Studentenbewegung

Wohlstandskinder kämpfen für Gleichheit

Langhaarige Jugendliche in den 70er-Jahren
Gegen Krieg, Atomkraft und Nazis - Studenten in den 70er-Jahren © dpa / picture alliance / Koch
Moderation: Klaus Pokatzky · 12.05.2014
Wohngemeinschaft, Friedensdemos und Frauenstammtische – die 70er- und 80er-Jahre haben ein ganz eigenes Milieu hervorgebracht. Der Historiker Sven Reichardt hat eine Kultur- und Sozialgeschichte darüber geschrieben.
Klaus Pokatzky: Bei Nudeltopf oder Reispfanne wurde über den Vietnamkrieg gestritten und die deutsche Nazivergangenheit, später über die Atomkraft und Mittelstreckenraketen. Das alles natürlich in der Wohnküche, der Zentrale der alternativen Wohngemeinschaft. Da wurde abgehangen. Die Wohngemeinschaft mit ihren Geburtsorten Frankfurt und Berlin war die Keimzelle nicht nur für Demonstrationen und Hausbesetzungen, sondern auch für eine eigene alternative Wirtschaftswelt, mit Taxikollektiven und Kneipen, Klamottenläden, Teestuben und Miniverlagen. In 18.000 Projekten der Szene fanden rund 100.000 Menschen Beschäftigung. Über dieses Milieu der 70er- und frühen 80er-Jahre hat Sven Reichardt, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz, ein Buch verfasst, das nun bei Suhrkamp erschienen ist. In Konstanz begrüße ich ihn nun im Studio, guten Tag!
Sven Reichardt: Ich grüße Sie!
Pokatzky: Herr Reichardt, Sie sind 1967 in Bremen geboren. Was war denn Ihre erste Begegnung im kindlichen oder jugendlichen Alter mit dieser alternativen Szene?
Reichardt: Also, ich komme aus bildungsfernen Schichten und in der Familie habe ich gar nichts mit dem Milieu zu tun gehabt, das kam erst im Studium, in dem man mit linken Theorien in Berührung kam und dann Leute kennengelernt hat, die vielleicht so zehn Jahre älter sind und in diesem Milieu großgeworden sind.
Pokatzky: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass dieses Milieu in seiner Blütezeit, gegen Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre, mehrere Millionen politisch links stehende Jugendliche zählte, also auch so einen wie Sie. Wo sind die denn geblieben, wenn sie nicht Professoren an deutschen Universitäten geworden sind? Was machen die heute?
Reichardt: Ja, es gibt eine Geschichte über die alternative Ökonomie, die sagt, dass also diese alternative Ökonomie so etwas wäre wie die Übung für die New Economy und für die Manager der 90er-Jahre.
Die meisten Alternativbetriebe sind gescheitert
Pokatzky: Warum? Welche Fertigkeiten, welche Fähigkeiten haben die da möglicherweise in diesen alternativen Betrieben gelernt?
Reichardt: Die kollektive Selbstorganisation, das autonome Selbstmanagement, die fluktuierenden Hierarchien, damit musste man erst mal klarkommen. Man musste sich auch selbst anreizen, also intrinsisch motivieren, um sozusagen zum Erfolg zu kommen mit diesen Alternativbetrieben. Das ist etwas, was in den 90er-Jahren dann besonders wichtig geworden ist. Allerdings ...
Pokatzky: Was heißt intrinsisch motivieren?
Reichardt: Intrinsisch motivieren heißt, Sie müssen sich selbst motivieren. Also, Sie werden nicht von außen durch Anreize mit Lohn, weil es eben einen Einheitslohn gibt, zur Arbeit angetrieben, sondern Sie müssen sozusagen sich mit der Sache selbst und nicht durch das Prestige oder Befehlsgewalt zur Arbeit anreizen lassen.
Pokatzky: Das heißt, der Kapitalismus letztendlich, wenn er dann da ganz besonders klugen, selbstständigen, sich selbst motivierenden Managernachwuchs bekommen hat, die kapitalistischen Unternehmen haben dann von dieser Alternativszene also profitiert?
Reichardt: Das ist eine eine Erzählung über die alternative Ökonomie, ich wäre allerdings skeptisch. Weil ich erstens glaube, dass die meisten Alternativbetriebe gescheitert sind - also, nicht nur glaube, sondern auch nachweisen konnte -, und es viele Dinge in dieser Alternativökonomie gegeben hat, die nicht zu den 90er-Jahren und nicht zum Selbstmanagement passten. Also konsensorientierte Entscheidungsverfahren, eine einheitliche Entlohnung, Kollektiveigentum, Basisdemokratie, all das fand dann in den 90er-Jahren nicht mehr statt.
Umwelt- und Energiepolitik hat sich stark gewandelt
Pokatzky: Wenn wir jetzt mal von dem wirtschaftlichen Aspekt weggehen, das ist ja auch nur ein Teilbereich in Ihrem 1000-Seiten-Buch, sondern uns wirklich mal jetzt fragen, was haben wir diesem Milieu gesellschaftlich zu verdanken: Wie sehr unser Land heute ohne diese damalige alternative Szene aus?
