Suche nach Opfern, um die Wut rauszulassen

Christiane Giesen im Gespräch mit Katrin Heise · 05.01.2009
Migrationshintergrund, Heimaufenthalt, Bewährungsstrafe, kein Schulabschluss, Betreuung durch Sozialarbeiter, Gefängnis – das ist in Stichworten der Lebenslauf eines sogenannten jugendlichen Intensivtäters. Dem 18-jährigen Can mangele es vor allem an Selbstreflexion und Schulderkenntnis, meint Christiane Giesen, die ihn zwei Jahre lang begleitet hat. In der Reihe "Ich schlage, also bin ich" beschäftigt sich Deutschlandradio Kultur in dieser Woche mit dem Thema Jugendkriminalität.
Katrin Heise: Raub, Diebstahl, Körperverletzung, Sachbeschädigung – so liest sich das Strafregister von Can, inzwischen 18 Jahre alt. Seine Eltern stammen aus der Türkei, er wohnt in Berlin. Er ist einer, den man einen jugendlichen Intensivtäter nennt. Über 70 Straftaten kommen bei ihm zusammen. Meine Kollegin Christiane Giesen hat Can – er heißt eigentlich anders, aber wir nennen ihn jetzt so –, sie hat Can über zwei Jahre lang als Journalistin begleitet, ihn immer wieder getroffen, Interviews mit ihm gemacht. Frau Giesen, ich grüße Sie ganz herzlich!

Christiane Giesen: Guten Tag!

Heise: Ich kann mir bei so einer Liste von Straftaten und auch bei dem Wort Intensivtäter immer gar nicht so richtig vorstellen, wie ist so ein Mensch? Beschreiben Sie Can mal!

Giesen: Ich erzähle mal, wie ich ihn kennengelernt habe. Ich habe ihn nämlich erst mal über seine Anklageschrift kennengelernt, und da tauchten wirklich grauenhafte Straftaten für einen 16-Jährigen auf. Da gab es den Schwerpunkt Körperverletzung, also jemand anders einfach verprügeln, weil man gerade wütend ist, weil der einen beleidigt hat. Und der andere Teil waren Diebstähle in Läden. Und drittens, und das kam besonders häufig vor, man bedroht einen anderen Jugendlichen mit einem Messer, um ihm das Handy abzunehmen. Ich habe das gelesen und war wirklich zutiefst schockiert, hatte natürlich eine gewisse Vorstellung, wie sieht so jemand aus. Das war kein sehr schönes Bild in meiner Fantasie. Und dann habe ich ihn irgendwann persönlich kennengelernt. Und da saß ein nett aussehender 16-Jähriger vor mir. Er hatte natürlich eine Baseballkappe an, benahm sich höflich, hatte schöne, blaue Augen und was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, seine Gesichtsfarbe, seine Gesichtshaut, das hat mich eher an ein Baby erinnert. Und ich bekam mein Fantasiebild mit dem tatsächlichen Bild nicht übereinander. Das hat die Pädagogin, die bei diesem ersten Treffen dabei war, gemerkt, und hat dann, als Can gegangen war, mich eigentlich gewarnt und hat gesagt: Bitte vergessen Sie nie, Frau Giesen, das ist ein Intensivtäter, der kann sehr gefährlich werden und kann sich innerhalb von Sekunden hochspulen, total wütend werden und jemanden krankenhausreif schlagen.

Heise: Haben Sie so was jemals erlebt in den zwei Jahren?

Giesen: Nein, mir gegenüber hat er sich eigentlich immer sehr korrekt verhalten. Ich bin nie in eine brenzlige Situation mit ihm gekommen, im Gegenteil. Einmal saßen wir in einem Café, andere Jugendliche gingen an mein Fahrrad ran, und dann hat er so eine Art Beschützerinstinkt bekommen und ist zu denen hingegangen und hat sie verwarnt. Nein, er war eigentlich immer korrekt. Ich hatte dann in den Situationen, wo ich mit ihm zusammen war, eigentlich nie Angst, die hatte ich vorher sehr wohl. Ich glaube, das lag daran, dass er blitzschnell durchschaut hatte, dass ich ihm auch nutzen kann, also hat er sich mir gegenüber anständig verhalten.

Heise: Bei so einem Strafregister, da stellt man sich dann schon die Frage, wann kommt der eigentlich ins Gefängnis?

