"Stuttgart 21 ist durchgefallen"

Boris Palmer im Gespräch mit André Hatting · 22.07.2011
Nach Ansicht des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer hat das Bauprojekt den Stresstest nicht bestanden. Die Bahn rechne sich die Kosten und die Leistungsfähigkeit von "Stuttgart 21" schön, sagte der Grünen-Politiker - und forderte Nachbesserungen.
André Hatting: Ein entscheidendes Ergebnis der Schlichtung im Herbst war: Wir warten erst mal ab, ob der neue Bahnhof in Stuttgart wirklich mehr kann als der alte. Die Bahn hat dann einen Stresstest durchgeführt, und die Schweizer Firma SMA hat als Schiedsrichterin diese Ergebnisse geprüft. Kommende Woche sollen sie offiziell vorgestellt werden. Schon jetzt ist durchgesickert: Test bestanden. Am Telefon begrüße ich Boris Palmer, der Grünen-Politiker ist Oberbürgermeister von Tübingen, saß mit in den Schlichtungsverhandlungen und von ihm stammt die Idee des Stresstests. Guten Morgen, Herr Palmer!

Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Test bestanden – jetzt kann "Stuttgart 21" ja gebaut werden, oder?

Palmer: Wenn es so wäre, dann gäbe es immer noch das Problem, dass das Geld bei Weitem nicht reicht, aber der Test ist gar nicht bestanden, sondern wenn man die 200 Seiten genau liest, dann steht da drin: "Stuttgart 21 ist durchgefallen".

Hatting: Das müssen Sie jetzt aber genauer erklären.

Palmer: Das kann ich machen. Wir haben in der Schlichtung vereinbart, dass dieser Bahnhof mit 49 Zügen eine gute Betriebsqualität in der Spitzenstunde leisten muss, das ist die Note eins. Herausgekommen ist "wirtschaftlich optimal", das ist die Note zwei, und das bedeutet, dass dieser Bahnhof die Anforderungen, die wir gemeinsam vereinbaren, nicht erfüllt. Er neigt zu Unpünktlichkeit, Verspätungen können nicht aufgefangen werden, und damit ist das Ziel verfehlt. Die Bahn muss nachbessern.

Hatting: Aber Herr Palmer, der Schlichter Heiner Geißler hat gesagt, der neue Bahnhof müsse 30 Prozent leistungsfähiger sein. Das ist doch erfüllt.

Palmer: Das hat er übrigens nicht gesagt, und das ist schon gar nicht erfüllt, denn der bestehende Bahnhof fährt 37 Züge ohne Probleme, und zwar in der Bestnote der Qualität, und der geplante Bahnhof würde bei 49 schon in seinen Grenzbereich kommen. Der bestehende könnte aber mehr als 37, nach meiner Schätzung etwa 45, das heißt, das Gegenteil ist richtig: Der bestehende Bahnhof kann ungefähr so viele Züge abwickeln wie der neue.

Hatting: Jetzt zitiere ich trotzdem noch mal Heiner Geißler, er hat gestern gesagt, dass kein Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Testes bestehe, und er hat auch geraten jetzt, den Gegnern von "Stuttgart 21", an den Verhandlungstisch zurückzukehren und gemeinsam die Ergebnisse zu diskutieren. Also für ihn sieht es so aus, als sei der Stresstest bestanden.

Palmer: Nein, das, was er gesagt hat, das ist richtig, dem stimme ich zu. Man sollte jetzt gemeinsam über dieses Thema öffentlich diskutieren, dabei können wir nur gewinnen. Und der Test ist wissenschaftlich absolut korrekt, insbesondere ist er korrekt bewertet worden von der Firma SMA. Nur der letzte Satz, der stimmt nicht: Der Test ist eben nicht bestanden, sondern das Testat der Schweizer Firma lautet: Ziel verfehlt, setzen, sechs, noch mal machen.

Hatting: Na ja, zumindest Note zwei statt Note eins, sechs ist es nicht.

Palmer: Wenn Sie so wollen, ja, Note zwei statt Note eins, aber wenn ausgemacht ist, bei Note zwei muss man die Klasse wiederholen, dann nützt das nichts, dann ist das Ziel verfehlt.

Hatting: Ich merke schon, wir begeben uns jetzt in die Frage der Interpretationshoheit. Warten wir ab, was am Ende dabei herauskommt. Sie haben auch noch ein anderes Argument angesprochen, das gegen "Stuttgart 21" spricht, und das ist das Argument der Kosten.

Palmer: In der Tat. So, wie die Bahn sich die Leistungsfähigkeit des Bahnhofs schön rechnet, so rechnet sie auch die Kosten schön. Interne Studien der Bahn – die leider nur über die Presse veröffentlicht wurden, von der Bahn bisher nie bekannt gemacht wurden – zeigen, dass die Kosten eine Milliarde, vielleicht auf zwei Milliarden höher liegen als öffentlich bekannt gegeben, und auf die Art und Weise darf man meiner Meinung nach Großprojekte nicht umsetzen.