Reichardt: Na ja, also, wenn man die drei Bereiche der Gesellschaft aufknüpft, über Ökonomie haben wir schon gesprochen: Natürlich ist vieles gerade im Bereich der Ökologie auch in unsere Zeit hinübergerettet, von der Biolandwirtschaft in den Ökoläden, neben basisdemokratischen Politik- und Verkehrsformen hat sich auch da einiges erhalten. In der Kultur ist wahrscheinlich die stärkste Wirkung die Zurückdrängung traditioneller Autoritäten, also die Informalisierung des alltäglichen Umgangs, auch pluralere Lebensstile, die Veränderung des Geschlechterverhältnisses. Und in der Politik: Umwelt- und Energiepolitik hat sich stark gewandelt, das Parteiensystem ist um eine Partei erweitert worden, die Stadtteil- und Wohnpolitik, auch das Bildungssystem sind offener geworden.
Pokatzky: Haben sie die Parteienlandschaft nur dadurch verändert, dass sie an der Wiege der Grünen gestanden haben, oder haben sie auch die anderen Parteien verändert?
Reichardt: Es sind viele auch zur SPD gegangen, wenn man sich anschaut, wie viel neue Mitglieder die SPD in den 70er-Jahren verzeichnen konnte, dann waren das 700.000 Neumitglieder. Und einige davon stammten noch aus der Studentenbewegung. Aber das Wichtigste und die größte Zahl an Alternativen, die ging tatsächlich zu den Grünen. Man hat dann schon Anfang der 70er-Jahre zeigen können, dass 40 Prozent der Alternativen Grün gewählt hätten, wenn es denn schon die Partei gegeben hätte. Also, es gab ja alternative Listen und Ähnliches.
Pokatzky: Sie schreiben, die grundlegende Infragestellung und Delegitimierung des Kanons bürgerlicher Werte wie Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam oder Vaterlandsliebe wurde in die soziokulturellen Tugenden der Gleichheit, Kreativität, Spontaneität, Kollektivität, Mitbestimmung, sozialen Gerechtigkeit und Authentizität umgemünzt. Ist das heute nicht allgemein gesellschaftlicher Konsens bis in die Union hinein?
Reichardt: Das meinte ich mit Informalisierung des alltäglichen Umgangs, dass diese Selbstverantwortung und Autonomie, die herkömmlichen Rollenbilder abgeschliffen worden sind. Das bezeichnet man als Wertewandel. Allerdings hat dieser Wertewandel auch jenseits der 68er und jenseits des alternativen Milieus stattgefunden. Was dort passiert ist, ist, dass diese Entwicklung radikalisiert, politisiert und dramatisiert worden ist, sie ist dort nicht erfunden worden.
Von der CSU bis zu den K-Gruppen
Pokatzky: Aber zum Beispiel starken Rückhalt in den Kirchen, wenn ich so an die evangelischen Kirchentage und die Katholikentage der 80er-Jahre denke, da hat dieses Milieu sich ja gerade bei den evangelischen Kirchentagen ja unglaublich austoben können, also da auch in bestimmte gesellschaftliche Bereiche ganz schnell hineingewirkt.
Reichardt: So ist es. Das kann man auch bei der Wohngemeinschaft, die Sie ja in der Anmoderation erwähnt haben, zeigen, dass die evangelischen und katholischen Studentengemeinden eine große Bedeutung für das Wohngemeinschaftswesen hatten, und in der Friedensbewegung das Spektrum wohl am staunenswert breitesten, was die Politik an geht. Das geht ja von der CSU bis zu den K-Gruppen.
Pokatzky: In Deutschlandradio Kultur der Konstanzer Historiker Sven Reichardt, Kultur- und Sozialgeschichte des Lebensgefühls der 70er- und 80er-Jahre ist unser Thema. haben denn diese alten Alternativen, die inzwischen ja auch schon ins Rentenalter gekommen sind, haben die so ein bisschen auch die heimliche Macht im Lande übernommen, wenn ich an Medien, Universitäten, Schulen denke, haben sie eine Dominanz oder sind zumindest stilprägend bei Wertedebatten? Egal, ob ich jetzt an die Schwulenehe denke oder an Auslandseinsätze der Bundeswehr!
Reichardt: Ja, was die Werte angeht, darüber haben wir ja vorhin schon gesprochen, da denke ich schon, dass der Einfluss der Studentenbewegung und des nachfolgenden linksalternativen Milieus sehr stark gewesen ist. Es gibt keine vernünftigen prosopografischen Untersuchungen, das heißt, Untersuchungen kollektiv-biografischer Art, was aus den Leuten geworden ist, also wie viel Prozent in die Medien gingen, und wie viel in die Bildungsinstitutionen. Vermutlich viele!