Giesen: Ja, das dauert ziemlich lang, da war ich eigentlich auch überrascht. Er kam als 16-Jähriger zum ersten Mal in Untersuchungshaft, das war für ihn auch ein großer Schock, und er hat also immer wieder betont, da wollte er nie, nie wieder rein. Er ist eigentlich auffällig geworden schon als Kindergartenkind, da hat er nämlich mit dem Taschenmesser seines Vaters andern Kindern Dinge abgenommen, die er eben jetzt gerade haben wollte. Seine Eltern haben ihn dann als Sechsjährigen zu Verwandten in die Türkei gebracht, da hat er vier Jahre lang gelebt. Dann kam er wieder zurück nach Deutschland und musste hier auf die Schule, obwohl er das Deutsch natürlich schon wieder verlernt hatte. Flog von einer Schule nach der anderen, erschien da nicht und hatte große Schwierigkeiten. Und irgendwann fing das eben auch mit den schweren Straftaten an. Und man wundert sich wirklich darüber, er hat das auch oft erzählt. Er ist manchmal aus dem Haus gegangen und war wütend und hat sozusagen das nächste Opfer gesucht, um seine Wut herauszulassen, und hat dann diese Jugendlichen, waren das meistens, halt so vermöbelt, dass sie teilweise ins Krankenhaus kamen. Aber immer wieder spielte auch das Geld eine große Rolle, also dass er sich einfach Dinge beschafft hat, damit er besser leben kann.

Heise: Welche Maßnahmen wurden denn statt Gefängnis ergriffen, hat er pädagogische Hilfs- oder Präventionsmaßnahmen durchlaufen?

Giesen: Ja, als ich ihn kennengelernt habe, hatte er dann eine Strafe von einem Jahr und acht Monaten, und die war dann zur Bewährung ausgesetzt. Das heißt, er hatte bestimmte Auflagen, er musste ein neun Monate langes Verhaltenstraining absolvieren, er musste zum Bewährungshelfer gehen, er musste natürlich zur Schule gehen. Er hatte viele Menschen, die von Staats wegen abkommandiert waren, ihm zu helfen, ob als Grundschullehrerin – also da war eine Person, die immer neben ihm saß, und er hat viele Psychologen besucht. Aber das hat alles nichts geholfen, weil Schuld waren immer die anderen. Er hatte überhaupt keine Schulderkenntnis. Er hatte auch nie ein schlechtes Gewissen. Und das Erstaunliche war eben, dass er sich letztendlich auch nie über die Konsequenzen seiner Taten Gedanken gemacht hat. Das hat er vielleicht mal fünf Minuten beim Pädagogen, aber in dem Moment, wo er den Pädagogenraum verlassen hatte und wieder auf der Straße war, wieder mit seinen Kumpeln zusammen war, war das gestrichen, wie gelöscht.

Heise: Die Welt eines jugendlichen Intensivtäters. Christiane Giesen begleitete Can über zwei Jahre als Journalistin. Welche Rolle haben eigentlich die Eltern bei dem Ganzen gespielt?

Giesen: Die Eltern leben seit fast 40 Jahren in Berlin, sie sind beide Hilfsarbeiter gewesen, sie waren beide sehr alt, waren schon mal verheiratet. Er hatte nur einen leiblichen Bruder und ansonsten sehr viele Stiefgeschwister. Die Angaben schwanken zwischen 10 und 14, was auch schon so ein bisschen andeutet, dass es doch recht chaotische Familienverhältnisse waren. Er war aber so ein Nachkömmling und deswegen der Liebling der Mutter. Er wurde sehr verwöhnt von den Eltern, vor allen Dingen durch Geld. Insgesamt machten sie einen extrem hilflosen Eindruck, aber auch den Eindruck, als ob sie immer wieder seine Taten eigentlich herunterspielten und verharmlosten.

Heise: Haben sie sich Hilfe gesucht, haben die Eltern sich Hilfe gesucht in der Erziehung?

