Studie

Wie das Friedenspotenzial in Religionen genutzt werden kann

Von Stefanie Oswalt · 11.05.2016
Wie kann erreicht werden, dass Religionen nicht Konfliktauslöser sind, sondern zum Frieden beitragen? Dazu müssten die friedensorientierten Strömungen innerhalb von Religionen erst einmal wahrgenommen werden, hat der Friedensforscher Markus Weingardt in einer Untersuchung herausgefunden.
Zitat aus Altes Testament Joel, Kapitel 4,9:
"Ruft unter den Völkern aus: 'Rüstet euch zum Kampf! Stellt eure Truppen auf! Lasst alle eure wehrfähigen Männer antreten und marschieren! Schmiedet aus euren Pflugscharen Schwerter, und macht aus euren Winzermessern Speerspitzen! (…)'"
Zitat aus Neues Testament Matthäus, Kapitel 10,34:
"Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert."
Zitat aus Koran, Sure 47,4:
"Wenn ihr auf diejenigen, die ungläubig sind, (im Kampf) trefft, dann schlagt (ihnen auf) die Nacken. Wenn ihr sie schließlich schwer niedergeschlagen habt, dann legt (ihnen) die Fesseln fest an. Danach (lasst sie) als Wohltat frei oder gegen Lösegeld, bis der Krieg seine Lasten ablegt..."
Altes Testament, Neues Testament und Koran. Alle drei Zitate wurden im Laufe der Geschichte immer wieder zur Legitimation von Gewalt und Krieg herangezogen: von den Kreuzzügen über die konfessionellen Kriege des 17. Jahrhunderts, den Weltkriegen bis heute. Kriege, die von den Herrschenden vermeintlich im Namen Gottes geführt wurden, hinter denen oft simple machtpolitische Interessen standen.
Markus Weingardt: "Allerdings muss man nicht so weit zurückgehen bis ins Mittelalter, um festzustellen, dass Interessenkonflikte immer wieder nicht nur in Wertekonflikte sondern auch in religiös aufgeladene Wertekonflikte transformiert werden. Wir haben radikale religiöse Gruppierungen nicht nur im Islam - der IS, die Taliban oder Boko Haram sind natürlich bekannt -, die alle ihre Auseinandersetzungen religiös begründen. Wir haben aber auch die christliche Lord's Resistance Army in Uganda, Hindu-Nationalisten in Indien oder buddhistische Nationalisten in Myanmar, die alle unglaubliche Gewalt verüben oder Pogrome an christlichen oder muslimischen Minderheiten verüben",
sagt der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Markus Weingardt. Er leitet den Bereich "Frieden" der Tübinger Stiftung "Weltethos". Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat er untersucht, wie Religionen und ihre Vertreter in gewaltsamen Konflikten deeskalierend wirken können, wie sie gar Frieden stiften können.
"Es macht einen Unterschied, ob man einen Kampf, einen Interessenkonflikt um Land austrägt, oder ob man einen Wertekonflikt um Heiliges Land austrägt. Also wenn dieses Land - wodurch auch immer - sozusagen religiös aufgeladen zu Heiligem Land erklärt wird, dann hat das natürlich eine ganz andere Qualität; und entsprechend wird auch der Konflikt, die Auseinandersetzung eine ganz andere Qualität haben."

Überhebliches westliches Selbstbild

In seiner Studie fordert Weingardt einen sachlichen und differenzierenden Blick auf Konfliktherde, und er analysiert die Probleme, die der Nutzung von Friedenspotenzialen in Religionen entgegen stehen. So erschienen Religionen oft fälschlich als homogene Gebilde – ihre Vielfalt, Friedensströmungen und Reformbestrebungen würden nicht wahrgenommen. Das gelte besonders für den Islam, beklagt der Islamwissenschaftler Michael Marx. An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften forscht er über die textlichen Grundlagen des Koran.
"Was den Islam der Dschihadisten oder auch vieler Salafisten kennzeichnet, ist ja vielleicht die Vorstellung, dass man wahre Muslime hat und falsche Muslime und dass dann eine Gruppe damit beschäftigt ist, listenartig ganz viele andere Gruppen auszuschließen. Das ist eigentlich etwas, das man traditionell-islamisch - so wie ich das jetzt kenne aus den Texten - nicht tut. Es gehört also zum Klassischen auch dazu, dass man kein Urteil über die anderen spricht, geschweige denn sie tötet."
Besonders im Islam, aber auch in anderen Religionen bestehe die Gefahr, spezifische kulturelle Ausprägungen mit der Religion gleichzusetzen und religiöse Traditionen zu vermischen. Konfliktparteien, aber auch die Medien neigten dazu, kontextlos aus den Heiligen Schriften des Gegners zu zitieren, sagt Friedensforscher Weingardt.
"Wir haben weithin doch, vor allem in den Massenmedien eine verzerrende Berichterstattung, das heißt eine sehr gewaltseitig orientierte Berichterstattung. Das verstärkt natürlich eine negative Dynamik in doppelter Weise. Zum einen werden Negativ-Images von Religion aufgebaut und konstruiert, die in der Wirklichkeit sich so nicht wiederfinden und auf der anderen Seite werden positive Nachrichten verschwiegen."
Diesen Eindruck teilt auch Jörg Lüer. Er leitet das Berliner Büro der deutschen Kommission von Justitia et Pax, einer Einrichtung der deutschen Bischofskonferenz, die sich seit Jahrzehnten um Beilegung gewaltsamer Konflikte durch interreligiösen Dialog bemüht.
"Da drin spiegelt sich zu guten Teilen das westliche säkulare Selbstbild, das hoch projektiv auf die anderen geworfen wird, wo man sagt: Wir aufgeklärt, souverän – würden wir ja nie tun – aber die, finster, religiös – die tun... Das ist hochgradig problematisch."
Justitia et Pax setzt bewusst einen Gegenakzent:
"Religion ist natürlich im Kern erst einmal eine Grundhaltung und aus dieser heraus sind wir friedensstiftend tätig. Die Kirche hat nicht eine Friedenslehre, sondern die Kirche ist ihrem Selbstverständnis nach eine Friedenslehre. Wir wissen natürlich unter den kontingenten Bedingungen von Geschichte, dass sich das nicht immer hundertprozentig verwirklicht, sondern dass die Kirche selber als Teil der historischen Problemstellung sich selber auch immer reformieren muss. Und insofern sie das tut, wird sie selbst Kirche, werden wir selbst Christen und wirken mit an einem größeren, wie wir dann hoffen, himmlischen Frieden."
Frieden, sagt Markus Weingardt von der Stiftung "Weltethos" spiele in allen Religionen eine Rolle, aber:
"In der Tat ist es so, dass die friedensorientierten Überlieferungen, die es in allen religiösen Schriften genauso gibt, dass die nicht gehört oder gesehen werden..."
Zitat:
"Die Diener des Allerbarmers sind diejenigen, die maßvoll auf der Erde umhergehen und die, wenn die Toren sie ansprechen, sagen: 'Frieden!'"
Koran, Sure 25, Vers 63.
Zitat:
"Du sollst nicht töten!"
Altes Testament, Exodus, Kapitel 20, Vers 13.
Zitat:
"Selig die, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes sein."
Neues Testament, Evangelium des Matthäus, Kapitel 5, Vers 9.