Pokatzky: Wo kamen die denn überhaupt her? Also, Sie schreiben ja, dass das vor allem Wohlstandskinder sind, Mittelschichtskinder. Waren das also lauter Zahnarztsöhne aus Wuppertal und Oberstudienratstöchter aus Sindelfingen, die dann erst Frankfurt und Berlin und dann auch die anderen Metropolen subkulturell in die Hand genommen haben?
Reichardt: So klischeeartig das klingt, es ist nicht ganz falsch. Es sind vor allen Dingen Kinder aus den Mittelschichten, von Beamten und Angestellten, die sehr gut ausgebildet sind, über 30 Prozent. Das ist für diese Zeit, Anfang der 70er-Jahre, viel. Über 30 Prozent der Linksalternativen haben Abitur, die meisten unter 30 Jahre, und bezeichnen sich eben als extrem links oder als gemäßigte Linke.
"Die befreite Sexualität gehörte zum Programm der Revolution dazu"
Pokatzky: Was haben die denn selber nun überhaupt beigetragen zur Liberalisierung unserer Gesellschaft?
Reichardt: Also, das eine, was die Kultur angeht, über die Informalisierung des Umgangs, Selbstverantwortung, haben ich schon gesprochen. Ich würde in der Ökonomie sagen, dass sie diese Dienstleistungsorientierung der Gesellschaft, die Gesellschaft der Bundesrepublik schichtet sich in den 60er- bis 80er-Jahren von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft um, und in diesen neuen, flexibilisierten Arbeitsanforderungen ist das linksalternative Milieu führend. Fast alle der Betriebe ... Nicht fast alle, 60 Prozent der Betriebe sind im Dienstleistungssektor angesiedelt. Da wird also etwas vorweggenommen, was in der Gesellschaft sich durchsetzt. Ebenso wegen des hohen Bildungsniveaus und des hohen Bildungsgrades wird die Wissensgesellschaft hier vorweggenommen.
Pokatzky: Aber die von Ihnen angesprochene Selbstverantwortung hatte ja auch ihre Schattenseiten. Sie schreiben in Ihrem Buch: Man hatte im linksalternativen Milieu nicht nur das Recht, selbstverwirklicht zu leben, sondern die Pflicht, über sich Rechenschaft abzulegen und diese Selbsterkenntnisse anderen mitzuteilen. An die Stelle des Fremdzwangs trat ein Selbstzwang, der sich als Freiheit ausgab. Anders gefragt: Wie spießig war das Milieu?
Reichardt: Also, zunächst einmal will ich die beiden großen Erzählungen über 68, die es gibt, nämlich die eine, eine Heldengeschichte der Liberalisierung der Bundesrepublik durch 10.000 demonstrierende Studenten 1968, und die andere ist das Verdammen der 68er, die den Wertezerfall herbeigeführt haben. Diese beiden Interpretationen scheinen mit nicht ganz richtig zu sein. Die reine Liberalisierungsgeschichte ist es aber auch nicht, weil ich glaube, dass beide Dinge aufeinander verweisen. Spießig würde ich das nicht nennen, sondern es zeigt sozusagen, dass Freiheit und Zwang miteinander verkoppelt sind und dass ein kollektives Veränderungsprojekt auch eine bestimmte Subjektkultur und Anforderungen an diese Subjekte formuliert, und nicht jeder ist in der Lage, diese Anforderungen zu erfüllen. Und dann wird es eben auch mal zum Zwang.
Pokatzky: Sie zitieren den altkommunalen Dieter Kunzelmann: Was geht mich denn Vietnam an, ich habe Orgasmusschwierigkeiten! Wie wichtig war die sexuelle Befreiung, waren Ausschweifung, Selbstfindung?
Reichardt: Also, die befreite Sexualität gehörte zum Programm der Revolution dazu. Je freier und ungebundener die Sexualität ist, je weniger wir uns an herkömmlichen bürgerlichen Rollenbildern orientieren, umso eher wird die Gesellschaft befreit werden. Das war sicher eine Überschätzung der Sexualität bei den 68ern.
Gegen Traditionen und Hierarchien
Pokatzky: Aber dafür haben wir die Schwulenehe!
Reichardt: Dafür haben wir die Schwulenehe und es gibt eine ganze Reihe von Pluralisierungen, die durch diese Selbstthematisierung des Geschlechterverhältnisses vorangekommen sind, auch die Enthierarchisierung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen, die Enttraditionalisierung, die Offenheit in den Beziehungen ist sicher ein positives Ergebnis. Auf der anderen Seite sind aber auch viele bei dieser Selbstthematisierungskultur gescheitert und es gab neue Spannungen, neuen Geschlechterkampf, auch im linksalternativen Milieu.
Pokatzky: Danke, Sven Reichardt! Das Buch "Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren" ist bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen mit 1018 Seiten zum Preis von 29 Euro. Und übermorgen, am Mittwoch, ist in Berlin Sven Reichardt zu hören, ab 20:00 Uhr im Literaturforum im Brecht-Haus in der Chausseestraße 125.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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