Studie zu "Shooter Bias" - Schützen-Fehlern

Vorurteile bestimmen Verhalten in Gefahrenmomenten

Demonstranten in Chicago halten ein Banner mit Fotos von Schwarzen hoch, auf dem steht "Ermordet durch die Polizei"
Untersuchungen legen nahe, dass der Finger am Abzug nicht nur auf die rationale Analyse der Situation reagiert, sondern auch auf Vorurteile. © dpa / Picture Alliance / Tannen Maury
Von Volkart Wildermuth · 23.06.2016
Vorurteile haben wir alle. Wie gefährlich das im Zusammenhang mit Schusswaffen werden kann, zeigt sich in den USA: Immer wieder sterben dort Unbewaffnete, meist Farbige, durch Polizeikugeln. Inwieweit "Shooter Bias", also Schützen-Fehler, auch hierzulande ein Thema sind, haben Forscher untersucht.
Zitate:
23.November 2014, Cleveland. Anruf bei der Notfallnummer 911:
"Hier ist ein Typ mit ‘ner Pistole. Ist wohl nicht echt, aber er richtet sie auf alle hier. Wahrscheinlich ein Kind."
Die Zentrale informiert einen Streifenwagen:
"Ein schwarzer Mann sitzt auf der Schaukel im Stadtpark und zielt mit seiner Waffe auf Leute."
Die Polizisten sehen eine Person, einen Meter siebzig groß, 90 Kilo schwer.
"Hände hoch!"
Die Person zieht eine Waffe.
Zwei Schüsse
Tamir Rice war 12 Jahre alt, als er starb. In seiner Hand hielt er ein Waffenimitat, dem die vorgeschriebene rote Kappe am Lauf fehlte. Immer wieder sterben in den USA Menschen durch Polizeikugeln und in der überwiegenden Zahl der Fälle haben diese Menschen eine dunkle Hautfarbe. Das legt die Vermutung nahe, dass der Finger am Abzug nicht nur auf die rationale Analyse der Situation reagiert, sondern auch auf Vorurteile.
Darauf deuten auch die Studien zum "Shooter Bias" hin. In den USA wurden Hunderte von Studenten und Dutzende Polizeibeamte in einer Art Videospiel mit bewaffneten und unbewaffneten Personen konfrontiert. Klares Ergebnis: Ist der mögliche Angreifer schwarz, wird schneller reagiert und es werden bei der Beurteilung auch mehr Fehler gemacht. Der Sozialpsychologe Iniobong Essien von der Universität Hamburg hat die Schützen-Fehler-Versuche an die Verhältnisse hierzulande angepasst.
"Wir wissen jetzt von Deutschland, dass in Deutschland ganz andere Gruppen möglicherweise mit Bedrohung assoziieren werden. Zum Beispiel wenn sie daran denken, wie über Muslime hier in den Medien häufig gesprochen wird oder auch über arabische Männer, dann wissen wir, das ganz andere Gruppen möglicherweise relevant sein könnten."
Zusammen mit der Psychologin Marleen Stelter hat er über 160 Versuchspersonen in seinem Labor an der Universität Hamburg Fotos von Personen mit und ohne Waffe gezeigt. Die Aufgabe: möglichst schnell zu reagieren. Bei Gefahr den Knopf für "schießen" zu drücken und bei unbewaffneten Personen den anderen Knopf "nicht schießen".

