Stuttgarter Ausstellung "[un]erwartet"

Wenn der Zufall den Pinsel führt

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In den Werken von Niki de Saint Phalle spielte auch der Zufall eine Rolle. © picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Von Johannes Halder · 22.09.2016
Glückstreffer oder Geniestreich? Eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart zeigt, welche Rolle der Zufall spielte, wenn Künstler wie Hans Arp, Marcel Duchamp oder Niki de Saint Phalle ihre Werke schufen.
Der französische Schriftsteller Victor Hugo, der nebenbei ein ganz passabler Zeichner war, pflegte die zufälligen Tintenkleckse auf seinen Manuskriptseiten mit Lust herumzupusten, um sie dann mit Pinsel und Feder zu skurrilen Landschaften, Gesichtern oder Figuren auszuzeichnen. "Le Rêve" (Der Traum) heißt ein Blättchen aus dem Jahr 1866, das ganz am Anfang der Schau ein historisches Vorspiel liefert.

Der Zufall: existenziell für die Kunst?

Und was den Zufall für die Kunst so reizvoll macht, sagt die Kuratorin Eva-Marina Froitzheim:
"Der Zufall ist eines der bestimmenden Phänomene des Lebens schlechthin. Es beginnt ja im Grunde schon mit den Naturwissenschaften. Denken Sie an den Satz von Albert Einstein: 'Gott würfelt nicht'. Inzwischen weiß man, dass der Zufall in so vielen Bereichen der Naturwissenschaften, der Mathematik beherrschend ist. Und die Künstlerinnen und Künstler, die in unserer Ausstellung zu sehen sind, haben sich tatsächlich mit diesem existenziellen Moment der bildenden Kunst, nämlich dem Zufall, sehr intensiv beschäftigt."
Marcel Duchamp, der Dadaist, war einer der Ersten, der den kontrollierten Zufall zum System erklärte. 1913 ließ er drei Bindfäden von je einem Meter Länge aus einer Höhe von einem Meter auf eine ebene Fläche fallen und fixierte das Ergebnis als "konservierten Zufall" fest in seinem Schaffen.

Aus zufälligen Farbspuren werden bizarre Landschaften

Optisch ist das nicht besonders eindrucksvoll, methodisch jedoch folgenreich, und von hier aus nimmt die Schau dann ihren Lauf. Hans Arp ordnet auf ähnliche Weise Papierschnipsel oder plastische Elemente zu Collagen oder Reliefs – und man merkt: Der Zufall kommt nicht von alleine.
"Was mich interessiert hat, sind tatsächlich die speziellen Methoden, die Künstlerinnen und Künstler angewendet haben, den Zufall hervorzulocken. Denn sie brauchen ja gewisse Prämissen, mit denen sie herangehen. Und die Künstler haben sich eben überlegt, welche Regeln stelle ich auf, um den Zufall als eine Störung, als das Unerwartete, als das Überraschende mit hineinzubringen."
Das taten die Surrealisten gleich serienweise. Max Ernst etwa verstand es meisterhaft, den zufälligen Verlauf von Farbspuren in bizarre Landschaften zu verwandeln. Und für die Vertreter der Konkreten Kunst in den 60er-Jahren war der kalkulierte Zufall geradezu Programm. Die Ansätze sind sehr verschieden, mal spielerisch, mal streng. Niki de Saint Phalle schoss damals mit dem Karabiner auf Gipsreliefs, in die Farbbeutel eingebettet waren –und wie die Farben über die Fläche rannen, war reiner Zufall.
Eine Trophäe des französischen Flintenweibs hängt in der Schau, die übrigens auch Bereiche der Literatur streift. Denn Stuttgart war in den 60er-Jahren ein Zentrum der einschlägigen Szene.

