren Programm sehr interessant ist, aber leider hat sie keine besonders gute Führung. Wir brauchen etwas Neues. Wahrscheinlich sogar eine Revolution."
Auch Shivari Singh sehnt sich nach einem politischen Wandel, wenn auch vielleicht nicht einer Revolution.
"Wir haben dem ANC 20 Jahre lang Zeit gegeben, sich zu beweisen. Aber sie haben zu viele Versprechen noch immer nicht eingelöst. Ich sage nicht, dass eine Oppositionspartei es besser machen würde, vielleicht wäre auch eine Koalition eine Lösung. Denn wenn die Parteien mehr miteinander statt gegeneinander arbeiten würden, könnte es unser Land noch weit bringen."
Während Shivari und Thando noch grübeln, ob es sich lohnt, zur Wahl zu gehen, ist nur Patrick Cornelius fest entschlossen, seine Stimme abzugeben.
"Ich werde wählen. Ich weiß nur noch nicht für welche Partei ich stimmen soll. Das entscheide ich wohl erst in der Wahlkabine. Aber ich empfinde es als Pflicht mich zu beteiligen, vielleicht weil ich 1994 geboren wurde. Ich glaube, dass meine Generation für die Entwicklung unseres Landes wichtig ist. Wenn sich etwas ändert, dann wegen uns."
Etwas hat die Generation der "Born Free" trotz aller Unterschiede gemeinsam: So überwältigend die Probleme ihrer Heimat auch sein mögen, so sehr eint sie die Hoffnung auf eine gemeinsame, bessere Zukunft - die vielleicht doch eines Tages der Vision der Regenbogennation nahe kommt.
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