Hatting: Ein weiteres Argument waren bislang immer auch die Arbeitsplätze: Es sollen 24.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden durch den neuen Bahnhof. Das halten Sie für unrealistisch?

Palmer: Das halte ich für völlig unrealistisch. Eine neuere Studie redet noch von 2500 Arbeitsplätzen. Wie man es dreht und wendet, von diesem Bahnhof hängt jedenfalls das wirtschaftliche Schicksal Baden-Württembergs nicht ab.

Hatting: Sie haben jetzt gesagt, der Stresstest sei nicht bestanden, die Bahn sagt, der Stresstest sei bestanden. Wie soll denn das jetzt weitergehen?

Palmer: Ja, ich finde, die Bahn sollte sich mal öffentlich erklären, ob das eigentlich real ist, was sie sich da ausgedacht hat, denn obwohl sie an den Bedingungen so viele Drehungen vorgenommen hat, kommt am Ende kein gutes, sondern nur ein mittelmäßiges Ergebnis heraus. Sie müssen nämlich wissen, dass bei diesem Test von der Bahn festgelegt wurde, dass 95 Prozent aller ICE pünktlich sind, dass ICE im Durchschnitt fünf Minuten Verspätung haben und dass es niemals so etwas gibt wie Signalstörungen, Weichenstörungen oder liegen gebliebene Züge, und nur unter solchen Bedingungen kommt das mittelmäßige Resultat heraus. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde gerne einen einzigen Tag mal in dieser schönen neuen Bahnwelt unterwegs sein, die für diesen Stresstest erfunden wurde.

Hatting: Wenn Sie sagen, die schöne neue Bahnwelt sei eigens für diesen Stresstest erfunden worden – wäre dann eine Lösung, einen zweiten Stresstest zu machen mit Kriterien, mit denen Sie auch einverstanden wären?

Palmer: Ja, absolut, das war übrigens auch die Lösung, die ausgemacht war: Wir setzen uns zusammen, definieren gemeinsam die Bedingungen, einigen uns über die Kriterien, und dann erst wird gerechnet. Dann ist nämlich auch die Akzeptanz sichergestellt und die befriedende Wirkung.

Die Bahn hat genau diesen Weg verlassen, sie hat versucht, uns übers Ohr zu hauen und war offensichtlich der Hoffnung, dass sie damit in der Öffentlichkeit durchkommen kann: Es reicht, eine Überschrift "Bestanden!" zu produzieren, und dann wird schon jemand weiterlesen. Wir dürfen ihr das nicht durchgehen lassen.

Hatting: Interessanterweise gab es aber von der Firma SMA noch kein Dementi, die hat nicht gesagt, das stimmt nicht, der Test sei nicht bestanden.

Palmer: Die SMA kann auch nicht entscheiden, ob er bestanden ist oder nicht, sie kann nur ein Ergebnis feststellen im Sinne einer Note. Die Note steht, und jetzt müssen wir – der Schlichter, die Öffentlichkeit – die Frage beantworten: Reicht es uns aus, wenn ein Bahnhof für fünf Milliarden Euro gebaut wird und nur ein paar mehr Züge fahren als heute schon und der gerät schon in seinen Grenzbereich, hat nur noch mittelmäßige Pünktlichkeit? Ich meine, das ist kein Zukunftsbahnhof. So war es auch nicht verabredet, so darf man es nicht machen.

Hatting: Die grün-rote Landesregierung plant ja einen Volksentscheid im November. Nun wollte sie am Mittwoch das Quorum dafür senken, sie hat aber die Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag verpasst. Wie jetzt weiter?

Palmer: Jetzt kann der Volksentscheid nur mit dem in der Verfassung festgeschriebenen Quorum durchgeführt werden.

Hatting: Richtig, und das sieht ... Wie hoch rechnen Sie die Chancen aus, dass er dann durchgeführt werden kann? Denn das Quorum ist sehr hoch.

Palmer: Durchgeführt werden kann – das ist nicht die Frage, er kann durchgeführt werden. Ob das notwendige Quorum erreicht wird und damit Verbindlichkeit entsteht, das ist die offene Frage. Ich gebe Ihnen gerne zu: Es ist eher unwahrscheinlich, so viele Menschen an die Wahlurnen zu bringen. Andererseits glaube ich, dass ein Ergebnis, das eine hohe Zustimmung oder eine hohe Ablehnung ausdrückt, die Politik so oder so nicht unbeeindruckt lassen würde.

Hatting: Sagt Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Herr Palmer, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Palmer: Danke Ihnen, schönen Tag!


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