Strukturen oder Personen

Wer macht Geschichte?

Von Thomas Brechenmacher · 21.02.2017
Sind gesellschaftliche Strukturen entscheidend für den Gang der Geschichte? Oder schreiben doch die "großen Männer" Geschichte, wie Napoleon und jetzt Trump mit seinen vielen Dekreten? In einer Persönlichkeit verdichten sich Tendenzen einer Zeit, meint der Historiker Thomas Brechenmacher.
"Am Anfang war Napoleon." Mit diesem mittlerweile berühmten Satz begann Thomas Nipperdey 1983 seine großangelegte "Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts". Die welthistorische Persönlichkeit Napoleon Bonaparte, so schien es angesichts dieses Einstiegs, habe das 19. Jahrhundert "geschaffen".
So einfach war es freilich nicht. Nipperdeys Trick bestand gerade darin, seinen Pauken-und-Trompeten-Satz anschließend über Hunderte von Seiten hinweg zu kommentieren, ja zu demontieren.
Machen "große Männer" (gar nicht so selten auch Frauen) Geschichte? Oder sind es doch eher Strukturen, soziale Verhältnisse, abstrakte Kräftekonstellationen, möglicherweise naturanaloge Gesetzlichkeiten, aus denen die Geschichte sich macht?

Uralte, ungelöste Frage

Diese Frage ist so alt wie das Nachdenken über Geschichte selbst. Die idealistischen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts, allen voran Hegel, gingen von einem "Sinn", einer der Geschichte innewohnenden Fortschrittsbewegung aus: der "Weltgeist" (also: die Vernunft) gelange im Laufe der Geschichte zu einem Bewusstsein seiner selbst. Die welthistorischen Akteure waren, so gesehen, nichts anderes als Agenten des Weltgeistes.
Der Marxismus stellte Hegel "vom Kopf auf die Füße" und sah in der Geschichte die Produktionsverhältnisse wirken, deren immanente Widersprüche zu immer neuen revolutionären Eruptionen führen musste, bis am Ende das Ziel, die utopische Gesellschaft des Kommunismus, nahe sei.
Leopold von Ranke erkannte in der Geschichte Systemkonfigurationen "großer Mächte"; Jacob Burckhardt drei wirkmächtige "Potenzen": Staat, Religion, Kultur.
Ob Weltgeist, Klassenkampf, große Mächte oder Potenzen: Von Entwicklungsgesetzmäßigkeiten, vom Sinn der Geschichte ist schon länger nicht mehr die Rede, von "Fortschritt" schon zweimal nicht.
Auch die Idee der pluralistischen parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts, von weitsichtigen Akteuren als politische Standardwährung des neuen Europa etabliert, scheint zu verblassen. Die Erfahrungen des Totalitarismus und seiner Menschheitsverbrechen, begangen von sich als "groß" empfindenden Herrschern, verlieren dramatisch an moralischer Bindungskraft.

Droht ein dunkles Zeitalter mit Schurkenakteuren?

Stehen wir heute am Beginn eines neuen "dunklen Zeitalters" im Zeichen von Schurkenakteuren, deren Taten die Welt in den Abgrund führt? Machen doch "große Persönlichkeiten" Geschichte, manchmal gute, sehr oft böse Gestalten, viele dabei von ihren Parteigängern als Heilsbringer gefeiert?
Ja, Menschen machen Geschichte, aber Vorsicht: Naiv wäre, zu glauben, sie fielen vom Himmel und handelten auf beliebige Weise. Sie handeln aber gerade nicht im luftleeren Raum, sondern im Rahmen bestimmter, ihrerseits wieder durch menschliches Handeln entstandener Kontexte. In der historischen Größe – eine durchaus ambivalente Kategorie – verdichten sich die Tendenzen einer Zeit.
Auch Napoleon war das Verdichtungsprodukt einer langen Vorgeschichte. Es gibt Gründe für Bonaparte, ebenso wie es Gründe gibt für Hitler, Stalin oder Mao Tse Tung. Um zu Thomas Nipperdey zurückzukehren, der seinen Napoleon-Satz Jahre später mit dem Namen "Bismarck" wiederholte:
"Es gibt Zeiten, in denen Personen, wie immer sie wiederum Produkte ihrer Zeit sind, den Lauf der Dinge prägen, ja in denen eine Person diesen Lauf der Dinge prägt, an die Spitze der Zeittendenzen und -prozesse tritt, so dass es ganz unmöglich ist, sie wegzudenken oder für auswechselbar zu halten."
Sollten wir wirklich den Beginn eines neuen dunklen Zeitalters erleben, dessen Tendenzen sich gerade in unauswechselbaren Unglücksgestalten verdichten, dürfen wir nicht klagen, sondern müssen dafür die Gründe in den Entwicklungen unserer jüngsten Vergangenheit ausfindig machen.
Strukturen und Personen sind auf komplizierte Weise verschränkt, und nur, wer das "Warum" versteht, wird vielleicht einen Schlüssel in die Hand bekommen, unheilvollen personalen Verdichtungen entgegenzuwirken.

Thomas Brechenmacher (geb. 1964), studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in München. Der Promotion und Habilitation folgte ein längerer Studienaufenthalt in Rom. Seit 2007 lehrt er als Professor Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben der deutsch-jüdischen Geschichte die kirchliche Zeitgeschichte, hier besonders das Verhältnis der Kirche zu den totalitären Ideologien und ihren Systemen im 20. Jahrhundert.

Thomas Brechenmacher
© Thomas Brechenmacher/privat
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