Viele Hürden, um Friedenspotenzial nutzen zu können

Doch auch bei den Friedensbotschaften der Heiligen Schriften sei genaues Hinsehen und Kontextualisierung erforderlich, sagt Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Senior Advisor am Berliner Zentrum für Jüdische Studien. Schon die Übersetzungen der alten Texte bieten vielfache Interpretationsmöglichkeiten. So werde "nicht töten" treffender mit "nicht morden" übersetzt und schließe für Anhänger des Judentums Krieg nicht kategorisch aus.
"Darüber gibt es auch im Talmud viele Debatten. Selbstverteidigung ist ausdrücklich zugelassen, wenn nicht gar gefordert. Das ist eben nicht eine bestimmte Spielart des Christentums. Das Judentum steht dazu, dass man um des Selbsterhalts willen auch Gewalt anwenden darf."
Weingardts Studie vermittelt anschaulich, wie viele Hürden überwunden werden müssen, um das Friedenspotenzial von Religionen zu nutzen. Aber sie zeigt auch: Religiöse Bildung immunisiert gegen Gewalt. Doch auch hier warnt Erziehungswissenschaftler Brumlik vor zu viel Naivität:
"Es kann auch Leute geben, die außerordentlich gebildet sind und die Texte rauf und runter kennen und die sich trotzdem einer fundamentalistisch-gewaltsamen Auslegung anschließen. Also es reicht nicht, das auf Dummheit und Unbildung zu reduzieren. Man muss sich klar machen: In den heiligen Texten steckt einfach beides drin."
Islamwissenschaftler Michael Marx beurteilt die Friedenspotenziale der Religionen optimistischer und Friedensforscher Weingardt sieht gar keine Alternative zu ihrer Nutzung:
Marx: "Unter den islamischen Rechtsgelehrten und den christlichen und jüdischen Theologen gibt es ne ganze Menge von ethischen Grundprinzipien, die wahrscheinlich einen sehr, sehr großen Konsens bilden."
Weingardt: "Man muss weder religiös sein, noch muss man Religionen mögen, um deren friedenspolitische Beiträge und Potenziale anzuerkennen. Wenn Religionen aber solche Friedenspotenziale haben, dann muss uns daran gelegen sein, diese auch wirklich im Sinne des Friedens und zum Wohle der Menschen aufzugreifen und einzubinden in die Politik."
Weingardt nennt Beispiele religiöser Friedensvermittlungen im internationalen Kontext – etwa bei der Befriedung von Bürgerkriegsparteien in Afrika und im Kosovo. Er verweist zudem auf die großen sozialen Leistungen, die hierzulande vor allem die Kirchen zum Erhalt des gesellschaftlichen Friedens beitragen. Wie sehr Religionen ihr friedenstiftendes Potenzial künftig auch in den großen globalen Krisen zum Einsatz bringen können, wird allerdings davon abhängen, welche Deutungen die Massen anerkennen – und als wie vertrauenswürdig sich religiöse Vertreter erweisen.

Die Untersuchung "Frieden durch Religion? Das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik", die Markus Weingardt von der Stiftung "Weltethos" im Auftrag der Bertelsmann Stiftung verfasst hat, bildete die Grundlage einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion unter dem Titel "Friede durch Kreuz und Koran? Das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik heute", die Deutschlandradio Kultur am 10. Mai 2016 im Wiener RadioKulturhaus gemeinsam mit dem ORF und der Bertelsmann-Stiftung ausgerichtet hat. Diese Diskussion fand statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Miteinander leben – Perspektiven durch Einwanderung in Deutschland und Österreich".

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