Computer als Autoren

"Der Philosoph Max Bense ist einer der Ersten, die den Computer mit in die Literatur und in die Kunst eingebracht hat, und insofern haben wir hier so eine Keimzelle eines experimentellen Vorgehens, dass nämlich eine Maschine nicht nur rechnet, sondern zum Beispiel Bilder erzeugt wie bei den Plotterzeichnungen von Frieder Nake, oder auch Literatur. Die ersten computergenerierten Texte sind hier auf Initiative von Max Bense durch Theo Lutz entstanden."

Im Zentrum der Schau steht ein Raum, der ganz dem Thema Würfel gewidmet ist. Absolute Attraktion sind dort die großen Bildobjekte der Londoner Künstlergruppe Troika, die Zehntausende von schwarzen und weißen Würfeln zu frappierenden Bildmustern geordnet hat, und zwar nach den Algorithmen eines zellulären Automaten.

"Das ist eine Vorform des Computers. Dort werden bestimmte Regeln eingegeben, und der spuckt Ihnen sozusagen algorithmisch aus, wie die schwarzen und weißen Würfel hintereinander mit den Punktzahlen gelegt werden. Und das Interessante ist: Zwei Regeln haben zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt, einmal eine sehr geordnete Struktur, einmal eine sehr chaotische."

Schon Mozart hatte auf den Zufall gesetzt

Zwischen Ordnung und Chaos bietet die Schau bei allem Sehvergnügen aber auch theoretischen Tiefgang. In Zusammenarbeit mit Physikern und Mathematikern ist ein Versuchslabor eingerichtet, in dem man – parallel zu dem, was die Künstler machen – experimentieren und dem gelenkten Zufall auf die Spur kommen kann. Neben Braunscher Molekularbewegung, Chaospendel, Permutation und Wahrscheinlichkeitsrechnung wird da auch Sinnliches geboten und der Spieltrieb befriedigt. Analog zu einem Werk von Dieter Hacker etwa kann man Schokolinsen sortieren und herausfinden, wer denn nun die schöneren Zufallstreffer landet: Mensch oder Maschine.
Auch die Musik spielt eine Rolle. Schon Mozart hatte mit seinem "Musikalischen Würfelspiel" auf den Zufall gesetzt. Aus dem Karlsruher ZKM stammt die sogenannte "Random Machine", ein computergesteuerter Apparat, an dem das Publikum mit algorithmischen Prozessen ganz ähnlich komponieren kann.
"Durch den Einbau des Zufalls kommen eben ganz unterschiedliche Musikstücke dabei heraus. Die Maschine arbeitet teilweise selbst, teilweise durch Einfluss, also auch hier zwischen Methoden, Regeln und dem Unerklärlichen, dem Zufall – eben eine Mischung."
Einer, der das Prinzip schon früh genutzt hat, war John Cage. Seine "Music of Changes" von 1951 basiert auf dem chinesischen Orakelbuch I Ging.

Auch der Zufall hat feste Regeln

Musikalisch, mathematisch, philosophisch, physikalisch – mit dem Zufall ist es überhaupt ein bisschen kompliziert. Folgt man den Theorien der Chaos-Forscher, ist es ja so, dass auch der Zufall seine festen Regeln hat, dass er im Grunde gar nicht existiert.
Christian Jankowski, Kunstprofessor in Stuttgart, nähert sich dem Phänomen auf gewitzte Weise. Für sein Video "Telemistica" hat er 1999 verschiedene Wahrsagerinnen im italienischen Regionalfernsehen live am Telefon befragt, ob er als Künstler Karriere machen werde. Die Antworten hat er in ein Kunstwerk umgewidmet – im Grunde eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Wer nicht an Zufall, sondern an das Schicksal glaubt, der kann sich in der Stuttgarter Ausstellung aber auch an die Performancekünstlerin Patrycja German wenden. Bis zum Ende der Schau legt sie den Besuchern vor Ort die Karten, an einem kleinen Tischchen, für 20 Euro. Es mag ja sein, dass sie mit ihren Voraussagen auch mal recht hat – doch wer weiß, ob das nicht reiner Zufall ist.

Die Ausstellung "[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls" ist im Kunstmuseum Stuttgart bis zum 19. Februar 2017 zu sehen.

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