Hautfarbe hat Einfluss auf Reaktionszeit

Die Hautfarbe der Männer auf den Bildern hatte einen deutlichen Einfluss auf die Reaktionszeit. Hielt ein arabisch oder türkisch aussehender Mann eine Pistole in der Hand, wurde schneller geschossen, als bei einem weißen Bewaffneten. Trug der Dunkelhäutige ein harmloses Handy, brauchten die Versuchspersonen dagegen länger, um per Knopfdruck Entwarnung zu geben. Um die Situation realistischer zu gestalten hat Marleen Stelter in einem zweiten Durchlauf die Pistolen weggelassen.
"Für die Probanden hatte das so einen Spielcharakter, es sah aus wie so ein Computerspiel und zwar wurden die Personen immer in Straßenszenen dargestellt entweder auf der linken oder der rechten Straßenseite und anstatt Schusswaffen hielten die in der Hand ein Messer oder andere Objekte Portemonnaies zum Beispiel."
Auch hier bestimmt das Aussehen der Männer mit, wie schnell die Versuchspersonen auf eine gefährliche Situation reagieren. Der "Shooter Bias" wirkt also auch in Deutschland und zwar unabhängig davon, ob jemand bewusste Vorurteile gegenüber Migranten zeigt. Iniobong Essien:
"Also es hat nichts damit zu tun, ob wir positive oder negative Einstellungen gegenüber bestimmten Gruppen haben, sondern es geht tatsächlich eher um die Frage, wie sehr haben wir die Verknüpfung zum Beispiel zwischen arabisch und bedrohlich gelernt."
Diese Verbindung geht meist nicht auf persönliche Erfahrungen mit aggressiven Migranten zurück. Entscheidend ist eher das gesellschaftliche Klima, welches Bild dieser Gruppen am Stammtisch und in den Medien zum Tragen kommt. Verknüpfungen wie: schwarze Haut gleich gefährlich, werden so in ganz alte Hirnstrukturen eingeschrieben.
"Die Amygdala ist, wenn man so will, unser Emotionscomputer in unserem Gehirn, der vor allen Dingen mit Angst oder Aggression reagiert, und der vor allen Dingen sehr einfache Verschaltungsmuster, sehr einfache Charakteristika einer Situation abspeichert und dann in eine Erwartungshaltung ummünzt."

Wenn Zeit zum Nachdenken fehlt, wird es gefährlich

Martin Korte ist Hirnforscher an der Universität Braunschweig. Die Amygdalas oder Mandelkerne sind für schnelles Handeln zuständig. Details halten nur auf. Die Prozesse laufen völlig automatisch ab, das Bewusstsein kann nicht eingreifen.
"Man sieht auch bei Menschen, die sich für völlig vorurteilsfrei halten, wenn ihnen Menschen mit dunkler Hautfarbe entgegenkommen, springt die Amygdala viel, viel stärker an, als das bei entweder weißen oder asiatisch aussehenden Menschen der Fall wäre. Interessanterweise sogar auch bei dunkelhäutigen Menschen, die befragt wurden. Also man sieht, dass selbst gegenüber der eigenen Bevölkerungsgruppe Vorurteile hier bestehen können."
Und diese Vorurteile bestimmen das Verhalten vor allem dann, wenn keine Zeit zum Nachdenken bleibt und es gefährlich wird. Alltag für Polizisten. Wie deutsche Beamte beim Test auf den Schützen-Fehler abschneiden, wird gerade in Hamburg untersucht. In den USA hat sich gezeigt, dass Polizisten besonders schnell auf eine Pistole in der Hand eines schwarzen Mannes reagieren.
Aber im Unterschied zu anderen Testpersonen, machen sie weniger Fehler. Im Labor schießen sie deutlich seltener auf Unbewaffnete, egal welche Hautfarbe. Vielleicht auch weil in vielen amerikanischen Polizeibezirken inzwischen gezielt trainiert wird, Stereotype bewusst zu kontrollieren. Gerade in unübersichtlichen Situationen auf Streife, so Iniobong Essien, können sie aber dennoch auf das Verhalten durchschlagen.
"Wenn wir tatsächlich unter Stress stehen und schnell reagieren müssen, möglicherweise Angst haben oder übermüdet sind, vielleicht eine lange Schicht gearbeitet haben, dass dann in solchen Situationen wir uns tatsächlich stärker von Stereotypen leiten lassen, also von Bildern, die wir mit bestimmten Gruppen verbinden, und dass die dann stärker unser Verhalten beeinflussen."
Unter Stress gewinnen Vorurteile die Oberhand über das Handeln. Das trifft wahrscheinlich auch auf die Polizisten in Cleveland zu. Aber schon ihre Zentrale hat die Meldung verfälscht weitergegeben, Worte wie "Schwarz" und "Mann" hinzugedichtet. Und das wohl, weil in der amerikanischen Gesellschaft generell junge schwarze Männer mit Gefahr assoziiert werden. Vorurteile stecken in einzelnen Köpfen, aber sie verselbständigen sich in sozialen Prozessen. Die Konsequenz können auch Schüsse sein, wie auf den 12-jährigen Tamir Rice in Cleveland oder jüngst in Deutschland in Luckenwalde.
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