Giesen: Ja, beim Jugendamt erzählte man mir, dass diese Eltern, vor allen Dingen die Mutter, doch sehr genau wusste, welche Hilfsmaßnahmen der deutsche Staat in einem solchen Fall zur Verfügung stellt. Die hat sie auch genutzt und hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass Can als Zwölfjähriger für zwei Jahre in ein Heim hier gekommen ist. In diesem Heim hat er aber nicht die ganze Zeit gelebt, sondern er durfte am Wochenende immer wieder zurück, was sich im Nachhinein als schlecht herausgestellt hat, denn Can wollte unter keinen Umständen in dieses Heim und hat viel Rabatz gemacht. Und deswegen haben ihn die Eltern am Wochenende immer sehr viel neue Kleidungsstücke, sozusagen als Trostpflaster, gekauft. Und das führte dann dazu, dass Can am Montag immer komplett neu eingekleidet in der Schule erschien. Das fanden natürlich auch die Mitschüler und die Lehrer nicht lustig. Und deswegen haben die Heimbetreuer dafür gesorgt, dass er nur noch ein neues Kleidungsstück pro Tag tragen durfte. Er hat so viel Protest von sich gegeben, dass die Eltern ihn aus dem Heim wieder rausgegeben haben. Das war, glaube ich, ganz schlecht für seinen Lebensweg, denn das war, glaube ich, die Wegkreuzung, wo er einen anderen Lebensweg hätte einschlagen können. Und das hat er auch als 17-Jähriger selber mal so formuliert.

Can: Da hatte ich ja eine Zukunft. Da hatte ich eine Realschule. Da habe ich jeden Tag meine Hausaufgaben gemacht. Da habe ich keinen Jungen geschlagen. Da habe ich jeden Tag Fußball gespielt. Da habe ich jeden Tag Vitamine zu mir genommen. War gut eigentlich. Wenn ich zu Hause bin, esse ich nur Döner, gehe jeden Tag raus, rauche, spiel keinen Fußball, mache keinen Sport, nichts. Wie sehe ich dann mit 90 aus? Was für eine 90, wenn ich überhaupt bis 90 lebe damit?

Heise: Also das heißt, er führt ein gesundes, gutes Leben, wenn man es ihm sozusagen aufdrückt in dem Heim, von selbst macht er das nicht. Denkt er überhaupt über seine Zukunft nach, ich meine jetzt als inzwischen 18-Jähriger?

Giesen: Er denkt über seine Zukunft in Form von Wünschen nach, also dass er selbstverständlich als 18-Jähriger ein schönes Auto fahren will und dass er heiraten will. Aber was er eben überhaupt nicht macht, dass er über sich selber reflektiert, geschweige denn über die Taten, die er begeht, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. In diesem Verhaltenstraining ist es ein besonders herausragendes Ziel gewesen, diesem Jugendlichen klarzumachen, dass ein bestimmtes Verhalten eine Konsequenz zur Folge hat. Und in diesem Verhaltenstraining gab es verschiedene Übungen, da hatte er das dann auch kapiert, meinte man. Aber das ist dann auch ganz schnell wieder verloren gewesen. Er ist dann eben in sein Viertel wieder zurückgekommen zu seinen Kumpel, und da zählten diese Dinge nicht. Da zählten ganz andere Dinge. Da zählte Macht, da zählte Geld, da zählten schöne Autos, gut aussehende Frauen, aber da zählte nicht, dass man eine Schulausbildung hat.

Heise: Sie sprechen immer von Kumpels, hat er auch Freunde?

Giesen: Ich würde sagen, er hat eigentlich keine Freunde, und das hat er auch selber mal gesagt. Das waren immer nur verschiedene Jungs, die ihn eine Zeit lang begleitet haben. Und mir fiel dann auch auf, dass es da einen regen Wechsel gab. Und wenn ich dann nachfragte, wo ist denn der und warum sehe ich den nicht mehr, dann kam immer die Antwort: Na ja, der ist jetzt gerade im Knast oder der ist untergetaucht, weil ihn die Polizei sucht. Also er war schon auch umgeben von anderen Jugendlichen, die einen ähnlichen Lebensweg wie er hatte. Und ich erzähle das jetzt so in Vergangenheit, er ist ja nicht gestorben, sondern er sitzt eben jetzt doch wieder im Knast. Er hat über zwölf Monate es geschafft, keine Straftaten zu begehen, und dann, ich weiß nicht genau, was da passiert ist, hat er wieder eine Straftat begangen, und dann war klar, er wird verhaftet. Und jetzt sitzt er in Untersuchungshaft und hat den nächsten Prozess vor sich.


Vorschau der Reihe "Ich schlage, also bin ich" – Jugendkriminalität in Deutschland
Themenschwerpunkt im Deutschlandradio Kultur: 5. bis 10. Januar 2008, täglich in der Ortszeit um 8.40 Uhr und im Radiofeuilleton um 14.10 Uhr sowie am Samstag in der Zeit von 9 bis 11 Uhr.
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